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Die Mainzer Republik und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland


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       Abb. 1: Ausschnitt-Köner-Verbundbrief.

      Die Ausübung kommunaler Ratsherrschaft basierte auf eigenen städtischen Steuereinnahmen, also auf einem eigenen beanspruchten und realisierten Budgetrecht. Die wichtigsten Steuerformen waren jene, die wir als Vermögens- und Mehrwertsteuer bezeichnen.27 In den damaligen Steuerverfassungen waren noch heute geltende Prinzipien verankert. Trotz der in vielen Städten grundsätzlich geltenden formalen Gleichheit aller Bürger wurden Ungleichheiten akzeptiert: So waren Arme von der Vermögenssteuerzahlung befreit und wurde ein steuerfreies Existenzminimum garantiert.

      Während die Ratsmänner der attischen Polis bereits Diäten bezogen und damit auch ärmere Bürger politische Ämter bekleiden konnten, war die Entlohnung der mittelalterlichen Ratsherren allerdings in der Regel gering. Dies hatte zur Folge, dass – auch in Mainz – weitgehend nur wohlhabende und reiche Bürger für die Übernahme dieser Ämter abkömmlich waren.

      In Mainz beendete die Eroberung der Stadt durch Truppen Erzbischof Adolfs von Nassau (Abb. 2) im Jahre 1462 die Geschichte kommunaler Partizipation in der Vormoderne. Ihren Anspruch auf die Stadtherrschaft hatten die Mainzer Erzbischöfe und Kurfürsten zuvor nie aufgegeben und im vom städtischen Rat beanspruchten Einflussbereich auch im Vergleich zu anderen Bischofsstädten in beachtlichem Umfang Rechte behaupten können. Diese wurden keineswegs von allen Mainzer Bürgern abgelehnt und bestritten. Von ihnen profitierten immer wieder Einzelpersonen und Gruppen, was ein komplexes, auch mentale Strukturen prägendes, wechselseitiges Verhältnis zwischen bürgerlicher Gemeinde und Stadtherrschaft zur Folge hatte. Dem Typus der „Autonomiestadt“28 entsprachen die Mainzer Verhältnisse insofern nur eingeschränkt.

      Trotz dieser Ambivalenzen stellte die Eroberung des Jahres 1462 aber einen tiefen Einschnitt in der städtischen Freiheitsgeschichte dar. Mehrere hundert Mainzer Bürger wurden getötet, andere mussten ihre Stadt verlassen. Mainz verlor die über Jahrhunderte hinweg immer aufs Neue beanspruchten, erkämpften und verteidigten kommunalen Selbstverwaltungsrechte und wurde – nach länger anhaltender Weigerung auch vom Kaiser akzeptiert – zur kurfürstlichen Territorial- und Residenzstadt.29

       Abb. 2: Porträt Adolf II. von Nassau (1461–1475).

      Die Geschichte von Freiheiten und politischer Partizipation aus der hier angedeuteten epochenübergreifenden und europäischen Perspektive in den Blick zu nehmen, bleibt für die Deutung der Mainzer Republik nicht folgenlos. Der Versuch, einem von den Werten der Französischen Revolution inspirierten neuen Verständnis für die Menschen- und Bürgerrechte unter dem Schutz der französischen Eroberer Raum zu schaffen, ist bis heute mit dem Odium der Gewalt behaftet. Und tatsächlich ist ihre Geschichte vor allem in ihren späteren Phasen auch eine Geschichte der Repression und Einschüchterung. Die abschreckenden Erfahrungen mit der Guillotine, dem Terror und der Vernichtung während der Französischen Revolution prägten in Deutschland in besonderer Weise das kollektive Gedächtnis. Darüber sollte aber nicht in Vergessenheit geraten, dass auch in den Jahrhunderten zuvor Menschen bereit waren, zur Erlangung und Verteidigung von Freiheitsrechten zu den Waffen zu greifen. Die Kämpfe um stadtbürgerliche Emanzipation waren alles andere als gewaltfreie Prozesse. Im Jahre 1160 sahen viele Mainzer ihre errungenen und verbrieften Rechte bedroht; einige ihrer Rädelsführer ermordeten ihren Stadtherrn und Erzbischof Arnold von Selenhofen.30 Das war zwar kein Königsmord wie im revolutionären Frankreich, aber immerhin die Ermordung des Reichserzkanzlers im römisch-deutschen Reich. Dieser nahm für sich in Anspruch, in Mainz den römisch-deutschen König und späteren Kaiser zu küren und verstand sich in der römischen Kirche nördlich der Alpen als der zweite Mann nach dem Papst. Dieser Anspruch wurde auch in der sakralen Architektur der Bischofsstadt zum Ausdruck gebracht.31

      Den Mainzer Bürgern gelang es dennoch, den prominenten Kirchenfürsten auf dem Erzbischofsstuhl des Bonifatius Bereiche kommunaler Autonomie abzutrotzen. Auf solche Traditionen stadtbürgerlicher Emanzipation gegenüber bischöflicher Stadtherrschaft verwies explizit Georg Forster, u. a. in seinen „Ansichten vom Niederrhein“ und zugleich auf ein Beispiel aus seiner Zeit. Er beschrieb Ereignisse in Lüttich, wo empörte Bürger das Rathaus gestürmt, einen neuen Magistrat gewählt und den Fürstbischof zur Flucht in die Abtei St. Maximin bei Trier gezwungen hatten. Forster deutete diese in der Tradition der mittelalterlichen bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen stehenden Ereignisse als revolutionäre Vorgänge.32

      Aufstände und Revolten waren der vormodernen Gesellschaft mental und strukturell gleichsam eingeschrieben.33 Erinnert sei über innerstädtische Bürgerkämpfe hinaus an die zahlreichen Bauernrevolten der Vormoderne. Noch in der Tradition solcher Aufstände stehen wohl, trotz einiger neuer Akzente, die kurz vor der Ausrufung der Mainzer Republik ausbrechenden gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Handwerksgesellen und Studenten, die als „Mainzer Knotenaufstand“ bezeichnet werden. Auch die Besetzung des Rathauses in Bergzabern im Jahre 1789 und die Publikation von Gravamina bewegten sich in der Tradition vormoderner Aufstandsbewegungen.34 Kurzum: der Einsatz von Gewalt im Rahmen von Aufständen und Revolten war auch in jenen Landschaften keine Seltenheit, die später zum modernen Staat der Deutschen zählten.

      Im 19. Jahrhundert wurde die Geschichte des mittelalterlichen Bürgertums im Unterschied zur lange Zeit vergessenen Mainzer Republik auf vielfältige Weise instrumentalisiert und idealisiert. Wortführern der Romantik galten die mittelalterlichen Kommunen und ihre Kathedralen als Orte, die im Kontrast zu den expandierenden und von Modernisierungskonflikten geprägten urbanen Zentren und den Turbulenzen revolutionärer Entwicklungen ihrer Gegenwart religiös-politische Stabilität zu verkörpern schienen. Vertreter des sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert neuformierenden Bürgertums meinten, in der urbanen Kultur des Mittelalters ihre Vorgänger und Vorbilder entdecken zu können. Die mittelalterliche Kommune galt gegenüber Adel und Königtum nicht nur als Ort bürgerschaftlicher Partizipation, sondern als eine auf Friedenssicherung zielende dritte Kraft, die dank der ihr eigenen Rationalität, eines spezifischen Wirtschafts- und Arbeitsethos, sowie aufgrund ihres differenzierten Bildungswesens als ein in die Zukunft weisender Kulturfaktor verstanden wurde. Die in der rechtsgeschichtlich ausgerichteten Stadtgeschichtsforschung geprägte Bilderformel „Stadtluft macht frei“ zog eine markante Linie gegenüber Formen von Hörigkeit auf dem Lande.35 Die neuere Forschung hat etliche dieser Interpretationsmuster in Frage gestellt, relativiert und revidiert, etwa mit Blick auf die krassen Unterschiede zwischen Arm und Reich, die bestehenden engen Wechselwirkungen zwschen Stadt und Land, das von konkurrierenden Eliten und Parteiungen dominierte städtische Regiment, sowie die vielfach engen Verschränkungen zwischen kommunalen und stadtherrlichen Kompetenzen.

      Allerdings blieben die angedeuteten Prozesse der Rezeption und Wahrnehmung nicht wirkungslos. Geschichtskonstruktionen von den mittelalterlichen Gemeinden und ihren Bürgern wirkten fruchtbar und folgenreich weiter. Für die Städteordnung des Freiherrn von Stein (1808)36 stellten Erfahrungen mit den im Mittelalter entstandenen kommunalen und vor allem mit den (hier nicht näher zu erörternden) ständischen Formen lokaler und regionaler Selbstverwaltung wichtige Orientierungen dar;37 diese waren bis um 1800 vom frühmodernen Territorialstaat vor allem seit dem 17. Jahrhundert weitgehend eingeebnet und domestiziert worden. Trotzdem wirkten ältere Formen der Repräsentation und Partizipation über die Französische Revolution und den Zusammenbruch des napoleonischen Systems hinaus vielerorts weiter und beeinflussten Verfassungsdiskussionen des 19. Jahrhunderts. Ferner wurden trotz erheblicher Widerstände die preußischen Städtereformen im Rückblick zu einer über Preußen hinauswirkenden Erfolgsgeschichte.

      Die damals zugestandenen kommunalen Selbstbestimmungsrechte und Selbstverwaltungsaufgaben wurden freilich zugunsten einer kontrollierenden Funktion des Staates eingeschränkt. Ihnen wurde lediglich eine Ergänzungsfunktion obrigkeitsstaatlicher Strukturen zugeschrieben. Privilegiert wurde ferner das in den Städten als Honoratioren agierende Besitzbürgertum; die ländlichen Siedlungen sowie die dort ehemals praktizierten Formen der Partizipation kamen nicht in den Blick. Im Unterschied zu den Mainzer Bürgermeistern der Moderne waren ihre Vorgänger im Mittelalter, als noch nicht anstaltsstaatliche