Jannis B. Ihrig

Die zweite Reise


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Noch weniger aber, dass sich diese beiden an einem Ort befinden konnten, ohne sich gegenseitig an die Kehle zu springen. ‚Es sind seltsame Zeiten‘, dachte Irving, bevor er mit dem Gespräch begann: „Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist …“

      „Irving Anderson. Wir haben schließlich Ohren“, kam ihm der Ork zuvor. „Ich bin Janok und die Tarborianerin heißt Schimascha.“

      Irving musste sich daran gewöhnen, dass die Urvölker von Locondia meistens keine Nachnamen trugen, auch nicht in den vielbevölkerten Städten. Dafür geizte das einfache Volk nicht mit Zusätzen, die die besonderen Merkmale eines Individuums hervorhoben, während es bei den Höhergestellten Familiennamen gab. Ein Beispiel waren die Clans der Zwerge.

      „Irving reicht. Anderson ist der Name meiner Familie“, klärte Irving auf.

      „Dann muss es ja eine bedeutende Familie sein“, bemerkte Schimascha.

      Da es tatsächlich der Wahrheit entsprach, nickte Irving nur und versuchte nicht, das menschliche Konzept der Nachnamen zu erläutern. Stattdessen setzte er das Gespräch fort: „Ich muss zugeben, ich habe noch nicht völlig verstanden, was eigentlich in Locondia vor sich geht.“

      Der Ork zuckte mit den Schultern: „Was gibt es da viel zu sagen? Die Schattenelfen haben mithilfe der Dämonen und, nehmen Sie es mir nicht übel, Ihrer Mitmenschen die Macht im Elfenreich an sich gerissen und drohen nun, ganz Locondia zu unterwerfen.“

      „Und welche Rolle spielen die fünf ungleichen Reiter? Wer oder was sind die überhaupt?“, fragte Irving.

      „Ich frage mich auch manchmal, was eigentlich von uns erwartet wird“, murmelte Janok.

      Als auf Irvings Gesicht ein überraschter Ausdruck erschien, erklärte Schimascha: „Wir beide gehören zu den ungleichen Reitern. Und eigentlich kann ich Ihnen über uns nicht mehr sagen, außer dass wir von Erwin dem Sonnenelfen höchstpersönlich prophezeit wurden und jeder von uns einen ungewöhnlichen Kampfgefährten hat. Die dürften Ihnen garantiert schon aufgefallen sein.“

      Irving nickte. Der Landtintenfisch, der schwarze Drache, der Albinoskorpion, der Basilisk und der Greif waren schwer zu übersehen.

      „Warum wir aber so bedeutend sein sollen und welche Rolle wir in diesem Geschehen spielen, kann keiner von uns sagen. Bei der Axt meines Vaters, ich weiß nicht mal, warum ich das Ganze überhaupt mitmache, statt die Sümpfe meiner Heimat zu durchstreifen“, maulte Janok.

      „Wer gehört noch zu den Reitern?“, fragte Irving weiter.

      „Nun, wie schon erwähnt, wären da ich und der Greif“, begann Janok aufzuzählen. „Schimaschas Kampfgefährtin ist die weiße Goliathskorpionin Alba, dann wären da noch Erwin mit Debecia, dem weiblichen Riesentintenfisch, und Gribus, der Zwerg mit dem steinernen Gesicht. Der reitet Hämatit, den Grünzeug fressenden Drachen. Und zu guter Letzt GKR-3443 mit dem Basilisken Snake.“

      Als der Ork GKR-3443 erwähnte, verhärteten sich Irvings Gesichtszüge. „Was genau hat dieser Roboter mit Euch zu tun, Ork?“

      Janok, völlig überrascht vom plötzlichen emotionalen Umschwung des Menschen, sah ihn an. „Was er mit mir zu tun hat? Er ist einer von uns und ich hatte schon das Vergnügen, an seiner Seite zu kämpfen. Zugegeben, er ist mir etwas unheimlich, so als Maschine, doch eigentlich ganz in Ordnung.“

      „In Ordnung?“, fauchte ihn Irving an und Kristalle brachen aus seinen Schultern hervor. „Er ist ein Roboter mit einem gravierend tödlichen Defekt. Er hat mehrere gute Männer und Frauen auf dem Gewissen. Jetzt muss ich mir anhören, dass er ein legendärer Reiter sein soll, dessen Kommen seit Jahrhunderten prophezeit und erwartet wurde?!“

      Weder Janok noch Schimascha wussten, wie sie auf diesen Ausbruch reagieren sollten.

      „Falls du Probleme mit mir hast, solltest du mir das ins Gesicht sagen, statt hinter meinem Rücken zu hetzen.“

      Diese halb digitale, halb lebendige Stimme jagte Irving einen eiskalten Schauer über den Rücken. Er drehte sich um und sah GKR-3443 in die Augen. Am liebsten hätte der Mensch mit seiner Magie dem Elektro-Cyborg den Stahlschädel mitsamt diesen unnatürlichen Augen weggeblasen, doch er riss sich zusammen. Für den Moment.

      Der Roboter starrte ihn an und wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. GKR-3443 war einerseits wütend darüber, wie dieser kümmerliche Mensch auf ihn herabschaute, so wie es alle Menschen mit Robotern taten. Doch gleichzeitig konnte er dessen Wut verstehen. An dem Metall, aus dem er bestand, klebte Blut. Und nicht gerade wenig.

      Zum Glück kam in diesem Moment Gribus um die Ecke, erblickte erstaunt das Grüppchen vor sich, erfasste die Lage blitzschnell und entschärfte sie, indem er einfach sagte: „Was auch immer ihr gerade machen wolltet, es muss warten. Wir alle werden nämlich im großen Saal erwartet.“

      Tatsächlich gab es genug Gründe, sich an einen großen Tisch zu setzen und offene Fragen zu beantworten. Zum Beispiel die, warum ein Teil der Menschen auf einmal hier war und die Stadt gegen die Dämonen verteidigt hatte, während der andere Teil genau mit diesen verbündet war. Zudem gab es noch das Problem, dass Goldia und alle anderen Städte des Clans des Silbernen Hammers nun führungslos waren, da mit Theron der letzte Clanangehörige verstorben war. Die Clanlinie, die häufiger mit Todesfällen bestraft als mit Zuwächsen gesegnet gewesen war, befand sich am Ende. Glücklicherweise aber hatte Theron mehrere Berater, die die Regierungsgeschäfte übernehmen konnten. Trotzdem bedurfte es eines neuen Königs, bevor das Volk unruhig wurde.

      Im Saal der Goldenen Zitadelle stand vor dem Thron ein großer, langer Tisch, an dem sich mehrere Personen versammelt hatten. Neben den bereits erwähnten Beratern des toten Königs befanden sich als elfische Vertreter König Maximilian der Vierte und sein Bruder Monarchius am Tisch, während der grimmige Kommandant Dillingham als Vertreter der Menschen anwesend war. Man sah ihm an, dass er sich unwohl unter den „Nichtmenschen“ fühlte. Kein Wunder, schließlich war er ein überzeugter Prohumanist, also ein Anhänger von politischen Lehren, welche den Menschen als anderen intelligenten Wesen überlegen ansahen. Zu guter Letzt befanden sich noch die fünf Kampfgefährten der Reiter im Saal, welcher groß genug für sie war, ohne dass es eng wurde. Alle warteten auf die Letzten, welche kurz darauf eintrafen.

      Von der rechten großen Treppe, die ins Innere der Zitadelle führte, kam die kunterbunte Fünfergruppe, während Erwin und April die linke hinabschritten. Wortlos setzten sich die Dazugekommenen an den Tisch, außer GKR-3443 natürlich. Abgesehen davon, dass sein massiver Roboterkörper nicht darauf ausgelegt war, eine Sitzposition einzunehmen, besaßen die Zwerge keinen Stuhl, der das Gewicht des Roboters hätte aushalten können. Also stand er am Tisch. Die Reiter, die Vertreter der Elfen und Menschen sowie die zwergischen Berater saßen an den beiden länglichen Seiten des Tisches verteilt, während an der dem Thron zugwandten kurzen Seite ein einzelner Zwerg saß, der sich sogleich von seinem Stuhl erhob. Er war mit einer blausilbernen Robe, die das hervorstechende Bild des Silbernen Hammers trug, bekleidet. Da die anderen Berater nur gewöhnliche Stoffroben trugen, war es für jeden ersichtlich, dass dieser Zwerg der oberste Berater sein musste.

      Der Zwerg begann zu reden: „Ich danke Ihnen, dass Sie sich hier versammelt haben. Da die gestrige Schlacht ein gewaltiges Chaos sowohl in der Stadt als auch in unserer Gesellschaft hinterlassen hat und es zudem einige Unklarheiten gibt, was hier los ist“, der Zwerg sah zu den beiden Menschen hinüber, „ist es dringend erforderlich, diese offenen Fragen zu beantworten. Doch zuerst will ich mich im Namen aller Bewohner dieser Stadt bei unseren Elfenfreunden, bei den fünf ungleichen Reitern und bei den Menschen, die uns überraschenderweise beigestanden haben, bedanken: Danke.“

      Während alle, auch Irving, den Dank gern annahmen, blieb Dillinghams Gesicht, aus dem schon die gesamte Zeit über die Verachtung heraustropfte, unbewegt. Der Zwerg sah oder beachtete es nicht, als er sich den Menschen direkt zuwandte und weitersprach: „Ich bin Tropandus, der oberste Berater des verblichenen Königs. Somit wären wir aber schon bei einer der wichtigsten Fragen. Es sind Gerüchte im Umlauf, dass Sie sich mit den Dämonen verbündet hätten, was aber wohl durch Ihr Eingreifen in die gestrige Schlacht als eindeutig widerlegt angesehen werden