Manfred Koch

Kaltfront


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ganzen Leib und bekommt fast einen Tobsuchtsanfall.

      „Das tust du nicht“, brüllt er. „Dazu hast du kein Recht! Das bleibt alles so, wie es ist! Du rührst nichts an, bis Roswitha wieder da ist!“

      Sinnlos, ihm zu erklären, dass er sich falsche Hoffnungen mache. Dass er aufhören solle, Roswitha nachzutrauern. Dass es an der Zeit sei, sie ein für alle mal zu vergessen. Dass Roswitha wie jeder Mensch ein Anrecht darauf habe, an einem anderen Ort ein neues Leben zu führen.

      Es nützt nichts. Der sture Hund rückt keinen Millimeter von seiner Überzeugung ab, Roswitha würde zu uns zurückkommen. Sogar als ich mich in letzter Not zu dem Argument hinreißen lasse, niemand könne wissen, ob Roswitha nicht schon längst tot sei, möglicherweise einer schlimmen Krankheit zum Opfer gefallen, einem schrecklichen Unfall oder einem Verbrechen, umgekommen irgendwo weit weg, vielleicht in Süditalien oder auf einem anderen Kontinent, ja, sogar da reagiert mein Bruder mit nichts als unverhohlener Verachtung für mich und mit Wut und Empörung.

      „Du Arsch! Niemand nimmt mir Roswitha weg! Niemand! Und du schon gar nicht!“

      Und ich Idiot gebe klein bei. Um des Friedens willen mache ich nicht weiter. Lasse es bleiben. Das Ausmalen ebenso wie den Versuch, Thomas zur Vernunft zu bringen. Kapituliere, statt ein Machtwort zu sprechen. Weil irgendwie tut mir Thomas sogar leid. Scheiß Bruderspiel, würde Claudia sagen.

      Und dann beginnt der Wahnsinnige auch noch mit einem Küchenmesser die frische, weiße Farbe abzukratzen. Legt in stundenlanger Arbeit die Graffitis wieder frei, vorsichtig, Quadratzentimeter um Quadratzentimeter. Schabt und wischt, beharrlich, geduldig und mit Feuereifer, als wäre er ein Archäologe, der ein kostbares, antikes Wandgemälde vom Dreck von Jahrhunderten befreit. Wird zum Restaurator, um schadhafte Stellen wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen, schleppt kartonweise alte Farbspraydosen aus dem Keller in die Wohnung, sprüht jede fehlende Linie nach, füllt Farbflächen, ergänzt Schwünge und Kanten, bis endlich alles wieder genau so ist, wie es Roswitha zurückgelassen hat.

      Doch das reicht ihm noch lange nicht. Und ich lasse ihn machen, weiß der Teufel, warum. (Zwischenfrage an Frau Doktor Freud: Ist es denkbar, dass auch mir die Vorstellung durchaus willkommen war, ich würde eines Morgens aufwachen, Roswitha läge neben mir ihm Bett, und alles wäre nur ein böser Traum gewesen? Können Illusionen ansteckend wirken, allenfalls eine Zeit lang und in einmal mehr, einmal weniger heftigen Schüben? Oder gibt es eine andere Erklärung für meine fast ein halbes Jahr andauernde Lethargie?)

      Heute muss ich ja fast lachen, wenn ich mich daran erinnere. Kommt der Kerl doch tatsächlich eines Tages mit einem Stapel von Kunstgeschichtebüchern an, die er auf einem Flohmarkt gekauft hat, und verteilt sie in der ganzen Wohnung. Macht wenig später einen Aufstand, als er bemerkt, dass ich den Kleiderschrank wieder zur Gänze für mein Zeug benutze. Räumt Roswithas ehemalige Fächer leer, schafft Platz für ihre Sachen. Hängt zusätzliche Handtücher ins Badezimmer. Stellt einen neuen Zahnputzbecher samt Zahnbürste auf die Etagere. Stopft das Spiegelkästchen voll mit Kosmetiksachen und Tamponpackungen. Und zu guter Letzt finde ich sogar auf dem Badezimmerboden einen Haufen ungewaschener Damenslips, sicher zwanzig oder mehr, Roswithas alte Slips, die sich der kleine Perversling im Laufe der Zeit zusammengeklaut und in seinem Zimmer versteckt hat.

      Jeden Tag ein neues Déja-vu. Jeden Tag für einen Augenblick das Gefühl, Roswitha sei noch hier. Jeden Tag ein kleiner Stich ins Herz. Jeden Tag meine Kapitulation vor Thomas’ manischer Roswitha-Inszenierung, bei der ich mitspiele, weil ich nicht anders kann. Bis ich es schließlich doch nicht mehr aushalte.

      Als Thomas damit anfängt, jedes Mal, wenn er die Wohnung betritt, „Hallo Roswitha! Hallo Markus!“ zu rufen, wird es mir zu viel. Soll ich jetzt auch noch mit verstellter Stimme antworten, um den Schein aufrecht zu halten? Aus! Es reicht. Schluss mit dem faulen Zauber.

      Ich weiß, mit Vernunft ist Thomas nicht beizukommen. Und mit der Wahrheit schon gar nicht. Also muss wieder ein Lüge her. Eine Täuschung, mit der ich seine Selbsttäuschung übertrumpfen kann. Eine Geschichte, die Thomas dazu bewegt, wenigstens eine Zeit lang zu verschwinden und mich in Ruhe zu lassen.

      Es ist mein Geschenk zu seinem neunzehnten Geburtstag. Drei gute Nachrichten. Erstens, dass er ab sofort das Recht habe, zu tun oder zu lassen, was er will, weil ich nicht mehr für ihn verantwortlich sei. Zweitens, dass er nun selbstverständlich auch über das Geld, das ihm unsere Eltern vererbt haben, frei verfügen könne. Und drittens, dass ich gehört hätte, Roswitha sei von einem ehemaligen Studienkollegen im Hafen von Piräus gesehen worden, als sie gerade die Fähre nach Mykonos bestiegen habe.

      Ich bin verblüfft, wie präzise die letzte Nachricht auf Thomas wirkt. Er stellt keine Fragen, zieht nichts in Zweifel. Am liebsten würde er sofort alles stehen und liegen lassen und nach Griechenland aufbrechen, um Roswitha zu suchen. Das Einzige, was ihn davon abhält, ist die Bank, die für die Regelung einiger finanzieller Fragen und die Ausstellung seiner Kreditkarte zehn Tage braucht. Doch dann packt er ein paar Klamotten in einen Rucksack und macht sich auf den Weg. Ruft nur noch „Ciao, Markus! Ich bring Roswitha zurück!“ und haut ab.

      Ich weiß nicht einmal, ob er die Bahn nimmt oder ein Flugzeug. Interessiert mich auch nicht. Ich bin nur froh, einfach nur heilfroh.

      Noch am selben Abend packe ich sämtliche Roswitha-Relikte zusammen, die gefälschten ebenso wie die echten, und schmeiße sie in die Mülltonne. Und dann öffne ich ein Flasche Wein, einen richtig schönen, teuren Roten, und besaufe mich. Und weil es so schön ist, mache ich noch eine Flasche auf und dann noch eine, und schließlich bin ich von dem schönen Rotwein richtig schön besoffen und ich rufe „Prost, Tommi! Prost, Roswitha! Alles Gute euch beiden und der Teufel soll euch holen!“ und ich werfe das halbvolle Glas an die Wand, so richtig schön nach russischer Art, und dann das nächste und zum Schluss sogar noch die Flasche, knalle sie gegen die Graffitis, und der schöne Rotwein rinnt an ihnen herunter und vermischt sich mit den Farben, und so werden sie erst richtig schön, finde ich, richtig schön durch meinen schönen Rotwein, diese Scheißgraffitis. Und dann schlafe ich ein, was soll ich sagen, das erste Mal seit langem schlafe ich richtig schön, schlafe tief und fest, ohne Schlaftablette, schlafe, wie ich früher geschlafen habe, ganz früher, nämlich wie damals, als mein Bruder noch überhaupt nicht auf der Welt war und die Welt deshalb noch ziemlich in Ordnung gewesen ist.

      Ist man eigentlich ein Arschloch, wenn man seinen Bruder gleichzeitig liebt und zum Kotzen findet? Gut, dann war ich eben ein Arschloch und bin vermutlich noch immer eins. Jedenfalls genoss ich jeden Tag ohne Thomas. Beglückwünschte mich zu jeder Woche, jedem Monat, in welchem ich nichts von ihm erfuhr, von gelegentlichen, nichtssagenden Ansichtskarten einmal abgesehen. Und gratulierte mir schließlich zu jedem der über drei Jahre, wirklich zu jedem einzelnen dieser herrlichen, wunderbaren Jahre, in denen ich von ihm meine Ruhe hatte!

      Manchmal vergaß ich ihn völlig, manchmal machte ich mir aber auch Sorgen um ihn. Fragte mich, ob es richtig gewesen war, ihn allein auf eine falsche Fährte zu setzen und seinem Schicksal zu überlassen. Doch erst viel später, als er mir von seiner langen Suche nach Roswitha erzählte, erkannte ich, dass ich allen Grund zur Sorge hatte. Nicht wegen der ein, zwei unangenehmen Dinge, die Thomas zugestoßen waren. Was mir Sorgen bereitete, oder vielmehr, was mich erschreckte, war diese Mischung aus Gutgläubigkeit und Starrsinn, mit der er sein Ziel verfolgt hatte. Es wurde mir klar, dass Thomas ein Mensch ist, der sich durch nichts davon abbringen lässt, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat. Der eisern daran festhält, so falsch und verrückt und aussichtslos es auch sein mag. Mehr als bloß ein Phantast. Ein Irrer.

      Eine andere Bezeichnung fällt mir nicht ein für einen, der drei Jahre lang einem Phantom nachrennt. Einen, der auf ein bloßes Gerücht hin auf jeder mit einer Fähre oder für eine Handvoll Münzen mit einem Fischerboot erreichbaren griechischen Insel nach einer rothaarigen Frau Ausschau hält, in die er sich als Fünfzehnjähriger unsterblich verliebt hat. Einen, der, einer plötzlichen Eingebung folgend, nach Athen fährt, sich im teuersten Hotel einquartiert und es für eine glänzende Idee hält, ein paar Farbspraydosen zu kaufen und dann an jeder zweiten Fassade den Namenszug Roswitha als bunt gestyltes Graffiti zu hinterlassen, sozusagen als Geheimbotschaft an die Gesuchte. Einen, der eines Tages von einer Tramperin angesprochen wird, einer jungen Deutschen,