Jannis B. Ihrig

Die zweite Reise


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als gäbe es keinen Menschen, der dafür geeignet wäre. Dies hätte bedeutet, dass erst der Sentio-Chip weiterentwickelt werden müsste, was Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte dauern könnte. Doch nun hatte es den Anschein, als würde das Projekt endlich anlaufen.

      Ansell sah sich die Werte auf dem Datenpad an. „Mein Gott“, sagte sie. „Diese Werte liegen weit über dem Durchschnitt. Selbst der legendäre Einstein hätte alt ausgesehen. Wie kann es sein, dass so ein Genie unbemerkt geblieben ist?“

      Der Assistent hatte darauf eine Antwort: „Wie Sie vielleicht wissen, arbeitet das menschliche Gehirn uneffektiv.“

      Ansell nickte: „Natürlich weiß ich das. Durch die Sentio-Chips können wir die Denkprozesse eines Menschen optimieren. Jedoch greifen wir damit in den biologischen Rhythmus des Gehirns ein, weshalb diese Methode umstritten ist. Doch worauf wollen Sie hinaus?“

      „Es klingt zwar erstaunlich, doch das Gehirn von Sinnas Dillingham arbeitet rund zehnmal weniger effektiv als ein durchschnittliches Gehirn“, lüftete der Assistent das Geheimnis.

      „Was?“ Ansell war sprachlos.

      Der Assistent fügte noch hinzu: „Aber selbst mit dieser Quote ist er schon überdurchschnittlich intelligent. Wenn wir nun auch noch Sentio-Chips verwenden …“

      Jetzt wusste Ansell es: Dieser Sinnas war der Gesuchte.

      „Haben Sie schon …“, fragte sie, doch der Assistent kam ihr zuvor: „Ja, seine DNA wurde bereits gewonnen und zu den entsprechenden Klonexperten geschickt. Sie werden bald das Geheimnis seiner Intelligenz herausgefunden haben. Dann wird es uns nicht mehr an Probanden mangeln.“

      Ansell lächelte: „Sehr gut. Sagen Sie den Teams Bescheid. ‚Projekt Eiserner Mensch Typ Dornteufel‘ läuft an.“

      Feuer. Überall Feuer. Sinnas wandelte durch die Hölle. Die Flammen überzogen bereits seine Haut, doch das war nicht das Schlimmste. Am schlimmsten waren die Schreie. Von überall her kamen die letzten Schreie der Soldaten, die in New Paris gefallen waren. Sinnas konnte sie nicht sehen, doch er spürte ihren Schmerz. Und alles war seine Schuld. Er hatte als Kommandant versagt und ihr Blut klebte an seinen Händen. So gesehen, wandelte er zu Recht in der Hölle umher. Eine erneute Flammenwoge stieß ihm ins Gesicht …

      … und er wachte auf. Hätte man ihn nicht auf der Trage festgegurtet, wäre er hochgeschreckt. Sinnas versuchte, seinen Körper zu bewegen, aber die Gurte waren zu fest. Zudem fühlte er sich schwach, als hätte man ihm irgendetwas Betäubendes gegeben. Er bewegte den Kopf und versuchte herauszufinden, wo er war.

      Der Raum, in dem er sich befand, war klinisch weiß. Überall stand medizinisches Gerät herum, weshalb Sinnas vermutete, dass er sich in einem Operationssaal befand. Auf seinem Gesicht lag schwer eine Atemmaske, durch die ein süßliches Gasgemisch in Sinnas’ Atemwege gepumpt wurde. Dies war vermutlich das Betäubungsmittel. Zudem verspürte er dumpfe Schmerzen durch die angeschlossenen medizinischen Geräte, deren Zweck aber für ihn, einen Laien in medizinischen Dingen, nicht ersichtlich war.

      Sinnas blickte hoch und ihm stockte der Atem. Er hatte es zuerst nicht bemerkt, weil seine Sicht kurz nach dem Aufwachen verschwommen gewesen war, doch jetzt konnte er ihn klar und deutlich erkennen: Über ihm in der Decke war ein Operationsroboter eingebaut. Diese Art von Maschine, die mit vielen mit Operationsgeräten bestückten Armen versehen war, hatte auf Sinnas schon immer unheimlich gewirkt. Die Tatsache, dass er direkt unter dem Roboter lag und er sich zudem nicht bewegen konnte, machte das Ganze noch schlimmer. In Sinnas’ Vorstellung bohrten sich die Instrumente des Roboters in sein Fleisch. Ein plötzliches Summen, das von dem Roboter ausging, kündigte sogleich den Beginn dieses Albtraumes an.

       3. Kapitel – Erwins Verschwinden

      Goldia, Hauptstadt des Silbernen Hammers

       Vormittag des zweiten Tages nach dem Fall von New Paris

      „Wie geht es Janok?“, fragte Neptunia.

      „Ganz gut, die Menschenärzte meinen, dass er sich erstaunlich schnell erholt. Er ist sogar bereits wieder aufgestanden“, antwortete Schimascha.

      „Ich hätte nicht gedacht, dass Orks zwei Herzen haben“, gab April zu.

      Die drei Frauen spazierten durch die Vorstadt von Goldia, die zwischen dem ersten und dem zweiten Mauerring lag. Überall an den Gebäuden waren Gerüste aufgebaut worden und zahlreiche Zwerge arbeiteten auf ihnen, um den alten Glanz der Stadt wiederherzustellen. Jedoch waren die zahlreichen Bauarbeiten nicht das Einzige, was das Stadtbild stark veränderte. Neben den menschlichen Soldaten und den Robotern, die von den Zwergen mit einer Mischung aus Misstrauen und Ehrfurcht beäugt wurden, hatte die fehlende Höhlendecke eine gravierende Veränderung ausgelöst: Es war eiskalt geworden. Früher blieb die Wärme, die von den magischen, in Gebäuden und Gehwegen eingravierten Runen abgegeben wurde, in der Höhle, sodass nur ein leicht kaltes Klima innerhalb der Stadt herrschte. Man musste in den Häusern nur ein kleines Feuer entfachen, um die Räume auf angenehme Temperaturen aufzuheizen. Doch das alte System funktionierte nicht mehr, da die Wärme nun sofort in die eisige Berglandschaft entwich. Die Häuser selbst waren nicht darauf ausgelegt, Wärme zurückzuhalten. Man kann sich gut vorstellen, warum Pelzmäntel, Felle, Feuerholz und Kohle seit wenigen Tagen so begehrt waren. Überall waren dick eingepackte Zwerge zu sehen, die bibbernd und fluchend ihrer Arbeit nachgingen.

      „Die Ärzte haben nicht schlecht gestaunt“, erzählte Schimascha, wobei sie trotz des dicken Mantels, den sie trug, zitterte. Ihre Schuppen hatten einen leichten Blauton angenommen. „Sie kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, als sie ihn eine Stunde später untersuchten und feststellten, wie schnell die Wunde des verletzten Herzens sich schloss. Janok hat mir erzählt, dass sich Wunden bei Orks in Ruhephasen immer schnell verschließen. Orks sind wirklich wahre Kampfmaschinen: groß, zäh, stark und fast schon ein bisschen unsterblich. Kein Wunder, dass mein Volk ihre Invasion nur knapp und mit aller Kraft aufhalten konnte“, berichtete Schimascha und ihre Stimme wurde dabei zunehmend düsterer.

      April merkte, dass das Gespräch drohte, einen für Schimascha unangenehmen Verlauf zu nehmen, und versuchte einen Themenwechsel: „Na ja, jedenfalls bin ich froh, dass es Janok gut geht.“ Sie seufzte traurig: „Ich mache mir mehr Sorgen um Erwin. Seine gebrochene Wirbelsäule hat sich zwar wegen seiner Lichtmagie regeneriert, doch sein Geist …“

      Neptunia bemerkte Aprils Bedrücktheit: „Keine Besserung?“

      April schüttelte den Kopf: „Ich war vorhin bei ihm im Kerker der Zitadelle. Sie haben ihn in schwere Ketten gelegt, nur wenige Fackeln brennen, gerade genug für ihn zum Leben, und zwei eiserne Unholde in der Größe von GKR-3443 halten Wache. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, doch Erwin reagierte nicht, obwohl ich mir sicher bin, dass er bei Bewusstsein war. Mir kam es so vor, als hätte er seinen eigenen Geist in seinen Körper gesperrt. Jedenfalls sind sich alle uneinig darüber, was mit ihm geschehen soll. Auch wenn er Tropandus, den Kristallmenschen und Janok angegriffen hat, können die Leute nicht vergessen, dass er es war, der die Stadt mit einer gewaltigen Lichtensa-Explosion gerettet hat. Kurz gesagt, niemand weiß, was er über Erwin denken soll.“

      „Dieses Problem haben wir alle“, gab Schimascha zu.

      „Reiterin! Warten Sie bitte!“, ertönte es plötzlich aus einiger Entfernung. Es war die Stimme einer Zwergenwache, welche angerannt kam. Der Zwerg blieb keuchend vor Schimascha stehen und sprach, sobald er seinen Atem wieder unter Kontrolle hatte: „Reiterin Schimascha, der Rat der Stadt ruft eine weitere Versammlung ein und Ihre Anwesenheit wird erwünscht.“

      Schimascha nickte. „Ich komme sofort“, gab sie zur Antwort und wendete sich April sowie Neptunia zu: „Ich muss mich verabschieden. Bis später.“

      „Bis später, Schimascha“, ließen April und Neptunia gleichzeitig verlauten, während Schimascha schon dem Zwerg folgte.

      Mutter und Tochter schlenderten weiter durch die Stadt, ohne ein richtiges Ziel zu haben. Deshalb sahen sie gelangweilt den Bauarbeiten zu. Genauer gesagt, sah nur Neptunia zu, denn