Horst Bosetzky

Der Teufel von Köpenick


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eigenen Hause sein durften. Und so klein war ihr Betrieb nun auch wieder nicht. Die große Halle war streng in zwei Abteilungen gegliedert: Eine war die »unreine Seite«, die andere die »reine Seite«. Auf der Seite mit der schmutzigen Wäsche, wo es an den Bottichen und Trommeln giftig dampfte und wallte, waren vorwiegend Männer am Werke, auf der anderen, wo die Bett- und Tischwäsche durch die Mangel gedreht und geplättet wurde, beherrschten Frauen das Bild. Zusätzlich gab es die Halle, in der die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wurde, und die große Wiese, auf der im Sommer die Stücke zum Bleichen ausgelegt wurden. Hinzu kamen der Fuhrbetrieb und das Büro, denn alle Geschäftsvorgänge mussten registriert sowie Einnahmen und Ausgaben penibel festgehalten werden. Dies war das Reich von Emma Lüdke, während sich ihr Mann vornehmlich um den Betrieb und die An- und Auslieferung der Wäsche zu kümmern hatte. Ihre wichtigsten Kunden waren Gaststätten, kleine Hotels und Pensionen, Belegkrankenhäuser, Arztpraxen, das eine oder andere Altersheim sowie mittlere Industrie- und Handwerksbetriebe, in denen das Tragen von Kitteln zur Pflicht gehörte. Der gewöhnliche Bürger hatte es in der Regel nicht so dicke, dass er seine Wäsche hätte weggeben können, und die Hausfrau zog einmal im Monat zur großen Wäsche nach oben in die Waschküche oder nach unten in den Keller, um mit Hilfe naher Verwandter für saubere Bettlaken, Tisch- und Taschentücher, Unterhosen und Unterhemden sowie Strümpfe und Socken zu sorgen. Höchstens Riesenteile wie Gardinen und Stores wurden in die Wäscherei gebracht.

      »Hat einer Bruno gesehen?«, fragte Emma Lüdke, nachdem eine Dreiviertelstunde vergangen war. Niemand hatte ihn gesehen, also gab sie Weisung, dass alle, die nicht unbedingt im Betrieb verbleiben mussten, ausschwärmen sollten, um ihn zu suchen, wobei die Planquadrate vorab festgelegt wurden.

      Otto Lüdke war der Bereich um den Kuhgraben und die Neuen Wiesen bis hin zum Müggelsee zugefallen, und er schwang sich aufs Fahrrad, um alles abzuklappern. Ob nun Instinkt oder Zufall, meistens war er es, der Bruno fand.

      Auch heute befürchtete er, dass sein Sohn wieder etwas anstellen würde. Alles harmlose Sachen, aber die Berliner regten sich gern darüber auf. Dabei war es doch eher so, dass die Leute Bruno gefährdeten und nicht Bruno die Leute. Ein Rentner hinten an der Nachtheide hatte schon gedroht, Bruno in Notwehr zu erschießen, wenn der es wagen sollte, sein Grundstück zu betreten.

      Bruno Lüdke liebte alle Tiere. Nicht die in den Ställen und Käfigen, sondern die im Wald und die auf den Feldern und Wiesen. Die brauchten nicht zur Schule zu gehen und mussten nicht jeden Tag dieselbe Arbeit machen. Die waren frei und konnten fliegen und laufen, wohin sie wollten. Sie durften alles, was ihnen in den Sinn kam, ohne dass jemand gemeckert hätte. Sie mussten nur aufpassen, dass sie nicht gefressen wurden. Deshalb wäre er auch gern ein Adler, ein Löwe, ein Elefant, ein Wolf oder ein Bär gewesen. An die wagte sich niemand heran. Auch an ihn, Bruno, wagte sich niemand heran. Weil er der Stärkste war.

      Heute war er aber kein Tier, heute war er ein Neandertaler. Das hatte ihm am Müggelsee ein Radfahrer hinterhergerufen, als der beim Ausweichen fast gestürzt wäre. »Ab in den Wald, du Neandertaler!«

      Pennigstorff hatte ihm erklärt, was ein Neandertaler war: einer unserer Vorfahren, der, mit Fellen bekleidet, in einer Felshöhle lebte und mit einer Keule durch die Wälder zog.

      Ein Fell hatte Bruno schnell gefunden – die alte Fuchsstola seiner Mutter. Als Keule diente ihm der abgebrochene Stiel einer Grabgabel. Felsen gab es am Kuhgraben nicht, so musste er sich seine Höhle aus Zweigen und Blättern bauen. Aber da drinnen zu hocken war langweilig, also zog er lieber los, um etwas zu erleben.

      Erst ging er durch die Straßen. Deren Namen wusste er nicht, da er die Straßenschilder nicht lesen konnte, von der Grünen Trift einmal abgesehen. Dennoch konnte er sie auseinanderhalten, denn die Bäume, Zäune, Straßenbeläge und Häuser waren immer ganz unterschiedlich. Noch nie hatte er sich verlaufen. Manchmal schnitzte er sich als Markierung in die Baumrinden ein Kreuz, ein Herz oder ein L.

      L. wie Lüdke, das hatte er sich eingeprägt. Auf diese Idee war er gekommen, als er seinen Vater einmal gefragt hatte, warum denn Wotan, ihr Schäferhund, gegen alle Bäume und Laternenpfähle pinkeln würde.

      »Der hinterlässt da seine Duftmarken, damit er wieder nach Hause findet.«

      Das hatte Bruno anfangs auch getan, doch spätestens nach einer Stunde war von seinem Urin nichts mehr zu sehen gewesen. Während der Suche nach seinen Spuren hatte er beobachtet, dass jemand ein Herz und ein paar Buchstaben in den Stamm geschnitzt hatte. Gar nicht so dumm, dachte er, das konnte er auch. Überhaupt, sein Taschenmesser war sein ganzer Stolz. Das hatte nicht nur zwei Klingen, eine kleine und eine große, sondern auch noch eine Nagelfeile und einen Schraubenzieher. Der ließ sich vielfach einsetzen.

      »Hörst du Idiot wohl auf damit, unser Namensschild abzuschrauben!« Ein Mann kam aus seinem Haus gestürzt und hetzte zum Zaun, um Bruno Lüdke zu vertreiben.

      Der sammelte in letzter Zeit Schilder jeglicher Art, und dieses Namensschild hier war besonders schön, oval und sicherlich aus Gold, so sehr glänzte es. Der Name war schön lang und hatte Buchstaben, die nach oben und unten weggingen.

      Herr Gollenberg riss den Gartenschlauch vom Boden, drehte den Hahn auf und richtete den Strahl auf Bruno Lüdke.

      Der freute sich anfangs über die Erfrischung, aber dann tat es in den Augen weh, und er machte, dass er weiterkam.

      Bruno Lüdke liebte kleine Kinder, und er spielte gern mit ihnen. Am liebsten Galopprennen, seit ihn sein Vater einmal mitgenommen hatte nach Hoppegarten. Das hatte er sich gemerkt, weil sich das so nach Hoppe, hoppe Reiter anhörte.

      Vor einem Grundstück spielten ein paar Kinder mit Murmeln.

      Bruno Lüdke blieb stehen, um ihnen dabei zuzusehen. »Ich auch mal!«

      Sie ließen ihn mitmachen.

      Als alle Murmeln ihm Loch waren, bot er ihnen an, Galopprennen mit ihm zu spielen. Dazu kniete er sich auf den Gehweg, hüpfte auf allen vieren herum und wieherte so laut, dass es mehrere hundert Meter weit schallte.

      Die Kinder amüsierten sich.

      »Einer ist jetzt der … der … der …«

      Auf das Wort Jockey kam er nicht.

      »… der … der … der Reiter.«

      Karl-Heinz, blond und fünf Jahre alt, wagte es.

      Doch kaum war er auf Brunos Rücken gekrabbelt, kam die Mutter aus dem Haus gelaufen. »Runter da! Und du …«, das war an Bruno gerichtet, »du lässt die Kinder in Ruhe, sonst …«

      Bruno Lüdke ließ den kleinen Karl-Heinz wieder absteigen, richtete sich auf, griff sich seine Keule und lief weiter in Richtung Kuhgraben.

      Ein Stückchen weiter kniete eine Frau, die viel jünger war als seine Mutter, in ihrem Gemüsebeet und zupfte Unkraut. Als Bruno genauer hinsah, kribbelte es in seinem Puscher, der ganz lang und steif wurde. Das passierte jetzt öfter, und er hatte Angst, dass er deswegen zum Arzt musste. Aber weh tat es ja nicht, wenn er da anfasste. Im Gegenteil, das war schön. Er fing an, vorn an ihm zu reiben.

      Da entdeckte ihn die junge Frau, erschrak, sprang auf und schrie: »Hermann, da ist der Exhibitionist wieder! Komm mal schnell her!«

      Bruno Lüdke wusste nicht, was das war, ein Ex … Ex …, aber dass es nichts Gutes sein konnte, hatte er am Klang des Wortes erkannt. Das waren seine Feinde, die Frau und ihr Mann. Also lief er los und verschwand kurz darauf im Wald.

      Hier war er sicher, hier konnte ihm keiner was. Am besten, er setzte sich in ein Schiff und fuhr nach Amerika. Das konnte, seiner Meinung nach, nicht so weit weg von Köpenick sein, denn ein Onkel von ihm hatte neulich gesagt, er würde auch bald über den großen Teich gehen. Was ein Teich war, wusste Bruno, und der große Teich, das konnte nur der Müggelsee sein. Am anderen Ufer lag also Amerika.

      Als er am Ufer stand, kam es ihm ganz nahe vor. Große weiße Dampfer fuhren hinüber. Da musste man nur aufpassen, dass nicht plötzlich ein Riese aus dem Ozean kam und den Dampfer versenkte. Der Onkel hatte was von Ozeanriesen erzählt.

      Schwimmen konnte Bruno