Die Mainzer Republik und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland
und Rezeptionsgeschichte von politischer Partizipation, Souveränität und zeitlich begrenzter Herrschaft verstanden wird. Vormoderne Formen der Repräsentation gründeten zwar in der Regel noch nicht auf Wahlen gleichberechtigter Bürger; doch waren auch sie von der Überzeugung geprägt, der durch Repräsentanten vermittelte Konsens sei für die Legitimität von Regierungshandeln unverzichtbar. In Mainz sind mit Blick auf entsprechende Erinnerungsorte erhebliche Verluste zu beklagen, zugleich aber immer noch markante Anknüpfungspunkte vorhanden. Zweckentfremdet und schließlich abgebrochen wurde das aus wenigen Bildquellen bekannte prächtige mittelalterliche Rathaus (Abb. 5), Ort politischer Partizipation sowie Ausdruck bürgerlicher Emanzipation und Selbstbehauptung.50 Ein Rathaus wurde in Mainz erst wieder in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts errichtet. Niedergelegt wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch das Mainzer Kaufhaus, eines der größten und bedeutendsten im nordalpinen Reichsgebiet. Es wurde wohl im Zusammenwirken zwischen Kommune und Stadtherrn geschaffen und erinnert somit auch daran, dass diese Akteure sich keineswegs nur als Gegner gegenüberstanden. Auch um an diesen Ort bürgerlichen Wirtschaftens und Handels zu erinnern, wurde das Kaufhaus vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz (IGL) und dem Institut für Mediengestaltung an der Hochschule Mainz als digitales Monument wieder ins Bewusstsein gerückt (Abb. 6).51 Das lange Zeit im Stadtarchiv verwahrte Original des Privilegs aus dem Jahre 1244 (Abb. 7), mit dem der damalige Mainzer Erzbischof Siegfried III. der Mainzer Stadtgemeinde Freiheitsrechte beurkundete, darunter insbesondere die Wahl eines städtischen Rates, ist verschollen und wohl verloren und nur noch in Fotografien überliefert. Freiheitsrechte waren schon zuvor von Erzbischof Adalbert I. verliehen worden. Der Text wurde in die berühmte Bronzetür am Marktportal des Domes eingegraben (Abb. 8), ein bemerkenswerter, aber vielen Mainzern eher unbekannter Ort der Erinnerungskultur. Neue Monumente sind entstanden, weitere werden entstehen. Mit der Stele zur Mainzer Republik und der Umbenennung des Platzes vor dem Landtagsgebäude wird seit 2013 auf den „Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent“ von 1793 und die Mainzer Republik verwiesen. Damit wird an eine Versammlung im Gebäude des Landtags von Rheinland-Pfalz erinnert, die Elemente moderner parlamentarischer Demokratien enthielt, diesen aber nicht zugerechnet werden kann.52
Abb. 6: Die 3D-Rekonstruktion des spätmittelalterlichen Mainzer Kaufhauses.
Abb. 7: Die Urkunde Erzbischof Siegfrieds III. für Mainz von 1244.
Erinnerungsorte scheitern freilich dann, wenn sie von keinem ausreichenden Konsens getragen werden. Der von einer großen Mehrheit der Mainzer 2018 abgelehnte, für das Gutenberg-Museum geplante Bibelturm hätte als markantes Zeichen nicht nur auf die folgenreiche Innovation des Buchdrucks verweisen, sondern auch daran erinnern können, dass der Mainzer Johannes Gutenberg die ersten gedruckten Bibeln der Welt schuf, als in der Stadt noch ein Stadtrat und Bürgermeister kommunale Belange gestalteten. Die Bibel ihrerseits hätte als Hinweis auf den verschlungenen, komplexen und lang andauernden Weg verstanden werden können, der von der jüdisch-christlichen Auffassung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott bis zur naturrechtlich begründeten Vorstellung von für alle geltenden Freiheits- und Menschenrechten zurückzulegen war.
Abb. 8: Zweiflügeliges Marktportal aus Bronze des Mainzer Doms.
Forschungsergebnisse und Forschungsperspektiven
Die Beiträge des vorliegenden Bandes präsentieren Ergebnisse aktueller Forschungen zur Mainzer Republik und verweisen zugleich auf Möglichkeiten künftiger Untersuchungen. Matthias Schnettger skizziert die Wege zur derzeitigen Verortung der Mainzer Republik in Wissenschaft und Geschichtskultur. Schon unter den Zeitgenossen umstritten, wurde sie lange Zeit marginalisiert und im Kontext der sog. deutsch-französischen Erbfeindschaft aus deutscher Perspektive allenfalls als Schandfleck wahrgenommen. Nach der Gründung zweier deutscher Staaten war sie Gegenstand heftiger politischer Kontroversen. Zugleich wurden aber auch die reichlich zur Verfügung stehenden Quellen in erheblichem Umfang erschlossen. So stellen die vom Ostberliner Historiker Heinrich Scheel in zwei Bänden herausgegebenen und kommentierten Protokolle der Jakobinerklubs (I, Berlin 1975) und des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents (II, Berlin 1980) auch heute eine wichtige Grundlage für künftige Forschungen dar.53 Die Aussöhnung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich eröffnete die Möglichkeit, die Mainzer Jakobiner nicht mehr nur als Handlanger von Besatzern in den Blick zu nehmen. Seit den neunziger Jahren haben die wissenschaftlichen Debatten an Schärfe verloren, und zugleich wuchs die Bereitschaft zu einer positiveren Verortung der kurzlebigen Ereignisse links des Rheins. Dabei erweist sich bis heute für eine differenzierte Beurteilung die von Franz Dumont erarbeitete Einteilung der Abläufe von 1792/93 in drei Phasen als von grundlegender Bedeutung. Vor allem während der beiden letzten Phasen erscheint die Mainzer Republik im Kontext sich zuspitzender kriegerischer Ereignisse aus der Perspektive liberaler, rechtsstaatlicher und parlamentarischer Demokratien der Gegenwart als widersprüchlich und janusköpfig, wie auch jene Ereignisse, die wir unter der Chiffre der Französischen Revolution subsumieren. In Mainz kam es zu erzwungenen Eidesleistungen auf die oktroyierte Freiheit, zu Einschüchterungen, Schikanen und Plünderungen, zu gewaltsamen Repressionen und Vertreibungen, von denen auch viele jüdische Familien betroffen waren.54 Wolfgang Dobras verweist in seinem Beitrag auf ausgewählte Ereignisse der Mainzer Republik, deren archivalische Überlieferung sowie auf Felder künftiger Forschung. Die trotz Quellenverlusten umfangreichen erhaltenen Bestände bieten immer noch eine Reihe von auszuwertenden Schätzen, etwa noch nicht erschlossene Ego-Dokumente. Dobras analysiert vor allem die Überlieferungssituation zur Verwaltung der Mainzer Republik, zum Jakobinerklub und zu den Gemeinde- und Parlamentswahlen und betont, den in vieler Hinsicht experimentellen Charakter der Mainzer Republik. Weniger erforschten Themenfeldern ist ein weiterer Beitrag des Bandes gewidmet, der Möglichkeiten und Grenzen öffentlicher Kommunikation während der Mainzer Republik beleuchten. Immo Meenken zeigt, dass es in der politischen Publizistik der Mainzer Jakobiner ebenso wie in der publizistischen Reaktion der gegenrevolutionären Kräfte um die Propagierung der eigenen Sache und um Diffamierung des Gegners ging. Beide Lager nutzten jeweils auch dieselben medialen Kanäle wie Flugschriften und Periodika, Gedichte und Lieder. Die Vertreter des Ancien Régime zielten dabei auf Loyalität von Untertanen, die Mainzer Jakobiner dagegen auf politische Bewusstseinsbildung von Bürgern. In der ersten Phase der Mainzer Republik konstatiert Meenken zugleich eine „offene politische Diskurssituation“ und ein bemerkenswertes Bemühen um politischen Konsens. Die Begeisterung für die Ideale der Französischen Revolution auf der einen und deren Ablehnung auf der anderen Seite blieben aber nicht auf Mainz begrenzt, sondern erreichten auch die Bürger in Dörfern und Städten zwischen dem Mittelrhein und der Pfalz.
Abb. 9: Mainzer Republik, Stele, Schild.
Während in Mainz an die im 15. Jahrhundert untergegangene Stadtfreiheit erinnert und diese instrumentalisiert wurde, waren in der Freien und Reichsstadt Worms die Ideen der alten reichsstädtischen Freiheit, die gegenüber dem bischöflichen Stadtherrn im Verlaufe des Mittelalters erkämpft worden waren, weiterhin präsent und wirksam. Die städtische Verfassung privilegierte die lutherische Mehrheit, und die mit ihr verknüpften Ideen konkurrierten 1792/93 mit der neuen französischen Freiheit gleicher Bürgerrechte. Volker Gallé zeigt, dass trotz heftiger interner Konflikte zwischen Rat und Zünften die meisten Lutheraner für die alte Freiheit, die Minderheiten der Katholiken und Reformierten sowie eine Gruppe aufgeklärter Lutheraner für die neue Freiheit plädierten. Die Wormser Debatten wurden in der dortigen Lesegesellschaft vorbereitet. Deren Mitglieder kannten wichtige Publikationen der deutschen und elsässischen politischen Presse. Aufgrund der überkonfessionellen Zusammensetzung der Lesegesellschaft wurde die Idee gleicher Bürgerrechte im gesellschaftlichen Leben hier gleichsam vorweggenommen.
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