Opa wohnt ja in der Koppenstraße, und da fährst du immer hin.«
»Nein, geht nicht«, warf Franzke ein. »Es heißt ja, dass die Leichenteile immer nachts ins Wasser geworfen werden, und da liegt Lothar bestimmt zu Hause in seinem Bettchen. Aber vielleicht war es ja sein Opa.«
»Du kriegst gleich ein paar gescheuert!«, rief Lothar Lemke.
Werner Rosinski war immer knapp bei Kasse und hätte gern durch die Ergreifung des Täters sein Taschengeld ein wenig aufgebessert. »Ist denn ’ne Belohnung ausgesetzt?«
Franzke schüttelte den Kopf. »Nein. Aber die Kriminalpolizei, das ist ja sowieso nur ein Haufen von Stümpern. Seit Jahren finden sie nun schon Leichenteile, und noch immer haben sie den Kerl nicht gefasst. Dabei ist die Sache doch ganz einfach: Man braucht nur Polizisten als Lockvögel am Schlesischen Bahnhof herumlaufen zu lassen.«
»Das fällt doch auf«, wandte Lothar Lemke ein. »Spätestens dann, wenn der denen an die Wäsche will.«
»Mensch, dann haben sie ihn doch!«, rief Werner Rosinski. »Ob wir uns nicht auch verkleiden können?«
Sie überlegten ernsthaft, wie sie das anstellen konnten, und wären womöglich auch ausgezogen, den Lustmörder zur Strecke zu bringen, wenn die Polizei nicht am 21. August 1921 Karl Großmann verhaftet hätte, die »Bestie vom Schlesischen Bahnhof«.
Eine wichtige Bezugsperson für Heinz Franzke war sein Onkel Richard, Richard Franzke, von Beruf Staatsanwalt. Schon sein Äußeres war furchteinflößend. Auf dem massigen Körper, weit über einhundert Kilo wog er, saß ein Schädel von Kürbisgröße, kahlgeschoren und glänzend wie eine Billardkugel. Durch die dicken Gläser seiner schwarzen Hornbrille wurden die dunkelbraunen Augen derart vergrößert, dass die Angeklagten das Gefühl hatten, bis in den letzten Winkel ihrer Seele und ihres Gedächtnisses durchleuchtet zu werden. Aber nicht nur durch diese Wucht wurden sie eingeschüchtert, sondern ebenso durch die schneidende Stimme Richard Franzkes und seinen scharfen Verstand. Nicht zufällig war er ein blendender Schachspieler und hatte seinem Verein bei Wettkämpfen schon viele Punkte eingebracht. Wäre er von seinem Beruf nicht aufgefressen worden, hätte er es, so sagte man, durchaus zum Großmeister bringen können.
Als Junge genoss es Heinz Franzke, mit seinem Onkel, wenn der sich einmal vom Dienst freimachen konnte, am frühen Abend hinten in der Gaststube zu sitzen und Schach zu spielen. Ins Wohnzimmer durften sie nicht, da der Onkel Zigarre rauchte und Ida Franzke um ihre Gardinen fürchtete.
Zum Aufwärmen kam er dem Jungen ein jedes Mal mit einer Denksportaufgabe. »Welches sind die größten Philosophen des Abendlandes?«
Heinz Franzke musste nicht lange nachdenken. »Aristoteles, Platon und Sokrates.«
»Gut, mein Junge! Platon und Sokrates unterhalten sich. Sagt Platon: ›Sokrates’ nächste Behauptung wird falsch sein.‹ Antwortet Sokrates: ›Platon hat die Wahrheit gesagt.‹ Na, Heinz, was sagst du als großer Logiker, wer hat recht?«
»Das kann man nicht entscheiden, das geht einfach nicht, das ist wie die Quadratur des Kreises.«
»Richtig, das nennt man eine Paradoxie.« Der allmächtige Onkel war zufrieden. »Nun aber zu unserer ersten Schachpartie! Möchtest du lieber Weiß, wo du die Initiative ergreifen kannst, oder Schwarz, wo du nur reagieren musst?«
»Weiß natürlich!«
»Mutig, mein Junge, mutig! Soll ich dir die Dame vorgeben, oder soll ich auf meine beiden Türme verzichten, damit du auch mal eine Chance hast?«
Heinz Franzke guckte böse. »Hör auf, mich zu beleidigen, sonst … Du weißt, wenn es zum Duell kommt, schieße ich viel besser als du.«
Sein Vater hatte es ihm heimlich beigebracht. Man wusste ja nie, wozu es gut war.
Der Onkel grinste. »Ich wollte ja nur einmal sehen, ob du auch wirklich standhaft bist. Ich könnte dich auch gewinnen lassen, ohne dass du es merkst, aber ich will dir nicht die Freude nehmen, mich im fairen Wettkampf zu schlagen. Also los, den ersten Zug!«
Natürlich verlor Heinz Franzke auch diesmal, wenn es auch bis zum 34. Zug dauerte, bis der Onkel sein »Matt, mein Lieber!« verkünden konnte, was Rekord war.
»Du verstehst es schon großartig, ein Spiel systematisch aufzubauen und dafür zu sorgen, dass die Figuren sich gegenseitig decken. Was dir aber noch fehlt, ist die Fähigkeit, strategisch zu denken, also mehr als zwei Züge im Voraus zu planen.«
»Ich setze mehr auf originelle Einfälle«, erklärte Heinz Franzke.
Und damit sollte er im nächsten Spiel Erfolg haben, als er sich absichtlich viele wichtige Figuren schlagen ließ, so dass sich der Onkel schon gar nicht mehr richtig konzentrierte und ihm prompt in die Falle ging. Der König seines Onkels stand so eingeklemmt, dass Franzke ein und denselben Zug unendlich wiederholen konnte, und das bedeutete, dass die Partie remis gewertet wurde.
»Herzlichen Glückwunsch, mein Junge!«, rief der Onkel. »Auf diese Leistung kannst du stolz sein. Bist erst dreizehn Jahre alt und ringst mir schon ein Remis ab. Walter, für mich ein Glas Sekt und für den Jungen … Ach was, der darf das auch mit einem kleinen Schluck begießen.«
Sie hatten gerade miteinander angestoßen, als ein maskierter Mann ins Lokal stürzte. Mit nur zwei Sätzen war er am Tresen und schrie: »Geld her – oder ich schieße!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, jagte er eine Kugel in die Decke.
Walter Franzke hatte an der Front zu viele Gefechte erlebt, um auch nur für eine Sekunde die Contenance zu verlieren. Seine Gäste hingegen duckten sich, sprangen auf und hetzten zur Toilette oder warfen sich, wenn gar nichts anderes möglich war, zu Boden.
So auch Heinz Franzke. Er ging unter dem Tisch in Deckung, wagte es aber nach ein paar Sekunden, neugierig, wie er war, das lang herabhängende Tischtuch ein wenig anzuheben und zu beobachten, was sich weiterhin abspielte.
Seelenruhig hatte sein Vater in die Schublade gegriffen und ein Bündel Geldscheine hervorgeholt. Der Maskierte riss sie an sich und schien zufrieden zu sein.
Während er so dastand und einen Augenblick brauchte, um die Menge des Geldes abzuschätzen, bemerkte Heinz Franzke, dass der Mann dunkelbraune Sandalen trug und am rechten Fuß ein großes Loch in der beigefarbenen Socke hatte. Genau am großen Zeh. Und der sah komisch aus – dick und unförmig. Ein sogenannter Hammerzeh war das. Eine Cousine seiner Mutter litt schon seit Jahren darunter. Komisch, dass auch Männer so etwas hatten.
Der Räuber ließ seine Beute in einer Aktentasche verschwinden und lief auf die Straße hinaus.
Die Anspannung der Gäste löste sich. Alles schnatterte durcheinander. Einige machten sich an die Verfolgung.
Als würde ihn das alles langweilen, griff Walter Franzke zum Telefonhörer, um die Polizei zu verständigen.
Sein Bruder lief zu ihm hin und bedauerte ihn wegen des gestohlenen Geldes.
»Ach, Richard!« Walter Franzke lachte, als wäre die Szene eben nicht blutiger Ernst gewesen, sondern nur Teil eines Theaterstückes. »Man wird ja öfter mal überfallen, und für diese Anlässe habe ich mir einige gut gemachte Blüten verschafft. Falschgeld kostet ja nicht viel. Und wenn der Mann es ausgeben will, dann …«
Die Kriminalpolizei rückte an und fragte die Gäste, was sie beobachtet hätten. Auch Heinz Franzke kam an die Reihe. Er gab zu Protokoll, dass der Räuber am rechten Fuß einen Hammerzeh hatte.
Aufgrund dieser Angabe konnte der Mann schon am nächsten Vormittag gefasst werden, und ein Kriminalkommissar lobte Heinz Franzke: »Junge, du bist ja der geborene Kripomann, du musst später unbedingt zu uns kommen.«
»Nein, ich werde einmal Staatsanwalt, der steht ja über allen Polizisten.«
Drei
1932/33
Wir kennen weder den Familien- noch den Vornamen des Mannes, der im Februar 1932 durch die Neuköllner Straßen lief, wissen