die zu der Zeit als modernes Wohndesign galten. Eine Orgie aus gebogenem Stahlrohr, naturweißem Leinen, hellem Leder und rauchfarbenem Acrylglas. Ich konnte es mir ja leisten. Und Thomas fand es ganz einfach „unheimlich cool“ und strahlte übers ganze Gesicht. Ich bezweifle allerdings, dass es ihm wirklich gefallen hat. Er war wohl eher nur glücklich darüber, dass nun in der ganzen Wohnung wirklich überhaupt nichts mehr an unsere Eltern erinnerte.
Als Roswitha dann auch noch mit dem Vorschlag kam, die Wände doch ein bisschen bunter, kreativer, origineller zu gestalten, und gleich mit einem Dutzend Farbspraydosen anrückte, war Thomas völlig aus dem Häuschen. Ich war anfangs zwar etwas skeptisch, aber weil ich in meiner Verliebtheit letzten Endes alles großartig fand, was Roswitha tat, sah ich grinsend zu, wie sie und mein Bruder sich an den Wänden austobten und sie mit knallbunten Graffitis überzogen. Zuerst etwas ungeschickt, doch bald immer perfekter, wobei vor allem Roswitha ganz erstaunliche Kompositionen aus Farben und Formen zustande brachte.
Mein Talent hielt sich eher in Grenzen, wie ich nach ein paar kümmerlichen Versuchen feststellen musste. Und Thomas war meiner Meinung nach völlig unbegabt. Aber er war mit Feuereifer bei der Sache und fabrizierte wie in Trance einen hässlichen Farbfleck und einen wirren Krakel nach dem anderen. Also tat ich so, als würden mir seine Klecksereien gefallen, und Roswitha nannte ihn sogar „unser kleiner Henri Toulouse-Lautrec“ und erzählte Thomas von dem Franzosen, der trotz seiner Kleinwüchsigkeit eines der größten Malergenies gewesen war. (Ich bin übrigens davon überzeugt, das waren die Wurzeln von Thomas’ späterem Hirngespinst, ein großer Künstler zu sein.)
Doch nicht nur Thomas und Roswitha waren offensichtlich unheimlich happy, vor allem ich hatte das Gefühl, vor Glück fast platzen zu müssen. Mag sein, dass ich es mir nur einbildete, weil ich dachte, nach der ganzen Scheiße, die hinter mir lag, hätte ich eine Glückssträhne wirklich verdient. Oder dass ich bloß ausgehungert war nach Liebe, Unbeschwertheit und hemmungslosem Sex und deshalb nichts anderes im Sinn hatte, als all das mit Roswitha zu genießen, ungezügelt und blind vor Gier. Gut, vielleicht war ich ein Narr. Aber dann war ich ein glücklicher Narr.
Es war ja auch der reine Wahnsinn. Die Graffitis wucherten über die Wände, in der Wohnung hing ständig der Geruch von Farbspray, auf dem Küchenboden türmten sich die Schachteln vom Pizza-Express und vom Chinesen neben Coladosen und Rotweinflaschen, überall hingen oder lagen irgendwelche Kleidungsstücke herum, Roswithas Kunstgeschichtebücher und Skripten stapelten sich rund um unser Bett, und mitten in diesem laut Roswitha „herrlichen süditalienischen Chaos“ lebten wir auf Teufel komm raus. Das heißt, wir vögelten uns die Seele aus dem Leib, wann immer es ging.
Und wenn sie auf mir saß und sich wand und ihren Kopf vor- und zurückwarf und ihre rote Löwenmähne im Gegenlicht aussah, als würde sie brennen, dachte ich, die ganze Liebe und die ganze Lust, die es auf der Welt gibt, wären in diesem Augenblick nur für uns allein entflammt. In diesem Rot, diesem Vulkan von Rot, in dem ich am liebsten verglüht wäre. Gott, war ich verrückt nach diesem Haar!
Ich war regelrecht süchtig nach Roswitha und konnte es kaum erwarten, dass sie von der Uni nachhause kam oder eine Pause einlegte, wenn sie über einer Seminararbeit saß. Um wenigstens in ihrer Nähe zu sein, wenn ich nicht mit ihr schlafen konnte, ließ ich sogar das Jusstudium sausen, inskribierte Kunstgeschichte und hing mit Roswitha in Vorlesungen herum, von denen ich höchstens ein Zehntel verstand. Oder ich assistierte bereitwillig, indem ich ihr die Spraydosen reichte, wenn sie sich wieder einmal gemeinsam mit Thomas an einer Zimmerwand künstlerisch verwirklichte. Und ich fand alles witzig, was sie witzig fand, und bog mich vor Lachen, wenn sie sich vor Lachen krümmte. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel gelacht.
Wir lachten über alles. Über unsere ungesunden Essensgewohnheiten und dass keiner von uns imstande war, in unserer Luxusküche etwas Vernünftiges zu kochen. Über zerbrochene Gläser und in der Waschmaschine verfärbte Wäschestücke. Über jede neue Stellung, die wir im Bett ausprobierten. Und sogar als wir bemerkten, dass sich Thomas mit seinen inzwischen fünfzehn Jahren offenbar ebenfalls in Roswitha verknallt hatte, fanden wir das nur unglaublich amüsant. (Diese hilflose Verliebtheit war übrigens neben der kicksenden Stimme und der unreinen Haut das einzige Zeichen seiner beginnenden Pubertät, die Wachstumshormone hingegen streikten nach wie vor.)
Es war fast rührend, als er einmal verträumt zu uns sagte: „Ihr seid vollgeil.“ Und sich nach kurzem Nachdenken verbesserte: „Wir sind vollgeil!“ Und gleich darauf verlegen: „Ich meine, unser Leben und so.“
Doch ein anderes Mal beobachteten wir ihn, wie er sich ins Badezimmer schlich, von einem Haufen Schmutzwäsche einen von Roswithas Slips klaute, verzückt an ihm schnüffelte, ihn an sein pickeliges Gesicht drückte und dann schnell damit in sein Zimmer verschwand.
Und mehr als einmal verriet uns sein kaum unterdrücktes Stöhnen, dass er in der Nacht vor unserer Schlafzimmertür stand und uns belauschte. Auf meine Frage, ob sie das stören würde, meinte Roswitha nur: „Was soll der Kleine denn sonst machen? Irgendwie muss er sich ja abreagieren.“ Dazu kicherte sie und machte eine eindeutige Handbewegung. „Lass ihm doch seinen Spaß!“ Und dann lachten wir und probierten wieder eine neue Stellung aus, und obwohl Roswitha meilenweit von einem Orgasmus entfernt war, stieß sie ganz besonders laute Lustschreie aus.
Am Morgen darauf, wenn Thomas wieder blass und unausgeschlafen am Frühstückstisch saß und lustlos an einem kalten Stück Pizza vom Vortag kaute, wuschelte ihm Roswitha einfach grinsend die Haare, fragte scheinheilig „Na, was Schönes geträumt heut Nacht?“ – und schon strahlte er übers ganze Gesicht.
Es gab aber auch Zeiten, in denen wir getrennt waren. Wenn Roswitha an einer kunsthistorischen Exkursion teilnahm oder auf eigene Faust irgendwelche Tizians, Tintorettos und Archimboldos im Original studieren wollte. Doch da war sie dann immer nur ein paar Tage weg, das war auszuhalten.
Schlimmer waren die Weihnachts- und Sommerferien. Die verbrachte Roswitha regelmäßig bei ihrer Familie in Südtirol und wollte partout nicht, dass ich sie begleitete. „Das bisschen Abstand tut uns nur gut“, sagte sie. „Das hält die Beziehung frisch.“
Es war zwar jedes Mal eine echte Durststrecke, aber Roswitha hatte Recht: Immer wenn sie wiederkam, liebte ich sie ein bisschen mehr. Das galt auch für Thomas, der während Roswithas Abwesenheit stets noch missmutiger und gelangweilter als ich in der Wohnung herumgesessen war, stundenlang zwischen den Fernsehkanälen herumgezappt oder die Zeit totgeschlagen hatte, indem er an die Wände seines Zimmers mit Filzstift Zeichnungen und Sprüche kritzelte, die man sonst nur in öffentlichen Toiletten findet. Irgendwann gekrönt von einem riesigen, knallbunten, gar nicht so ungeschickt gesprayten FUCK! über seinem Bett. Und Roswitha fand es großartig und lachte.
Fuck! Fuck! Fuck!
Auf den Tag genau drei Jahre, nachdem ich Roswitha auf dem Studentenfest kennengelernt hatte, hätte auch ich dieses Wort am liebsten auf alle Wände geschmiert. Fassungslos, empört, wütend.
Fuck! Fuck! Fuck!
Mir war das Lachen vergangen. Auf einen Schlag.
Ein paar Tage zuvor hatte Roswitha mir strahlend mitgeteilt, dass sie ihr letztes großes Examen bestanden habe. Und zwar mit Bravour! (Ich muss zugeben, ich hatte von ihrem Prüfungstermin überhaupt nicht gewusst, entweder hatte ich ihn vergessen, oder Roswitha hatte ihn vor mir aus irgendeinem Grund geheim gehalten.)
Ihr Erfolg und unser dritter Jahrestag – gleich zwei Anlässe zum Feiern, hatte ich gedacht und wollte sie mit einem richtig schönen Festessen überraschen. Zur Abwechslung einmal kein Chinesenfutter, keinen Italienerfraß. Sondern Kaviar, Lachs, Wachteleier und was es sonst noch so an Köstlichkeiten gibt. Und natürlich kam nur Champagner in Frage. Also hatte ich den halben Tag sämtliche Delikatessenläden der Stadt abgegrast und alles eingekauft, was gut und teuer war. Je teurer desto besser, denn schließlich sollte es ja die perfekte Überraschung werden.
Doch als ich mit Einkaufstüten bepackt nachhause kam, war ich es, der eine Überraschung erlebte. Eine Überraschung der anderen Art. Eine Überraschung, die mir das Blut in den Kopf trieb, mir die Kehle zuschnürte und meine Knie schwach werden ließ: Roswitha war fort.
Zuerst spürte