„Ja. Du siehst aus, als würden alle Sorgen von Locondia an deiner Seele nagen“, antwortete Neptunia. „Du solltest dich entspannen, egal was mit Erwin los ist. Er ist ein zäher Bursche und kommt schon wieder in Ordnung“, fügte die Mutter hinzu.
„Sein Körper vielleicht …“, meinte April missmutig. „Doch gilt das auch für seinen Geist? Und wie sollen wir ihm vertrauen, wenn er womöglich jeden Moment wieder ausrasten könnte?“
„Erst mal müssen wir herausbekommen, was mit ihm überhaupt los ist. Schließlich war er ja bis jetzt ein ruhiger und gelassener junger Mann, der konzentriert und nicht rasend kämpfte. Irgendetwas muss mit ihm während der Belagerung passiert sein. Vielleicht ein Trauma? Ich werde mir ihn jedenfalls genauer ansehen, sobald er wieder bei Bewusstsein ist“, versuchte Neptunia ihre Tochter zu beruhigen.
Aprils Gesichtsausdruck entspannte sich ein wenig und sie ließ ihren Blick durch die Straßen schweifen. Schließlich antwortete sie: „Vermutlich hast …“ Sie kam nicht dazu, den Satz auszusprechen, denn ein gewaltiges Knallen durchflutete die Stadt.
Zehn Minuten vorher in der Goldenen Zitadelle. Janok stand vor einer Zimmertür und klopfte an. „Herein!“, forderte Lupunias Stimme Janok zum Eintreten auf. Lupunia lag in einem Bett und sowohl ihr Körper als auch ihre Flügel waren mit Verbänden übersät, sodass es gar nicht auffiel, dass sie nackt im Bett lag. Zumal sie mit einer Decke zugedeckt war. Janok setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand, und fragte: „Wie geht es dir, Mutter?“
Lupunia lächelte schmerzvoll: „Es wäre einfacher, dir aufzuzählen, welche Stellen nicht schmerzen, als jene, die schmerzen, zu nennen. Diese verdammten Sukkuben haben versucht, mich zu zerfetzen, und haben es leider auch halbwegs geschafft. Zum Glück verfüge ich als Engel über eine ausgezeichnete Regeneration. Doch wie geht es dir, mein Sohn? Du hattest eine heftige Auseinandersetzung mit Erwin.“
Jetzt war es Janok, der schmerzverzerrt lächelte: „Unsere ‚Auseinandersetzung‘ als heftig zu beschreiben, wäre so, als würde man einen Zyklopen als sanftmütig bezeichnen. Erwin war in eine Art Raserei verfallen, die selbst bei einem Ork wie mir eine Gänsehaut verursacht.“
Die Elfin nickte traurig. „Wie konnte das nur passieren? Gestern war er noch ein Held und heute müssen wir Angst vor ihm haben.“
„Irgendetwas muss während der Schlacht passiert sein. Mir war aufgefallen, dass er sehr … bedrückt erschien. Ich habe aber keine Idee, was es gewesen sein könnte. Vielleicht schwarze Magie?“, mutmaßte Janok.
Doch seine Mutter schüttelte den Kopf: „Kann ich mir nicht vorstellen. Für uns Lichtmagier ist eine Korruption durch Schattenmagie problemlos spürbar. Zudem ist Erwin ein starker Lichtmagier, der das Potenzial besitzt, selbst den legendären Sonnenelfen Erwin zu übertreffen. So jemand kann nicht einfach unbemerkt korrumpiert werden. Schließlich kann er sogar eine gigantische Menge Lichtensa kontrollieren. Aber vielleicht waren es die gigantischen Anstrengungen, die vonnöten gewesen sein mussten, um die ganze Stadt mit Lichtensa zu überfluten, die seinen Geist verwirrt haben.“
„Dann hoffen wir mal, dass Erwin sich wieder entwirren kann. Denn noch ist es nicht zu spät. Die Leute hassen ihn noch nicht, sondern haben nur Angst. Schließlich hat er eine ganze Armee von Dämonen pulverisiert. Wenn er wieder normal wird, werden die Leute das ganze Drama schnell wieder vergessen“, meinte Janok.
„Und was denkst du? Schließlich bist du derjenige, dem der größte Schaden zugefügt wurde“, hakte seine Mutter nach.
Janok lächelte jetzt breiter und etwas Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit, als er antwortete: „Ich bin immer noch ein orkischer Krieger. Und wir Krieger hassen nicht diejenigen, die uns abstechen. Wir bewundern sie! Das können wir uns mit selbstheilenden Herzen auch leisten.“
Daraufhin lachten Mutter und Sohn und verdrängten für einen Moment die Gewissheit, dass es eine schlimme Zeit war, in der sie lebten. Dieser Moment hielt aber nur so lange an, bis plötzlich ein ohrenbetäubender Knall die friedliche Stimmung im Zimmer zerriss.
Im Thronsaal, wo sich alle außer Janok und Erwin für eine zweite Versammlung eingefunden hatten, herrschte Chaos. Denn hier war nicht nur der heftige Knall zu hören gewesen – eine Druckwelle hatte den Thronsaal verwüstet.
„Bei den Wurzeln des Dschungelgottes! Was ist denn hier passiert? Ein Wirbelsturm?“, keuchte Schimascha, die gerade durch das große Eingangstor trat.
Tropandus kroch unter dem gewaltigen Tisch, an dem die Versammlung eigentlich stattfinden sollte, hervor und stand vorsichtig auf. „Ich habe keine Ahnung. Da sitzen wir hier, warten auf Sie und wollen schon die ersten Dinge besprechen … und plötzlich herrscht hier Chaos, von einem Moment auf den anderen“, beantwortete er stöhnend und zugleich um seine würdevolle Haltung ringend die Frage der Schamanin.
Nun rappelten sich auch die anderen wieder auf. „Mir brummt der Schädel. Was war das?“, fragte Gribus laut.
Auf diese Frage hatten auch GKR-3443, Monarchius, Maximilian, Irving sowie die anderen elfischen, zwergischen und menschlichen Vertreter, die nach und nach die Benommenheit abschüttelten, keine Antwort.
Schimascha blieb nichts anderes übrig, als sich nach Hinweisen zur Herkunft des Knalles umzusehen. Sie entdeckte, dass bei einer der Treppen, die nach unten führten, im Steinrahmen einige Stücke herausgebrochen waren, woraus sie schlussfolgerte, dass die Druckwelle von unten aus den Kellergewölben gekommen sein musste.
Da die anderen noch wacklig auf den Beinen waren, hätte Schimascha allein heruntersteigen müssen, wenn Janok nicht in diesem Moment die Treppe heruntergerannt gekommen wäre. Seine Augen weiteten sich, als er den verwüsteten Thronsaal zu Gesicht bekam: „Bei der Axt meines Vaters! Ist hier ein Sumpfschmetterling vorbeigekommen oder bist du einfach nur ausgerastet, Schimascha?“
Diese lief rot an, zumindest soweit dies bei einer Echse möglich war: „Weder noch! Was für eine fürchterliche Unterstellung! Außerdem seid ihr Orks doch diejenigen, die alles ohne Sinn und Verstand zusammenschlagen!“
Janok hatte eine Drachensaat ausgelegt und Schimascha ließ sie wachsen, ungeachtet dessen, dass es sie eigentlich mehr interessierte, was hier los war.
Das Chaos wäre durch den Streit noch schlimmer geworden, wenn nicht Gribus, immer noch leicht stöhnend, gefordert hätte: „Wenn ihr bitte die Güte hättet, euren Streit auf später zu verschieben, damit ihr nachsehen könnt, was passiert ist? Ich würde es ja gern selbst machen, doch bei mir dreht sich noch alles.“
Die dringende, aber auch leicht sarkastische Bitte des Zwerges brachte den Streithahn und die Streithenne zur Besinnung. Beide gingen missmutig und sich gegenseitig anknurrend in den Untergrund der Zitadelle.
„Was meinst du? Ob Erwin das angerichtet hat?“, fragte Schimascha.
„Würde mich nicht wundern“, antwortete Janok trocken.
In den Kellergängen sah es noch schlimmer aus als im Thronsaal. Aus den Wänden waren mehrere Steine herausgebrochen und in den Räumen lagen zerschmetterte Möbel und ohnmächtige, sowohl zwergische als auch menschliche Wachen, die glücklicherweise aber nicht schwer verletzt zu sein schienen. Vermutlich würden sie für eine Weile schlecht hören können. Janok und Schimascha kamen Erwins Zelle näher und entdeckten eine der denkenden Menschenmaschinen, die von irgendetwas in eine der Wände hineingepresst worden war.
„Ich weiß langsam nicht mehr, ob ich hoffen soll, dass es Erwin nun gut oder schlecht geht“, murmelte Janok und Schimascha nickte, da sie dasselbe ungute Gefühl hatte. Glücklicherweise schien kein lebendiges Wesen in der Nähe von Erwins Zelle gewesen zu sein. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Druckwelle jemanden mit voller Kraft getroffen hätte.
Als Janok und Schimascha nun endlich Erwins Raum erreichten, war es für beide nicht schwer vorstellbar, was das laute Geräusch mitsamt der Schockwelle erzeugt hatte. Schimascha fasste es passend zusammen: „Dies dürfte der heißeste Gefängnisausbruch aller Zeiten gewesen sein.“
„Heiliger Wasserfall,