wie er es bezeichnet hatte, auf diese Weise einen nach dem anderen auf seine Seite bringen? Das konnte man wohl auch als eine Art »Überzeugungsarbeit« bezeichnen ...
Als Sandra um die nächste Ecke bog, blieb sie überrascht stehen. Sie blickte direkt auf den Rücken eines Zombies, der zu Lebzeiten offenbar wohlgenährt gewesen war, und dieser Untote kam ihr äußerst bekannt vor. Dann wurde Sandra klar, wen sie da vor sich hatte. »Die Hengsten!«, entfuhr es ihr.
Durch das Geräusch der Stimme aufmerksam geworden drehte sich das Annegret-Ding herum und glotzte Sandra blöde an.
»Du warst auch schon zu Lebzeiten nicht die Hellste.« Sandra konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Immerhin passen deine altbackenen Klamotten nun zu deinem neuen Teint. Keine Probleme mehr mit dem allmorgendlichen Schminken, was?«
Das Annegret-Ding grunzte, dann wandte es Sandra wieder den Rücken zu.
»Und deine Manieren sind auch nicht besser geworden.« Sandra kicherte. »Wenn deine Amtszeit als zweite Bürgermeisterin der ›wahren Menschen‹ ein wenig länger als ein paar Stunden gedauert hätte, müsste ich davon ausgehen, dass dich die Macht korrumpiert hat, so wie es bei den meisten ist, die sich Politiker nennen. Aber du warst schon immer ein selbstsüchtiger Trampel, es grenzt also an ein Wunder, dass du nicht bereits vor der Apokalypse Karriere in der Lokalpolitik gemacht hast.«
Mit wem rede ich hier eigentlich?, durchzuckte es Sandra, als ihr auffiel, dass sie soeben einen längeren Monolog gehalten hatte, den das Annegret-Ding nicht einmal mehr mit einem Grunzen quittierte.
In diesem Moment waren vom anderen Ende des Ganges her Geräusche zu vernehmen. Prompt setzte sich Annegret in Bewegung und schlurfte langsam in die entsprechende Richtung.
Sandra überlegte, ob sie zur Messe weitergehen sollte, da tauchte an der nächsten Gangbiegung eine Gestalt auf, deren Kleidung Sandra entnahm, dass es sich einst um einen Militärgeistlichen gehandelt haben musste. Unwillkürlich fiel ihr Pfarrer Patrick Stark ein, mit dem zusammen sie aus Köln geflohen waren. Gefühlt lag das inzwischen Jahre zurück und Sandra fragte sich, ob der Geistliche seine letzte Ruhe gefunden haben mochte. Laut Stephan war Stark in Bonn von den anstürmenden Zombies überrannt worden, aber der Tod besaß heutzutage nicht mehr zwingend einen endgültigen Charakter.
Als der Seelsorge-Zombie das Annegret-Ding erblickte, legte er mit einem Mal eine Geschwindigkeit an den Tag, bei der Sandra glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. Annegret selbst hatte bei seinem Anblick offenbar das Interesse an dem Geräusch, das der andere verursachte, wieder verloren und blieb einfach dort stehen, wo sie sich im Moment befand. Im nächsten Augenblick erreichte der schnelle Zombie sie und riss ihr mit einem Ruck den Kopf von den Schultern. Achtlos ließ er ihn fallen, und während Annegrets Augen empört in ihren Höhlen rollten, bildete ihr Körper eine Art Festmahl für den flinkeren Kollegen.
Mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination betrachtete Sandra die Szenerie. Dabei lauschte sie in sich hinein und versuchte, ihre eigenen Empfindungen weiter zu erkunden. Würde sie auch irgendwann so sein, und gierig über andere Zombies herfallen? Sicher, in der Not fraß der Teufel bekanntlich Fliegen, aber auch so etwas wie Annegret-Zombies?
Sandra vermeinte zu spüren, wie sich Speichel in ihrem Mund sammelte. Unwillig schüttelte sie den Kopf. »Bäh!«
Der Seelsorge-Zombie unterbrach seine Mahlzeit und sah sie neugierig an.
»Du bist neu hier, oder?«, fragte er. »Zumindest habe ich dich bislang nicht gesehen.«
Das Ding konnte sprechen?!? Nun, warum nicht, schließlich konnte Sandra das auch. Aber der andere trug keinen Gürtel, der ihn bei Verstand hielt. Welche Teufelei hatte van Hellsmann hier unten wirklichen ausgeheckt?
Bei näherer Betrachtung stellte Sandra fest, dass an dem anderen irgendetwas nicht zu stimmen schien. Er wirkte ein wenig aufgedunsen, obwohl er zu Lebzeiten mit Sicherheit eher der asketische Typ gewesen war.
»Also bist du nun neu hier oder nicht?«, rissen die Worte des Seelsorge-Zombies sie aus ihren Überlegungen. »Oder gehörst du gar zu den Langsamen? Dann bleib schön da stehen, meine Süße, mit der hier bin ich nämlich gleich fertig.«
»Ich bin nicht deine Süße!« Sandra schnaufte empört. »Wage es, bloß deine stinkende Hand nach mir auszustrecken, und ich lasse dich dein eigenes fauliges Fleisch kosten!«
»Oho, du scheinst ja eine ganz Wilde zu sein. Aber meine Frage hast du nicht beantwortet. Bist du neu hier?«
»Das geht dich einen Scheiß an! Und jetzt geh mir aus dem Weg, der Professor erwartet mich!«
»Du sollst zum Obersten Lenker?« Die Augen des Untoten wurden groß. »Das ändert natürlich alles. Magst du einen Happen zur Stärkung abhaben? Normalerweise teile ich nicht, musst du wissen.«
»Danke, ich habe schon gespeist. Und jetzt geh mir aus dem Weg und lass mich vorbei, bevor ich dich melde.«
»Ist ja schon gut.« Der ehemalige Pfarrer machte zwei Schritte in Richtung der Korridorwand, achtete dabei aber darauf, seine Mahlzeit nicht aus dem Griff zu verlieren. »Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder und du weißt mein Angebot bis dahin zu schätzen. Schönen Tag noch, Süße!« Damit schlug er seine Zähne wieder in Annegrets Körper.
Sandra setzte ihren Weg fort, begleitet vom lauten Schmatzen eines ihrer neuen Artgenossen.
Kapitel II
Gipfelkonferenz
Während Sandra der Messe immer näher kam, wurde sie noch mehrmals Zeuge solcher und ähnlicher Szenen. Wie es aussah, hatte sich auf den unteren Ebenen tatsächlich eine Art Zombie-Gesellschaft gebildet, die aus zwei Gruppen zu bestehen schien, den Langsamen und den Schnellen. Die Langsamen waren das, was man gemeinhin unter einem Zombie verstand. Sie schlurften träge dahin oder standen einfach nur herum, bis irgendetwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Schnellen hingegen waren meist aktiv. Sie bewegten sich einzeln oder in kleinen Gruppen durch die Gänge, sprachen manchmal miteinander und wirkten fast völlig normal, wenn man einmal von ihrer ungesund wirkenden Hautfarbe sowie der Tatsache absah, dass ihre Körper teilweise Wunden aufwiesen, die jeden normalen Menschen stark beeinträchtigt wenn nicht gar getötet hätten.
Sandra machte nach Möglichkeit einen Bogen um die hiesigen Bewohner. Sie verspürte keine Lust, in ein weiteres Gespräch verwickelt zu werden, geschweige denn, erneut ein nett gemeintes Angebot von einer Fressmaschine zu erhalten, die sie als »Süße« bezeichnete.
Und wenn er mich erst genug gefüttert hat, will er womöglich noch mit mir Poppen. Sandra lief ein unangenehmer Schauer das Rückgrat hinab. Dagegen war dieser Harry in Schwarmstein ja regelrecht Gold gewesen.*
Energisch schüttelte sie den Kopf, um die Bilder vor ihrem inneren Auge zu vertreiben. Nicht mehr lange, und sie würde all das hinter sich haben. Wenn van Hellsmann sie nicht vorher vom Totleben zum endgültigen Tode beförderte, würde sie wahrscheinlich mit ihm zusammen zur Hölle fahren und anschließend im größten Kessel, den der Teufel aufbieten konnte, ein Vollbad nehmen.
Sandra grinste. Ja, diese Art Gedanken gefiel ihr wesentlich besser!
Doch das Grinsen hielt nicht lange an. Schneller als ihr lieb war, kehrten ihre Überlegungen zur hiesigen Situation zurück. Sie dachte an das, was sie auf dem Weg hierher gesehen und erlebt hatte, dabei bildete sich in ihrem Kopf ein merkwürdiger Vergleich: Diese untoten Heuschrecken fressen sich gegenseitig, wo es ihnen nur möglich ist. Hai frisst Hai. Es ist beinahe wie in der Zeit vor Armageddon, als der Turbokapitalismus in voller Blüte stand und nur die Gefräßigsten ihren Platz in der Gesellschaft behaupten konnten.
Dann verdrängte sie auch diesen Gedanken wieder und wappnete sich für das Treffen mit van Hellsmann. Damit es in ihrem Sinne verlaufen konnte, hatten Gefühle dabei nichts verloren. Sie musste tough sein, noch einmal alles geben, egal um welchen Preis.
***
Sandra betrat die Messe, an deren rückwärtiger Wand van Hellsmann mit geschlossenen Augen auf einem der Stühle saß.