ich mich vor Schmerz zusammenkrümmte. Dann diesen Schrei, diesen kurzen, hellen Laut, der sich anhörte, als hätte Roswitha gelacht, einfach nur gelacht über diesen Idioten, der da vor ihr in die Knie ging und nach Luft rang. Danach, als ich mich wieder vorsichtig aufrichtete und tief durchatmete und schon die nächsten Tritte oder Schläge befürchtete, meine Verblüffung und Ratlosigkeit, weil ich Roswitha plötzlich nirgends mehr sehen konnte. Und schließlich, bei einem zufälligen Blick hinunter ans Flussufer, die reglose menschliche Gestalt zwischen den Steinen, kaum zu erkennen im Dunkel der Nacht. Das war alles. Das war die Wirklichkeit. Aber da übernahmen schon die Bilder in meinem Kopf das Kommando. Diese beschissenen, gottverdammten Bilder, die mich zum Mörder machten.
Bei ihrem Sturz hätte sich Roswitha ebenso gut sämtliche Knochen brechen können, das Rückgrat, das Genick. Auch tödliche Verletzungen innerer Organe wären denkbar gewesen. Oder ein letaler Schock. Es gibt so viele Ursachen, die zum Tod führen und die danach keinen derart grausamen, blutigen Anblick bieten. Ganz abgesehen von der Möglichkeit, dass sie, wie durch ein Wunder, nur mit ein paar Schrammen hätte davonkommen können. Aber nein, es musste unbedingt das Bild von Roswithas zerschmettertem Schädel sein und ihrer roten Haare, ihrer blutroten, blutgetränkten Haare in einer Blutlache, das meinen Kopf okkupierte.
Dieses Bild ließ mich nicht mehr los. Ich konnte nicht vor ihm davonrennen. Ich konnte es nicht mit Schlaftabletten vertreiben. Ich konnte es nicht auskotzen. Es fraß sich in mein Gehirn, setze sich fest, kapselte sich ein. Ein mieser, hässlicher Parasit.
Ich rechnete ständig mit meiner Verhaftung. Es war schließlich nicht schwer, eine Verbindung zwischen dem Mordopfer und mir herzustellen. Und wenn jemand wusste, dass sich Roswitha erst ein paar Stunden vor ihrer Ermordung Hals über Kopf von mir getrennt hatte und diese Information an die Kripobeamten weitergab, brauchten die nur mehr eins und eins zusammenzuzählen. Gut, ich konnte dann noch immer alles abstreiten. Aber was, wenn es einen Zeugen gab? Wenn irgendwer von der anderen Straßenseite aus den stillen Kampf zwischen mir und Roswitha beobachtet hatte?
Da war doch dieser Mann, mit dem Roswitha Harry’s Pub verlassen hatte. Er war zwar nach wenigen Augenblicken wieder zurück ins Lokal gegangen, aber konnte ich sicher sein, dass er nicht kurz darauf noch einmal herausgekommen war und alles gesehen hatte? Vielleicht nur zu spät, um einzugreifen und mich von meiner Tat abzuhalten? Zu erschrocken, zu fassungslos, um meine Flucht zu verhindern oder mich zu verfolgen? Aber trotz allem ein Augenzeuge, der mir mit einer genauen Täterbeschreibung bei der Polizei gefährlich werden konnte?
Doch nichts geschah. Keine Polizei, keine Befragung, keine Festnahme. Auch in den Zeitungen nicht eine Zeile. Kein einziges Wort über eine tote junge Frau, ein Verbrechen oder einen tragischen Unfall. Es war mir ein Rätsel. Kam die Polizei aus irgendeinem Grund mit ihren Ermittlungen doch nicht weiter? Hielt sie deshalb Informationen zurück? Dass man Roswithas Leiche mittlerweile noch nicht entdeckt hatte, war ja wohl höchst unwahrscheinlich.
Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.
Ich war so in meinen Vorstellungen gefangen, dass für mich alles andere bedeutungslos geworden war. Es fiel mir schon schwer genug, mir für Thomas eine plausibel klingende Lügengeschichte einfallen zu lassen. Dass ich das schaffte, erstaunt mich heute noch. Doch etwas anderes wundert mich überhaupt nicht: Das Unwetter, das über die Stadt hereingebrochen war, hatte ich völlig verdrängt.
Bereits während meiner Flucht hatten die ersten Blitze die Nacht erhellt. Und dann hatte der Himmel mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag seine Schleusen geöffnet, und ich war vom Regen völlig durchnässt gewesen, als ich endlich meine Wohnung erreicht hatte. Aber die Bilderflut und das Gewitter in meinem Kopf müssen noch heftiger gewesen sein, anders kann ich es mir nicht erklären, dass ich an den folgenden Tagen nie an die Wassermassen dachte, die in dieser Nacht stundenlang auf die Stadt niedergegangen waren.
Es war wie ein Befreiungsschlag, als ich mich endlich daran erinnerte. Klar, dachte ich, man hatte Roswithas Leiche tatsächlich noch nicht entdeckt. Durch das Unwetter war der Wasserstand der Salzach in kürzester Zeit um viele Meter gestiegen. Der friedliche Fluss hatte sich in einen breiten, reißenden Strom verwandelt und, wie schon so oft, alles mitgerissen, was an seinen Ufern nicht niet- und nagelfest verankert gewesen war.
Unglaublich, was bei Hochwasser so alles in den schlammig braunen Fluten treibt. Unmengen von Abfall. Plastiksäcke, Fahrradteile, Gummibälle, Kleidungsstücke. Manchmal tote Tiere. Vor allem aber alle Arten von Holz. Bretter, Pflöcke, entwurzelte Sträucher, Zweige, Äste, Baumstämme, sogar ganze Bäume, die mit ihren riesigen Wurzelstöcken aussehen wie vorsintflutliche Ungeheuer. Da war es doch nur logisch, dass sich der wild gewordene Strom auch Roswithas Leiche geholt hatte. Zuerst hatte er das Blut von den Steinen gespült, dann hatte er nach ihren Haaren gegriffen, schließlich war sie fortgerissen worden von der dreckigen Flut. War eine Zeit lang auf dem Wasser dahingetrieben, Treibgut zwischen anderem Treibgut, hatte sich in totem Geäst verfangen oder war von einem Strudel in die Tiefe gezogen worden. Und jetzt lag sie wohl auf dem Grund des Flusses, irgendwo weit weg, eingeklemmt, zusammengedrückt zwischen Baumstämmen, vielleicht verstümmelt bis zur Unkenntlichkeit.
Nicht, dass ich Roswitha so ein Ende gewünscht hätte. Mein Hass auf sie hatte rasch in Wut auf mich selbst umgeschlagen. Ich war wütend über die Situation, in die ich mich selber gebracht hatte. Wütend über meine unfassbare Unvernunft, angefangen bei meiner idiotischen blinden Liebe zu Roswitha bis hin zum völligen Wahnsinn, einen Mord zu begehen. Mein Herz hatte schon gewusst, was es tat, als es mich in jener Nacht nicht einschlafen ließ mit seinen wütenden Trommelschlägen: bambam-bambam-du-Arsch-du-Arsch!
Trotzdem muss ich zugeben, der Gedanke, oder vielmehr die Hoffnung, dass man Roswitha erst nach Wochen, Monaten oder möglicherweise überhaupt nie finden würde, erleichterte mich. Und irgendwann wurde aus der Hoffnung Gewissheit. So gesehen stimmte die Geschichte sogar, die ich später Thomas auftischte: Roswitha war spurlos verschwunden.
Aber die Bilder in meinem Kopf, die verschwanden nicht. Immer wieder tauchten sie unvermutet auf und quälten mich. Schon beim Anblick der Kaimauer begann ich zu zittern, mein Magen krampfte sich zusammen, kalter Schweiß lief mir übers Gesicht. Wann immer ich konnte, mied ich die Gegend und zwang mich zu Umwegen. Es dauerte lang, bis die Bilder ihre Wirkung verloren, bis sie verblassten wie alte Fotos. Und erst ein paar Jahre später, den Verkehrsplänen der Stadt und den Baumaschinen sei Dank, erinnerte mich am Kai endlich fast nichts mehr an den Unglücksort: keine viel zu niedrige Ufermauer mehr, an ihrer Stelle ein breiter Radweg den Fluss entlang, gut gesichert durch ein hohes Geländer. Harry’s Pub längst geschlossen. Dafür ein Lokal neben dem anderen und jede Nacht die Hölle los. Hunderte von Jugendlichen, Betrunkene, Randalierer, Polizei. Nein, so ein einsamer Kampf wie damals zwischen Roswitha und mir wäre gar nicht mehr möglich. Nur die Felsen, diese verfluchten schwarzen Felsen unten am Wasser, die liegen immer noch da.
Ich bin ein Mörder, der davongekommen ist, dachte ich. Nicht durch einen perfekt geplanten Mord, sondern einfach durch Zufall. Ich hatte Schwein gehabt.
Bis auf ein Kleinigkeit: Wer war der Mann, mit dem ich Roswitha gesehen hatte? Hatte er etwas gegen mich in der Hand, war er eine Gefahr für mich? Und wenn es so war, warum schwieg er, was hatte er vor? Auf welche Gelegenheit wartete er, wann würde er zuschlagen?
Doch je länger nichts passierte, desto sicherer wurde ich, dass meine Sorgen unbegründet waren. Alles war gut. Ich war schließlich kein Irrer wie Thomas, der überall nur Feinde sah. Ich musste nur noch lernen, mit meiner Schuld zu leben.
Und das gelang mir hervorragend.
Ich verfrachtete die tote Roswitha in den Keller meiner Seele. In den großen Tresor, in dem ich bereits meine toten Eltern abgelegt hatte, sicher verwahrt hinter einer Tür aus schwerem Panzerstahl. Niemand würde die Tote dort jemals finden, davon war ich überzeugt. Niemals würde sie mir gefährlich werden können. Nie wieder würde mich ihr Anblick erschrecken, wenn ich so klug war, den Tresor geschlossen zu halten. Kein Schuldgefühl, kein Pesthauch des Todes würden meine Erinnerung ans Leben vergiften. Ans Glück, das ich empfunden hatte, wenn Roswitha auf mir saß und vor Lust schrie und ihr Haar in der Morgensonne brannte. Was tot war, würde für immer bei den Toten bleiben, ich musste nur noch den Zifferncode vergessen, mit dem sich die Tresortür