Gefühl der inneren Zerreißprobe: Stehe ich morgens mit dem Gefühl auf, einen neuen Tag gewinnen zu können oder schleppe ich mich mühsam gegen alle inneren Widerstände zuerst ins Bad und anschließend in den Tag hinein? Gönne ich mir im Tagesgeschehen Auszeiten, um einen Teil meiner Seele - wenn auch nur für kurze Zeit - baumeln zu lassen oder spule ich eisern und von abendlichen Erschöpfungszuständen begleitet, mein Tagespensum ab? Immer wieder scheinen wir die Erfahrung zu machen, dass zwei gänzlich verschiedene und gegensätzliche Seelenkräfte in uns wirken. Goethes Faust spricht von den „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ und meint damit den Spagat zwischen der Hinwendung zu irdischen Genüssen und dem gleichzeitigen Streben nach dem Überirdischen, sprich Geistigen. Man muss an dieser Stelle gar nicht an göttlich-spirituelles Streben denken, um zu verstehen, dass wir ein Wesen sind, das aus verschiedenen Komponenten, sprich Körper, Geist und Seele, besteht. Nicht immer gelingt das Zusammenspiel zufrieden stellend. Der Geist sei willig, aber das Fleisch sei schwach, heißt es dazu an anderer Stelle. Im seelischen Zusammenhang gesprochen, würde dies bedeuten, unsere Körperseele ist willig bis zu gewissen Grenzen, aber ein anderer Teil unserer Seele sehnt sich vielleicht gerade nach Überwindung dieser als einengend empfundenen Grenzen. Mitunter ist dieser höhere Teil unserer Seele sogar recht kreativ bei der Grenzüberschreitung. Man denke in diesem Zusammenhang nur an den Rausch der Befriedigung, der sich einstellen kann, wenn man sich entweder auf der körperlichen Ebene - etwa beim Sport - oder aber der geistigen Ebene - wie bei der Erschaffung eines Kunstwerkes - verausgabt hat. C.G Jung beschreibt diese scheinbar im Menschen eingebaute Leidensbereitschaft, wenn es um einen höheren Sinn und Zweck geht, mit dem Satz: „Aus dem Leiden der Seele entspringt jegliches schöpferische Handeln des Menschen.“
Offensichtlich gibt es also noch eine andere seelische Triebkraft im Menschen, die ihn dazu befähigt, über seine gewohnten und bekannten Fähigkeiten hinauszuwachsen, ja, ihn sogar dazu veranlasst, diese Grenzüberschreitung als selbst gewähltes und erklärtes Ziel verfolgen zu wollen.
Seelische Erfüllung
Unsere Seele verhält sich normalerweise auch dann noch loyal, wenn wir bei der Verwirklichung einer Aufgabe oder einer Unternehmung körperliche, emotionale oder mentale Strapazen erleiden. Die Wichtigkeit, die wir einer Aufgabe beimessen und die Entschlossenheit, mit der wir an ihre Umsetzung herangehen, sind die ausschlaggebenden Faktoren, wenn es darum geht, ob wir von unserer Seele genügend Energie zur Verfügung gestellt bekommen. Extrembergsteiger sind immer wieder bereit, sich in Todesgefahr zu begeben, um das rauschhafte Gefühl zu erleben, dass sich bei der Eroberung eines Berges scheinbar einstellt. Manche Künstler arbeiten wie besessen an ihren Kunstwerken, manchmal tage- und nächtelang ohne nennenswerte Pausen oder Nahrungsaufnahme. Wenn das Ziel klar genug von uns formuliert ist, scheint sich unsere Seele entsprechend zu verhalten und unterstützt uns in dem, was wir verwirklichen wollen. Natürlich gibt es auch hier Grenzen der Belastbarkeit: Selbst der leidenschaftlichste Künstler oder Sportler wird irgendwann eindeutige Warnsignale von seiner Körperseele erhalten. Ob er der Aufforderung, innezuhalten und abzuwägen, Folge leistet, liegt in seinem Ermessen. Überschreitet er die Grenze zu oft und zu nachhaltig, kann auch die loyalste Körperseele den Untergang nicht verhindern.
Man muss jedoch als Normalsterblicher nicht notwendigerweise in diese Grenzbereiche (un)menschlicher Anstrengung eindringen, um in den Genuss der höheren Seelenfunktionen zu gelangen. Auch die Umsetzung recht bodenständiger Ideen und Vorstellungen erfordert immer wieder ein gewisses Maß an Leidensfähigkeit und Durchhaltewillen: Wer schon einmal ein für ihn selbst wichtiges Ziel verfolgt hat - sei es im Beruflichen oder im Privaten -, weiß um die Kraft und Energie, die ein entschlossener Wille freisetzen kann. Die Kräfte, die beispielsweise im Zustand der Verliebtheit freigesetzt werden, reichen meist aus, um Bäume auszureißen, wenn nicht gar die ganze Welt aus den Angeln zu heben. Und welche Qualen wurden für dieses hohe Gut der Liebe nicht schon ausgestanden. Die schönsten Gedichte und Lieder wurden just aus diesem Leiden heraus geschaffen. Und unsere Seele vermag mit ihrer höheren Funktion uns und unseren Gedanken und Gefühlen die dazu nötigen Flügel zu verleihen. Dieser Teil der Seele vermag uns also in einen Zustand zu versetzen, der uns scheinbar über uns selbst erhöht und gleichzeitig doch auf unser ganz persönliches und individuelles Glück und Wohlbefinden ausgerichtet ist. Die höheren Funktionen der Seele führen uns somit heraus aus den ‘Niederungen‘ unserer gewöhnlichen Erfahrungen und ermöglichen uns, über den eigenen Horizont hinauszusehen. Sie lassen uns erahnen, was es heißen könnte, ein erfülltes Leben zu führen.
Seele und Geist
Wenn man nun von ‚höheren Funktionen‘ des Seelenlebens spricht, empfiehlt es sich an dieser Stelle, eine begriffliche Unterscheidung zu machen. In all den überlieferten Mythen und Darstellungen kann es nämlich immer wieder passieren, dass es zu einer gewissen Begriffsverwirrung kommt: Um die nicht greifbaren und ungesehenen Einflüsse im und auf den Menschen zu bezeichnen, wurden im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder verschiedene Begrifflichkeiten verwendet. So wird vor allen Dingen in vielen religiösen Zusammenhängen die Unterscheidung gemacht zwischen ‚Geist‘ und ‚Seele‘, wobei der Geist (im Englischen spirit) eigentlich immer den unpersönlichen, übergeordneten göttlichen Aspekt meint und die Seele als die Instanz angesehen wird, die den individuellen und persönlichen Anteil des Menschen an der Göttlichkeit bezeichnet. Diese Art Geist gilt es zudem zu unterscheiden von dem persönlichen, zum Denken befähigenden Etwas, mit dem jeder Mensch grundsätzlich ausgestattet ist, im Englischen mit ‚mind‘ bezeichnet. Damit hat man darüber hinaus zu den verschiedenen Facetten und Ebenen der Seele selbst noch einen zusätzlichen Begriff, der im wahrsten Sinne des Wortes durch die Geschichte der Menschheit ‚geistert‘. Manche Philosophen wie Platon sprechen von einer überirdischen, unpersönlichen ‚Weltseele‘, in die der Mensch von Zeit zu Zeit eintauchen kann. Andere Religionen wie der Katholizismus sehen im ‚Heiligen Geist‘ eine überirdische und außerhalb des menschlichen Einflussbereichs liegende göttliche Kraft, die das individuelle Seelenleben zwar beeinflussen kann, aber auch unabhängig von ihm existiert. Manchmal kann man es auch spüren, wie man von etwas so inspiriert wird, das die Trennung zwischen dem eigenen Ich und etwas Übergeordnetem, größerem Ganzen wie aufgehoben zu sein scheint. Meist währen diese Momente nicht allzu lange. Manchmal findet man sie in der Natur, manchmal in einem sehr bewegenden Musikstück, manchmal tauchen sie in einer intensiven zwischenmenschlichen Begegnung auf. Der Unterschied zum rein seelischen Wohlbefinden, dem Zustand, in dem man sich mit sich selbst und seiner irdischen Umgebung im Einklang fühlt, ist wahrnehmbar, aber nicht wirklich erklärbar. Über die Jahrhunderte hinweg haben die Mystiker der verschiedenen Kulturen und Religionen versucht, das Gefühl der Verbindung des eigenen seelischen Erlebens mit einer göttlichen Präsenz zu beschreiben. Dieses Gefühl jedoch in Worte zu fassen, fiel ihnen vermutlich ähnlich schwer, wie wenn ich Sie dazu auffordern würde, das Gefühl zu beschreiben, wenn Sie sich selbst in einem solchen Zustand der ‚Entrückung‘ befinden.
Der entscheidende Punkt bei all diesen Betrachtungen: Der Mensch ist ein sehr vielschichtiges Wesen, das durch die Benennung und Offenlegung dieser Schichten einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Entfaltung der ihm innewohnenden Möglichkeiten tun kann. Der Weg zur Heilung und Ganzwerdung kann nach meiner Auffassung nur über die Vertiefung, Anwendung und Umsetzung all dieser Bewusstheit erfolgen. Das Kenntlichmachen der verschiedenen Instanzen und Funktionen im Menschen kann dabei als Formsache, als Zwischenschritt verstanden werden. Am Ende ist es vielleicht sogar unbedeutend, wie ich die verschiedenen Instanzen benenne und wie fein zwischen den verschiedenen Seelen- und Geistanteilen unterschieden wird. Das Bewusstsein darüber, dass ich als Mensch mit irdischen Kräften ebenso ausgestattet bin wie mit überirdisch-kosmischen Verbindungsmöglichkeiten, das ist letzten Endes der Casus knaxus, die wesentliche Erkenntnis, die man daraus ziehen kann. Ob es die Seele ist, die uns persönlich und individuell dazu befähigt, uns der großen kosmisch-geistigen Welt näher zu bringen, oder ob es unser persönlicher Geist ist, der den Weg dahin frei macht, ist im Endresultat vielleicht nicht von entscheidender Bedeutung. Aber um den Weg selbst überhaupt erkennen zu können und die ersten Schritte auf ihm zu unternehmen, bedarf es eines wahrnehmbaren Signals vom planetarischen Teil des Menschen hin zu den überirdischen Welten.
Aus der Physik weiß man, dass der Blitz nicht wahl- und ziellos einschlägt, sondern dort, wo er zuvor ein Signal von diesem