mittelblonde und glatt nach hinten gekämmte lange Haare, ein markant längliches und knochiges Gesicht und spricht Hochdeutsch mit heller, weicher Stimme. Bekleidet ist er mit einer zweireihigen, gürtellosen Joppe mit schrägen Seitentaschen und einer langen dunklen Hose. In der rechten Hand trägt er eine abgewetzte braune Aktentasche.
So oder so ähnlich beschrieben ihn verschiedene Augenzeugen, und es besteht kein Zweifel, dass er tatsächlich existiert hat. Man nannte ihn Norbert N., abgeleitet von N. N., nomen nescio – den Namen weiß ich nicht.
Norbert N. arbeitet als Buchhalter in einer Fabrik in der Lahnstraße und biegt rechts in die Bergstraße ein. Unter der Ringbahn hindurch geht er in Richtung Hermannplatz. Er läuft immer schneller, damit ihm wärmer wird. Die U-Bahn hat zwar schon vor zwei Jahren den Bahnhof Neukölln erreicht, aber er will das Fahrgeld sparen, und weit ist es ja nicht bis zur Wildenbruchstraße. Er hat andauernd quälende Kopfschmerzen, und dort soll es einen Homöopathen geben, Ziemann mit Namen, der als wahrer Wunderheiler gilt. Die Adresse hat Norbert N. von einem Kollegen bekommen.
Als er an der Magdalenenkirche vorüberkommt, will er am liebsten eintreten und beten. Er mag das große Kirchenschiff mit seinen Inschriften: Jesus Christus, gestern und heute, derselbe auch in Ewigkeit in Richtung Osten und Ehre sei Gott in der Höhe nach Westen hin. Doch vergeblich drückt er die Klinke nach unten, die Tür ist verschlossen.
Auf der anderen Straßenseite sieht er das Geschäft »Musik-Bading« und überlegt einen Augenblick lang, ob er hinübergehen und nach einer neuen Schallplatte suchen soll. Nein, denn seine Kopfschmerzen werden immer stärker. Nur schnell weiter, vorbei an »Blumen Jette«, der Hohenzollern-Apotheke, der Bickardt’schen Buchhandlung, dem Eisenwaren- und Haushaltsgeschäft von Gustav Kießling und »Koffer Panneck«.
Am Städtischen Lichtspielhaus Neukölln eilt er schnell vorüber. Kino ist Sünde. An der Passage hält er ein wenig inne und schaut hinein. Das Brückenquergebäude mit seinen Rundbogenfenstern ist zu jeder Jahreszeit ein Blickfang. Aber ansonsten … Norbert N. würde am liebsten alles abreißen, denn Gott hat den Menschen nicht geschaffen, damit dieser sich amüsiert, nein, er soll beten und arbeiten.
Hinter der Richardstraße ändert der Straßenzug seinen Namen, und auf den Schildern ist plötzlich Berliner Straße zu lesen. Eine Berliner Straße in Berlin hält er für albern, aber Rixdorf ist ja bis vor zehn Jahren eine eigene Stadt gewesen, früher nur ein Dorf, und von dem hatte eine große Straße nach Berlin geführt.
Nun beherrschen wuchtige Bauten das Bild. Links das Kaufhaus H. Joseph & Co., rechts das Amts- und das Rathaus, vorher an der Ecke Anzengruberstraße aber noch das Postamt.
Er überlegt kurz, ob er Briefmarken kaufen soll, lässt es dann aber, denn seine Kopfschmerzen werden immer ärger, und er fürchtet sich vor dem Anstehen am Schalter. Weiter. Je eher Ziemann ihn behandeln kann, desto besser.
Das Schaufenster des Photohauses H. Pogade lässt ihn kurz stehen bleiben. Einen Photoapparat hat er sich noch nicht leisten können. Wozu auch?
Angeekelt wendet er sich ab, als sein Blick auf ein Hochzeitsphoto fällt.
Der arme Mann, denkt er. Wieder einer, der einem Weib auf den Leim gegangen war.
Norbert N. hasst Frauen. Sie sind nur auf der Welt, um die Männer von der Arbeit abzuhalten und ihnen das Mark aus den Knochen zu saugen.
Umbringen müsste man sie alle, findet er. Besonders jene, die den Männern schöne Augen machen. Aber Huren waren sie doch alle. »Denn die Lippen der Hure sind süß wie Honigseim, und ihre Kehle ist glätter als Öl, aber hernach bitter wie Wermut und scharf wie ein zweischneidiges Schwert«, murmelt er leise. Das hatte er aus der Bibel, die Sprüche Salomos 5,3.
Ihn würde keine einfangen!
Es ekelt ihn an, wenn er sich vorstellt, sein Glied, mit dem er gerade Harn gelassen hatte, in den Körper eines anderen Menschen zu stecken.
Vor dem Amtshaus mit seinem imposanten Turm biegt er rechts ab in die Erkstraße. Er überquert noch die Donaustraße, dann sieht er schon das alte Rixdorfer Polizeipräsidium an der Kaiser-Friedrich-Straße und dahinter die Wildenbruchstraße. Doch unter der Adresse, die ihm der Kollege genannt hatte, findet sich kein Institut für Homöopathie, und er wird auch nicht fündig, als er die Straße bis weit hinter dem Neuköllner Schifffahrtskanal nach ihm absucht. Er bleibt stehen, stellt seine Aktentasche auf das Fensterbrett einer Parterrewohnung und beginnt, nach seinem Notizzettel zu suchen. Endlich findet er ihn. Es ist ein abgerissenes Stück Zeitung, auf dem steht: Ziemann, Windscheidstraße.
Gott, da hat er Windscheid mit Wildenbruch verwechselt. Es scheint doch etwas mit seinem Kopf nicht in Ordnung zu sein.
Die Windscheidstraße, das weiß er, liegt in Charlottenburg und kreuzt die Kantstraße. Ein weiter Weg. Lohnt sich das?
Er zögert.
Aber der Kollege hat geschworen, dass dort geradezu Wunderheiler am Werke seien. »Eine halbe Stunde bei Ziemann, und du glaubst, du bist im Himmel. Jeder Druck ist weg.«
Also macht sich Norbert N. auf den Weg nach Charlottenburg. So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Er muss nur zum S-Bahnhof Treptower Park laufen und bis zum Bahnhof Charlottenburg fahren. Das tut er auch. Gleich am Ausgang in der Fahrtrichtung beginnt die Windscheidstraße.
Schnell hat er das Institut Ziemann gefunden.
Es liegt im Parterre und ähnelt einer Arztpraxis. Das Personal trägt weiße Kittel, und alles macht einen sehr seriösen Eindruck.
Herr Ziemann, der aussieht wie ein Chefarzt, führt ihn in ein kleines Zimmer, rückt ihm einen Stuhl zurecht und bittet ihn, Platz zu nehmen. Er selber begibt sich hinter seinen eindrucksvollen Schreibtisch und beginnt mit einem kleinen Vortrag: »Homöopathie – was ist das eigentlich? Das ist eine von Samuel Hahnemann begründete Behandlungsmethode, bei der der Mensch immer als Ganzes betrachtet wird. Gesundheit ist eine Lebenskraft, die den ganzen Körper beseelt. Ist diese Vitalenergie ungebrochen, wehrt sie alle Krankheiten ab. Ist sie aber gelähmt, brechen Krankheiten aus. Um sie zu bekämpfen, muss die gelähmte Vitalenergie wieder wachgerüttelt werden. Dabei gehen wir davon aus, dass Ähnliches mit Ähnlichem behandelt werden muss. Aber nun erzählen Sie mir doch erst einmal, warum Sie in unser Institut gekommen sind.«
Norbert N. holt weit aus und berichtet Ziemann von seinen Schlafstörungen und seinen starken Kopfschmerzen.
»Sind Sie verheiratet?«, fragt Ziemann.
»Nein!«
»Und, haben Sie dennoch regelmäßigen Geschlechtsverkehr?«
Norbert N. ist verwirrt. »Nein, wie denn?«
Ziemann macht sich Notizen und stellt noch eine Reihe anderer Fragen. Dann überlegt er einen Augenblick lang mit geschlossenen Augen und hat eine Idee für die Therapie: »Um Ihre Verkrampfungen zu lockern, beginnen wir mit einer leichten Massage. Unsere Frau Rolland wird danach alles Weitere mit Ihnen besprechen.«
Norbert N. wird in ein Behandlungszimmer geführt und gebeten, sich schon einmal auf einer Liege auszustrecken. Frau Rolland würde gleich kommen. Die Oberbekleidung möge er bitte ablegen und die Schuhe ausziehen.
Er tut wie ihm geheißen und klettert auf die Liege, legt sich auf den Rücken und starrt an die Decke. Die Stuckornamente interessieren ihn. Er fährt sie wie Eisenbahnstrecken mit seinen Blicken ab.
Ein Wasserfleck an der Decke sieht aus wie ein Erdteil. Afrika vielleicht.
Als er das linke Auge zukneift, merkt er, dass er mit dem rechten kaum noch etwas sehen kann, und fragt sich, ob in seinem Gehirn nicht doch ein Tumor wächst, der ihm den Sehnerv abquetscht.
Sein Arzt bestreitet das zwar – aber was wissen schon Ärzte!
Er schrickt hoch, als die Tür aufgeht.
Eine Frau in weißem Kittel erscheint. Sie sieht sehr sauber und schnuckelig aus. Sie stellt sich als Frau Rolland vor und begrüßt ihn derart freundlich, dass ihm richtig warm ums Herz wird.
Er