Manfred Koch

Kaltfront


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und ihn für vieles hielt, für ein schräges Original, für einen kompletten Spinner, für das sympathisch überdrehte Galerie-Faktotum, für alles, nur nicht für einen Künstler. Und obwohl er nie lange anhielt, manchmal nur bis zum nächsten Morgen, vergönnte ich ihm diesen Rausch. Denn, verflucht noch einmal, Thomas war mein kleiner Bruder, und das wird er immer bleiben, auch dann, wenn ich vor ihm sterbe.

      Claudia fand es immer falsch, dass ich mich so für Thomas einsetzte. Sie meinte, er würde bloß meine Gutmütigkeit ausnutzen, weil das für ihn klarerweise viel bequemer sei, als zu lernen, endlich auf eigenen Beinen zu stehen und erwachsen zu werden. Aber vor allem würde er dem Ansehen der Galerie schaden.

      Natürlich hatte sie Recht. Natürlich wusste ich, dass Thomas ein Versager war, der sich hinter einer Mauer aus absonderlichen Gedanken verschanzt hatte und im Leben nur mit meiner Hilfe halbwegs zurechtkam. Aber ich wusste, oder besser, ich ahnte eben auch, warum er so geworden war. Doch jeder Erklärungsversuch prallte an Claudia ab. Ich versuchte es immer und immer wieder. Keine Chance. Für Claudia blieb Thomas nichts als ein kleiner Schmarotzer. Und vor allem ein Freak, ein verrückter Freak.

      Claudia konnte sich einfach nicht vorstellen, wie es ist, ein Dreizehnjähriger zu sein. Ein durchschnittlich intelligenter, durchschnittlich verwöhnter, durchschnittlich glücklicher Dreizehnjähriger, dessen einzige Auffälligkeit bisher darin bestand, dass er mit elf Jahren auf einmal zu wachsen aufgehört hatte. Ein eins fünfundvierzig großer Dreizehnjähriger, bei dem man annahm, seine Wachstumshormone würden im Laufe der Jahre ganz von selbst wieder aktiv werden und ihn dann in einem plötzlichen Schub emporschießen lassen. Ein Dreizehnjähriger, dem es zunächst nichts auszumachen schien, dass er im Vergleich zu seinen Altersgenossen ein Zwerg war. Ein Dreizehnjähriger, dessen durchschnittliches Leben in einer durchschnittlichen Familie sich dann aber von einer Sekunde auf die andere in nichts auflöste.

      Ich war dabei, als es passierte. Nicht, dass ich es in diesem Augenblick schon begriffen hätte, dafür war ich selber noch viel zu verstört. Erst eine Stunde zuvor hatten zwei Polizeibeamte an unserer Wohnungstür geläutet und mir mitgeteilt, dass unsere Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen seien. Hatten mir etwas über ein riskantes Überholmanöver unseres Vaters erzählt, über einen Sattelschlepper, der nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, über einen Frontalzusammenstoß und über ein völlig ausgebranntes Wrack.

      Und weil ich mich zunächst geweigert hatte, diese Nachricht zu glauben – denn wie konnte man mit solcher Sicherheit behaupten, dass es sich bei dem Unfallauto tatsächlich um den BMW unseres Vaters und bei den beiden fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Toten um unsere Eltern handelte –, waren die Beamten noch mit mir im Wohnzimmer gesessen und hatten ein paar der Details geschildert, anhand deren die Toten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Margot und Josef Steinfelder identifiziert worden waren, eindeutige Indizien, auch wenn die endgültigen gerichtsmedizinischen Untersuchungsergebnisse noch ausstanden. Und ausgerechnet während dieser schonungslosen Konfrontation mit der ganzen grausamen Wahrheit war Thomas von der Schule nachhause gekommen.

      Keiner von uns hatte ihn bemerkt. Er musste eine geraume Zeit hinter der halb geöffneten Tür gestanden sein und hatte unser Gespräch belauscht. Hatte all die schrecklichen Dinge gehört, die nicht für seine Ohren bestimmt gewesen waren. Und als er dann plötzlich ins Zimmer kam, war es zu spät, um ihm möglichst behutsam zu erklären, was geschehen war.

      Ich werde nie den Ausdruck seines Gesichtes vergessen. Wie soll ich es beschreiben? Etwas unglaublich Erschrockenes, Verletztes, zutiefst Empörtes lag in seinen Zügen, als hätte ihn jemand ins Gesicht geschlagen. Er stand stumm in der Tür. Er sah mich an. Er sah die Polizisten an. Er sah wieder mich an. Wir blickten ihn an. Wir schwiegen. Vier, fünf Sekunden, vielleicht zehn. Unendlich lange Sekunden, erfüllt von Atemlosigkeit, Anspannung und Entsetzen, als würden wir auf Tretminen stehen. Und dann nickte Thomas nur, sagte kein Wort, drehte sich um und verschwand in sein Zimmer.

      Den Polizisten stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als ich ihnen versprach, ich würde selber mit meinem Bruder reden und alles tun, um seinen Schock zu mildern. Aber versuchen Sie einmal, mit jemandem zu sprechen, der sich in seinem Zimmer eingesperrt und die Stereoanlage auf volle Lautstärke aufgedreht hat. Dröhnende Bässe, den ganzen Nachmittag nichts als hämmernde, dröhnende Bässe. Ich ließ ihn gewähren, denn, um ehrlich zu sein, der Sound war genau richtig, um auch in meinem Kopf das Chaos zu betäuben. Bloß gegen meine Verzweiflung konnte er nichts ausrichten und gegen den Schmerz, der von Minute zu Minute stärker wurde und mir die Tränen in die Augen trieb, bis ich schließlich nur noch hilflos auf dem Sofa lag und Rotz und Wasser heulte.

      Von mir aus hätte das Hämmern der Bässe ewig so weitergehen können. Nur nicht denken müssen, nur nicht realisieren müssen, dass ich unsere Eltern nie wieder sehen würde, dass sie einfach verschwunden waren. Aber irgendwann schaltete Thomas die Anlage ab und dann stand er auf einmal vor mir, blass und verschwitzt, und flüsterte in einem fort drei Sätze, als hätte er sie auswendig gelernt:

      „Versprich mir, dass ich nicht in ein Heim muss. Versprich mir, dass wir zusammenbleiben. Versprich mir, dass du mich nicht auch noch verlässt.“

      Immer wieder nur diese drei Sätze. Wie eine Zauberformel. Wie eine Beschwörung.

      „Klar“, sagte ich. „Versprochen. Verlass dich drauf. Großes Indianerehrenwort.“

      Mehr als dieser dumme Spruch fiel mir nicht ein in meinem Zustand. Auch später nicht, in den folgenden Tagen und Wochen. Noch nie hatte ich mich so abgrundtief elend gefühlt, noch nie so ausgehöhlt, noch nie so unfähig, auch nur einen einzigen vernünftigen Gedanken zu fassen. Und deshalb war ich in Wirklichkeit auch gar nicht in der Lage, mich um Thomas zu kümmern. Ich war wie betäubt, erstarrt unter einer Kruste aus Fassungslosigkeit, Trauer und Wut.

      Auf die anderen Menschen machte ich aber offenbar den Eindruck, alles im Griff zu haben. Niemand schien zu bemerken, dass ich in Wahrheit wie ferngesteuert agierte. Ich hätte auch überhaupt keine Chance gehabt, zur Besinnung zu kommen. Auf einmal waren unglaublich viele Leute da, die auf mich einredeten und sich um alles kümmerten, was getan und geregelt werden musste. Ständig tauchten Verwandte und Freunde unserer Eltern auf, um die Dinge in die Hand zu nehmen, wie sie erklärten. Dauernd kamen Vertreter irgendwelcher Behörden und Gerichte, die plötzlich für unsere Zukunft zuständig waren, besonders für die meines Bruders.

      Mich hat das alles nicht interessiert. Das ganze Mitleidsgefasel, der Begräbniszirkus, die Erbschaftsscheiße und all die Wichtigtuer mit ihren amtlichen Dokumenten, die sie mir unter die Nase hielten. Ich habe einfach zu allem ja gesagt, habe alles unterschrieben, egal, was es war. Alles unwichtig. Meine Eltern hat es nicht wieder lebendig gemacht. Und auch nicht die Bilder vertrieben, die in meinem Kopf entstanden waren und sich dort festgekrallt hatten. Den Feuerball und die beiden zusammengekrümmten, verkohlten Toten, die mich bis in den Schlaf verfolgten, eine fiebrige Bewusstlosigkeit, in die ich zwischendurch immer wieder fiel, erschöpft von Weinkrämpfen und lähmender Trauer.

      Und eines Morgens wachte ich auf und alles war vorbei. Etwas in mir hatte den Tod meiner Eltern akzeptiert, hatte von ihnen Abschied genommen, hatte sich mit den Tatsachen abgefunden. Es war, als hätte ich in diesen Wochen mein ganzes Reservoir an Trauer restlos ausgeschöpft. Jedenfalls habe ich seither nie wieder geweint. Um nichts und niemanden.

      (Ich denke, meine Frau Doktor Freud hat dafür vermutlich eine ganz andere, komplizierte, hochwissenschaftliche Erklärung. Aber die kann sie sich sonst wohin stecken.)

      Schön langsam begann ich mich mit der Situation anzufreunden, in der ich mich nun befand. Ich muss sagen, sie war gar nicht so schlecht. Unsere Eltern waren mit ihrer Unternehmens- und Wirtschaftsberatungskanzlei äußerst erfolgreich gewesen, hatten einen Haufen Geld verdient und Thomas und mir ein kleines Vermögen hinterlassen. Dazu zwei hohe Lebensversicherungen, Vaters geliebtes VW-Cabrio und außerdem die riesige Eigentumswohnung in bester Lage am Stadtrand. Selbst nach Abzug der Erbschaftssteuer mussten wir uns für viele Jahre nicht die geringsten finanziellen Sorgen machen. Deshalb war mir auch vom Gericht ohne Bedenken die Obsorge für meinen Bruder übertragen worden, so dass ich ohne mein Zutun das Versprechen halten konnte, das ich ihm im Zustand völliger Verwirrung gegeben hatte: Wir blieben zusammen