Jannis B. Ihrig

Die zweite Reise


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und Güter machte. Darum besaß die Stadt einen der größten Bahnhöfe der Kolonie, da sie die Schnittstelle zwischen dem südlichen und dem nördlichen Schienennetz bildete, was zur Abwandlung eines altbekannten Sprichwortes führte: „Alle Schienen führen nach Paris.“

      New Paris befand sich zwischen den Bergen und der Wüste, also dort, wo der Sand vom Gestein abgelöst wurde. Die Gegend war deshalb sehr flach und die Stadt konnte von jeder Seite angegriffen werden. Zwar war sie so gebaut, dass man sie gut verteidigen konnte, jedoch ließ sich eine gewaltige feindliche Übermacht auch nicht mit einer günstigen Verteidigungsposition abwehren. Darum war die Evakuierung der Zivilbevölkerung und aller wichtigen Ressourcen und Geräte in vollem Gange, während auf der Oberfläche zirka zwanzigtausend Männer und Frauen auf den Feind warteten und dabei immer wieder die Köpfe einzogen, wenn die Projektile der feindlichen Artillerie einschlugen. Die Verteidiger, denen der gesamte Fuhrpark des Kolonie-Militärs wie Panzer, Kampfroboter und Fluggeräte zur Verfügung stand, konnten sogar auf die Unterstützung eines Raketensilos zählen, der sich weit entfernt in den Bergen befand.

      Trotzdem waren alle nervös und hatten Angst vor dem, was kommen würde. Ja, sie hatten zwar jahrelanges Training hinter sich gebracht, da aber die Menschen der Kolonie noch nie einen Krieg erlebt, geschweige denn gekämpft hatten, besaßen sie praktische Erfahrungen nur aus Übungsmanövern. Es war, als würde man jemanden, der Schwimmbewegungen nur in Trockenübungen erlernt hatte, ins Wasser stoßen. Er könnte zwar das anwenden, was er gelernt hatte, doch das Ergebnis bliebe trotzdem bescheiden. So ging es auch den Soldaten.

      Aber derjenige, der sich am meisten bei dieser Sache unwohl fühlte, war Kommandant Sinnas Dillingham, der Neffe der Zwillinge John und Joy Dillingham. Er fühlte sich nicht einmal ansatzweise so kompetent wie seine berühmten Onkel. Auf seinen Schultern lag die Verantwortung für die Stadt, für seine Männer und Frauen sowie für die Zivilisten. Wenn ihm bei der Verteidigung auch nur ein kleiner Fehler unterlief, würden viele den nächsten Tag nicht erleben. Alles lag in seinen Händen, in den Händen eines Kommandanten, der sich noch mitten in der Ausbildung befand, als er aus der Militärakademie gezerrt wurde, weil es keinen anderen Kandidaten gab. Der alte Befehlshaber war verschwunden, entweder geflohen oder übergelaufen.

      Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war Sinnas eigentlich noch weit entfernt vom Abschluss seiner Ausbildung und er fühlte sich schon jetzt hoffnungslos überfordert. Irgendwie glaubte er auch, sein bekannter Name könnte einen Einfluss darauf gehabt haben, dass man ihm das Kommando übertrug. Jeder dachte, er würde die Soldaten am besten anführen, nur weil er ein angehender Kommandant mit ehrbarer Militärverwandtschaft war.

      Natürlich wusste Sinnas, wie man Befehle gab und die Übersicht behielt, doch sein gesamtes Wissen über Taktik und Strategie umfasste nur die Grundlagen. Das Einzige, was Sinnas wirklich meisterhaft konnte, war, seine Angst und sein schlechtes Gefühl zu verbergen, sodass niemand bemerkte, dass der Kommandant die Schlacht bereits für verloren hielt, weil er selbst an seinen Qualifikationen zweifelte. Doch sein Pflichtbewusstsein, welches ihn daran erinnerte, dass er für das Leben von Tausenden verantwortlich war, verdrängte die Selbstzweifel.

      Kommandant Sinnas griff zum Mikrofon, um eine letzte Rede vor dem Angriff zu halten: „Soldaten, ich will ehrlich sein. Unser Aufklärer, der als Einziger wieder zurückkam, berichtet von einer Armee, die uns mindestens um das Dreifache überlegen ist.“ ‚Toller Anfang, ich Idiot! Das wird sie ja richtig motivieren‘, schalt sich Sinnas in Gedanken selbst. „Und wir werden die Stadt nicht halten können. Doch das müssen wir nicht. Wir müssen sie aufhalten, bis jedes Kind, jede Frau und jeder Mann in Sicherheit ist. Kämpft für ihre und eure Zukunft. Kämpft für die Menschheit!“

      Der gedämpfte Jubel der Soldaten wurde über die Lautsprecher in die Kommandozentrale übertragen und Sinnas wusste, dass er wenigstens das hinbekommen hatte. Er blickte sich in der Zentrale um und sah jeden seiner Untergebenen an. „Packen wir es an“, sagte er zu ihnen. Sie nickten allesamt und blickten wieder auf ihre Monitore. Ganz leise murmelte Sinnas: „Möge Gott mit uns sein.“

      Leise zischte der Wind durch die Stadt und trug dabei Sand in die Straßen. Doch heute interessierte sich niemand für dieses tägliche Ärgernis. Die Augen aller Soldaten waren trotz des Sandes, der ihnen entgegengeblasen wurde, auf den Horizont gerichtet. Alle warteten auf den Feind und wünschten sich gleichzeitig, dass er nie kommen würde. Die Infanterie hockte hinter den Barrikaden, die auf den Straßen aufgebaut worden waren, während die Panzer und Kampfroboter ihre Waffen in die Ferne gerichtet hielten, um den Feind, sobald er sich blicken lassen würde, zu befeuern. Über ihren Köpfen flogen zwischen den verbliebenen Wolkenkratzern hindurch einige Senkrechtstarter, die Luftunterstützung geben sollten. Zu guter Letzt befand sich in der Stadtmitte die Artillerie, die die ungefähre Position des Feindes dank Rader orten und ihn so unter Beschuss nehmen konnte.

      So stand nun die Armee in der Stadt und wartete, während die Soldaten die Artilleriegeschosse beider Seiten davonfliegen beziehungsweise einschlagen sahen. Und auch Sinnas wartete, während er auf das Hologramm starrte, welches das Schlachtfeld in groben Umrissen zeigte. Die Position der eigenen Truppen wurde korrekt angezeigt, während das Hologramm nur ungefähre Positionen des Feindes wiedergeben konnte, da Störsignale eine genaue Ortung verhinderten. Dies verdeutlichte dem jungen Kommandanten, dass der Feind noch einen großen Vorteil hatte. Während er sich auf das Radar verlassen musste, konnte der Feind dank des Satellitensystems, das sich unter der Kontrolle der Putschisten befand, die Positionen und Bewaffnung der Verteidiger genau erkennen. Kurz gesagt: Der Feind wusste, was ihn erwartete, die Verteidiger aber nicht.

      Die Berichte des Aufklärers waren viel zu vage. Die Unmengen an Panzern und Kampfrobotern, die in dem vom Bordcomputer aufgenommenen Film zu sehen waren, erstickten die Hoffnung der Loyalisten. So blieb dem jungen Kommandanten nichts anderes übrig, als auf das Rader zu schauen und zu warten, bis die ersten Gegner in Sichtweite kommen würden.

      Dann war es so weit: Sandwolken erschienen am Horizont und enthüllten Panzer und Truppentransporter, die sich rasch der Stadt näherten und das Feuer eröffneten, während über ihnen Kampfsenkrechtstarter hinwegdüsten. Die Verteidiger erwiderten das Feuer.

      Als der äußerste Stadtring erreicht wurde, blieben die Truppentransporter stehen und entluden ihren Inhalt, während die Panzer weiterrollten und Feuerschutz gaben. Besessene Soldaten sprangen heraus und eröffneten unverzüglich das Feuer. Die Schlacht um New Paris hatte begonnen.

       1. Kapitel – Was wollt ihr eigentlich?

      Goldia, Hauptstadt des Reiches des Silbernen Hammers Morgen des ersten Tages nach dem Fall von New Paris

       Du kannst mir nicht entkommen.

      Die Stimme schien überall und gleichzeitig nirgendwo zu sein. Erwin hechtete durch die ewige Dunkelheit, verfolgt von irgendetwas.

       Renn nicht weg! Es verzögert nur das Unvermeidliche.

      Erwin dachte nicht daran, stehen zu bleiben. Er rannte immer weiter in die Dunkelheit, in der Hoffnung, so der unheimlichen Stimme zu entkommen.

       Es hat keinen Sinn, vor mir wegzurennen. Niemand kann sich selbst entkommen.

      „Lass mich in Ruhe! Verschwinde!“, schrie er …

      … und erwachte. Erwin schreckte hoch und wusste einen Moment lang nicht mehr, wo er war. Er blickte sich im Zimmer um und erinnerte sich dann. Dies war eines der Gästezimmer der Goldenen Zitadelle, das Erwin bezogen hatte, nachdem die Schlacht um Goldia zu Ende gewesen war. Erwin zitterte am ganzen Leib und versuchte, sich zu beruhigen.

      Sein Blick schweifte durch das Zimmer: Es war, wie der Rest der Zitadelle, prunkvoll. Das Bett und ein Tisch mitsamt den Stühlen waren aus gutem Holz gefertigt, das aus dem Elfenreich importiert worden sein musste, während der Boden, die Wände und die Decke aus Gold bestanden. Zudem gab es ein großes Glasfenster und wie der Zufall es wollte, befand es sich in der richtigen Ausrichtung, um die Morgensonne hereinzulassen. Wirklich ein bemerkenswerter Zufall, wenn man bedachte, dass die Stadt Goldia noch vor einem Tag komplett unter der Erde gelegen hatte und nur wegen der