klaffende Wunde, und dann hatte ich mich auf die Wiese gelegt und gestöhnt und geflüstert, ich würde verbluten, und Thomas war prompt darauf hereingefallen, hatte mich zuerst entsetzt angesehen und war dann erbärmlich heulend zu unserer Mutter gerannt. Mammi! Mammi! Mammiiii!
Und jetzt würde ich ihn wieder erschrecken, weil er mich aus dem Schlaf gerissen hatte, Strafe muss sein. Und hinterher auf ein Bier, ein Bier unter Brüdern, oder zwei oder drei, und dann würde alles prima sein zwischen uns, alles wieder bestens, alles paletti, und keine Probleme, weit und breit keine Probleme, und scheiß auf Tanja. Shit happens.
Heute weiß ich, in einem Punkt, aber auch nur einem einzigen, war es sogar die Realität, die mir von der bunten Blase vorgegaukelt wurde: Meine wirklichen Probleme hatten noch gar nicht begonnen.
Unter normalen Umständen benötigt man für die Fahrt zum Krankenhaus nicht mehr als zwanzig Minuten, ich musste mindestens zwei Stunden unterwegs gewesen sein. Jedenfalls begann der Himmel schon hell zu werden, als ich meinen Wagen einfach vor dem Schranken an der Einfahrt ins Krankenhausgelände abstellte und ausstieg. Der Mann, der mich durch die Scheibe der Portierloge giftig anstarrte und brüllte, mein Wagen würde die Zufahrt behindern und ich solle mit diesem Schrotthaufen gefälligst woandershin fahren, und zwar augenblicklich, sonst würde er die Polizei rufen, kümmerte mich nicht im Geringsten. Ich fand ihn sogar amüsant und wollte noch zu ihm sagen: „Ein bisschen viel Stress heute, wie? Jede Menge Kundschaft!“ Ich wollte ihn freundlich anlächeln, ihm aufmunternd zuwinken, wollte ihm –
In dieser Sekunde fiel die Blase in sich zusammen. Platzte nicht, zerriss nicht mit einem Knall in tausend Teilchen, sondern fiel einfach in sich zusammen. Kraftlos und mit einem leisen, klagenden Ton, einem erstickten, kaum hörbaren Seufzen. Schrumpfte, presste sich an meinen Körper, klebte wie feuchter Latex auf meiner Haut, verlor ihre bunt schillernden Farben und wurde hart, schwarz und eiskalt.
Wie ich mich fühlte, als ich wieder zu mir kam, dafür gibt es eigentlich nur ein Wort: wie ausgekotzt.
Ich lag flach ausgestreckt auf dem Rücken und bewegte mich trotzdem vorwärts, mit den Beinen voraus. Auf meiner Stirn türmte sich etwas Weißes, Weiches, Wattiges, das auch meine Augen fast zur Gänze bedeckte, so dass ich die Lichtflecken, die weit über mir wie eine endlose Kette kleiner Sonnen dahinzogen, nur durch einen milchig trüben Schleier wahrnehmen konnte. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff: Ich wurde auf einer Transportliege durch einen Krankenhausgang geschoben und schließlich irgendwo abgestellt. Und dann sagte jemand, dass alles in Ordnung sei und dass sich gleich ein Arzt um mich kümmern werde, aber dass ich mich ein wenig gedulden müsse.
Es brannte und pochte ein bisschen unter dem weißen, flauschigen Berg auf meiner Stirn, doch es war auszuhalten. Wenn ich meinen Kopf bewegte, wurden die Schmerzen stärker, also blieb ich lieber ganz ruhig liegen, hielt die Augen geschlossen und versuchte, mich auf die Geräusche rund um mich herum zu konzentrieren.
Aus dem gedämpft auf- und abschwellenden Stimmengewirr schloss ich, dass ich mich mit ziemlich vielen Menschen gemeinsam in einem Raum befinden musste. Türen wurden aufgestoßen, Schritte kamen näher und entfernten sich wieder, immer häufiger hörte ich die leise quietschenden Räder von Liegen, die an mir vorbeigeschoben wurden, jemand hüstelte und stöhnte, ein Kind weinte und rief nach seiner Mama.
All das hörte ich und hörte es gleichzeitig auch nicht. Alles war ganz weit weg. Unwirklich. Als hätte ich einen Radiosender falsch eingestellt gehabt, so dass nur noch verzerrte Tonfetzen und verstümmelte Sätze zu vernehmen waren, überlagert von lautem Rauschen.
Vielleicht war es mein Kreislauf, oder man hatte mir irgendeine Spritze gegeben zur Beruhigung oder gegen die Schmerzen, was weiß ich, jedenfalls war da dauernd dieses Rauschen in meinen Ohren, wie ein akustisches Sperrfeuer. Außerdem war mir kalt, eiskalt, obwohl man eine Decke über mich gebreitet hatte. Aber vor allem war ich müde. Unendlich müde.
Wenn bloß das Kind aufhören würde zu weinen und nach seiner Mama zu rufen, dann könnte ich schlafen, dachte ich. Bitte sagt diesem Kind doch, dass es endlich still sein soll.
Jemand hob kurz den Berg von meiner Stirn und sagte: „Muss genäht werden.“ Jemand anderer sagte: „Eispatient. Unter Schock selber hierher gefahren.“ Jemand berührte mich an der Schulter und sagte: „Dauert nicht mehr lang.“ Das Kind weinte. Mama Mama Mama.
Ich wusste jetzt, wo ich mich befand. Ich wusste, dass ich verletzt war. Aber wie es dazu gekommen war, wusste ich nicht. Ich versuchte, mich durch das Rauschen rückwärts zu bewegen, irgendeine Spur zu finden. Woher kam diese Kälte? Warum wollte ich nur schlafen, einfach nichts als schlafen? Und wieso lag ich nicht zuhause in meinem Bett?
Mama Mama Mama. Am liebsten hätte ich dieses Kind umgebracht. Immer heulten Kinder. Immer riefen sie nach Mama, wenn sie nicht mehr weiterwussten. Oder nach Papa. Oder nach dem großen Bruder.
Nicht einmal hier ließen sie einen in Ruhe. Nicht einmal, wenn man halb tot war, nahmen sie Rücksicht. Es reichte gerade einmal für ein: „Scheiße, Markus, was ist denn mit dir passiert?“
Die Stimme meines Bruders. Ganz nah an meinem Ohr. Diese hohe, schrille Stimme, die immer viel zu laut war.
Verzieh dich, Thomas, dachte ich. Lass mich in Frieden.
Aber wenn ich meinte, die Stimme meines Bruders würde ebenso plötzlich wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht war, irrte ich mich gewaltig.
„Tanja liegt jetzt im ersten Stock in der Intensiv“, sagte er, und das Rauschen wurde lauter und lauter, aber nicht laut genug, um die Worte zu übertönen.
„Man weiß nicht, ob sie durchkommt.“
Mama Mama Mama.
„Vielleicht stirbt sie.“
Mama Mama Mama.
„Alles nur wegen diesem Scheißtyp, der ihr das angetan hat.“
Mama Mama Mama.
„Ich finde ihn, hörst du, ich finde dieses Dreckschwein, das sie damals vergewaltigt hat. Und dann muss er dafür bezahlen. Aber du musst mir dabei helfen, Markus. Du hilfst mir, ja? Bitte hilf mir, Markus.“
Mama Mama Mama.
Haltet endlich das Maul, dachte ich. Haltet endlich ein für alle Mal eure verdammten Fressen, alle beide. Ich will das alles nicht hören, versteht ihr? Lasst mich in Ruhe, lasst mich endlich schlafen.
Und in diesem Moment erinnerte ich mich, dass mich mein Bruder doch erst kürzlich schon einmal am Schlafen gehindert hatte mit seiner Tanjageschichte, die mich nicht im Geringsten interessierte: Mitten in der Nacht hatte er mich wegen ihr geweckt, und ich war beinahe sicher, dass ich nur deshalb hier gelandet war, und ich war stinksauer auf ihn.
Doch dann kam Gott sei Dank jemand und sagte, jetzt sei gleich alles überstanden, und ich wurde in einen anderen Raum geschoben und spürte einen Stich in den Unterarm, und dann wurde mir endlich ein bisschen warm und das Rauschen hörte auf, und jemand sagte, ich solle von zehn rückwärts zählen, aber ich glaube, bei acht war ich schon eingeschlafen.
2
Eines will ich gleich einmal klarstellen: Ich erzähle diese Geschichte nicht, um mein Gewissen zu erleichtern oder damit man mir vergibt. Wer könnte mir schon vergeben, wer hätte das Recht, über Schuld oder Unschuld ein Urteil zu fällen? Ganz bestimmt nicht die junge Psychotherapeutin, die jeden Tag eine Stunde lang an meinem Bett sitzt, mir aufmerksam zuhört und sich gewissenhaft in ein kleines Buch Notizen macht, während ich rede und rede und rede.
Frau Doktor Freud – so nenne ich sie für mich, weil ich mir ihren richtigen Namen einfach nicht merken kann – wird vom Krankenhaus bezahlt, sie gehört sozusagen zum All-inclusive-Angebot für Krebspatienten, die in der Sonderklasse liegen. Aber was ich zu sagen habe, scheint sie wirklich zu interessieren, denn seit einiger Zeit besucht sie mich öfter, als sie müsste, manchmal am Wochenende, manchmal spätabends nach ihrem Dienstschluss.