Manfred Koch

Kaltfront


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jünger als ich, und dass sich seine Stimme am Telefon angehört hatte, als würde ihm jemand den Hals zudrücken oder als wäre er völlig besoffen, während er mir irgendwas über einen Medikamentencocktail, haufenweise leere Pillenpackungen, aufgeschnittene Pulsadern und blutgetränkte Bettwäsche erzählte. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass ich den Fehler beging, sofort aufzustehen, mich anzuziehen, ins Auto zu setzen und loszufahren, statt mein Handy auszuschalten und weiterzuschlafen, notfalls mit einer Schlaftablette und einem Schluck Weinbrand.

      Am Abend zuvor war in der Wettervorhersage von einer arktischen Kaltfront die Rede gewesen, von nächtlichen Regenschauern und einem unmittelbar darauf folgenden Temperatursturz. Doch als ich mich daran erinnerte, war es bereits zu spät. Jetzt waren die Straßen spiegelglatt, und schon in der ersten, leicht abschüssigen Kurve ein paar hundert Meter nach unserer Garagenausfahrt machte mein Wagen nicht mehr, was ich von ihm wollte. Er reagierte auf nichts, alle meine Lenkmanöver, Brems- und Beschleunigungsversuche waren vergeblich. Andere Kräfte hatten das Kommando übernommen und bestimmten, was geschah.

      Ich hatte immer gedacht, in so einer Situation würde mich Angst überfallen, Entsetzen oder Panik. Aber es war ein ganz anderes Gefühl, das sich wie in einer lautlosen Explosion in mir ausbreitete. Eine Mischung aus Fremdheit und Neugier, die mich in einen Zustand hellster Wachheit katapultierte und zum ungerührten Beobachter werden ließ. Als hätte ich alles, was in einem Zeitraum von wenigen Sekunden geschah, präzise protokollieren und auf einer Checklist Punkt für Punkt abhaken müssen:

      Das Blockieren der Räder. Das immer schneller werdende Seitwärtsgleiten über das Eis. Das Ausbrechen des Hecks, zuerst nach rechts, dann nach links, dann wieder nach rechts. Das ruckartige Anschlagen an der Gehsteigkante, den Rückstoß und die halbe Drehung um die eigene Achse. Das kurze Aufjaulen des Motors. Die rasende Rückwärtsbewegung, als säße ich verkehrt herum in einer Hochschaubahn. Den dumpfen Aufprall an der Reihe von Mülltonnen am Straßenrand. Den Schlag auf meinen Hinterkopf, der meinen Oberkörper nach vorn schleuderte. Den Rückspiegel, der immer größer und größer wurde. Die schneidende Kälte von Glas und Metall auf meiner Stirn. Und dann die Stille.

      Möglich, dass ich für kurze Zeit das Bewusstsein verlor. Ich weiß es nicht. Dafür erinnere ich mich umso genauer an den ersten Gedanken, der mir durch den Kopf schoss: Gut, dass ich nicht den Lexus genommen habe.

      Es klingt verrückt, aber genau so war es. Ich saß da und war erleichtert, dass mein wunderbarer, mitternachtsblauer Lexus unversehrt in der Garage stand. Nicht darüber, dass ich offenbar unverletzt geblieben war, weil ich keine Schmerzen spürte, empfand ich Erleichterung. Auch nicht darüber, dass ich kein anderes Fahrzeug gerammt hatte und von den Mülltonnen davor bewahrt worden war, ungebremst und mit voller Wucht gegen eine Betonmauer zu prallen. Und schon gar nicht über das Glück, dass um diese Zeit kein Fußgänger unterwegs gewesen war, den ich über den Haufen hätte fahren können, oder sogar töten. All diese Gedanken stellten sich erst viel später ein. Jetzt drehte sich alles nur um meinen Lexus, meine geliebte, nagelneue Limousine, die ich mir vor ein paar Wochen selber zu Weihnachten geschenkt hatte.

      Wie klug es doch von mir gewesen war, den alten VW-Käfer zu nehmen, dachte ich. Wie unglaublich überlegt ich gehandelt hatte, als ich mich für den Käfer entschied, das weiße Cabrio mit dem Stoffdach und den chromglänzenden Stoßstangen, das mir mein Vater hinterlassen hatte und mit dem ich sonst nur an heißen Sommertagen zu irgendeinem See fuhr. Das Spaßauto aus den Sechzigerjahren, in dem es noch keine Airbags gab und keine Warnanlage, die einen mit nervtötenden Signalen zwang, Sicherheitsgurte anzulegen. Und bei dem ich ein paar Blechbeulen oder Kratzer im Lack problemlos selber reparieren konnte. Beim Lexus hingegen hätte mich das ein Vermögen gekostet. Wirklich gut, dass ich nicht den Lexus genommen habe.

      Ich war richtiggehend stolz auf mich. Als hätte ich bereits beim Einsteigen gewusst, dass es zu diesem Unfall kommen würde. Als hätte ich einen Plan gehabt, der exakt so aufgegangen war, wie ich es mir vorgenommen hatte. Und auf einmal fühlte ich mich unglaublich stark. Mir konnte nichts passieren. Ich war überlegen, hatte alles im Griff. Ich war unverwundbar.

      Der Motor tuckerte immer noch vor sich hin. Ich legte den Rückwärtsgang ein und manövrierte den Wagen vorsichtig retour auf die Straße. Zwei Mülltonen waren umgekippt, ihr Inhalt war über die halbe Fahrbahn verstreut, und die aufgeplatzten Plastiksäcke, halbleeren Verpackungen und verfaulenden Speisereste waren jetzt eine ideale, griffige Unterlage für die Reifen und verhinderten, dass die Räder auf dem Eis durchdrehten. Es knirschte und schmatzte und rumpelte, während ich langsam zurücksetzte. Vom linken Vorderrad kam ein schleifendes, kreischendes Geräusch, vermutlich war der Kotflügel eingedrückt, auch der Kofferraumdeckel war irgendwie verzogen, aber davon abgesehen war der Käfer offensichtlich fahrtüchtig. Ein Grund mehr für meinen Adrenalinspiegel, noch ein bisschen höher zu steigen.

      Jetzt wäre die beste Gelegenheit gewesen, doch noch umzukehren und den Wagen zurück in die Garage zu stellen. Niemand hätte mir einen Vorwurf machen können, wenn ich mich wieder ins Bett gelegt hätte. Aber das kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Es fiel mir ja nicht einmal ein, auszusteigen und nachzuschauen, wie groß der Schaden tatsächlich war, den ich angerichtet hatte. In meinem Gefühl von Allmacht scherte ich mich um nichts, verließ einfach die Unfallstelle und setzte meine Fahrt fort.

      Ich fuhr im Schritttempo. Nicht, weil mich eine plötzliche Anwandlung von Vernunft und Vorsicht übermannt hätte, sondern weil irgendwas mit der Gangschaltung nicht stimmte. Außer dem Rückwärtsgang konnte ich nur noch den ersten Gang einlegen. Und so schlich ich durch die Stadt, mit einem jammernden Vorderrad, das ans eingebeulte Blech schlug, mit nur einem Scheinwerfer, in dessen Lichtkegel die Eisschicht auf dem schwarzen Asphalt aufblitzte, beide Hände ums Lenkrad geklammert, weil der Wagen beharrlich nach links zog, aber mit einer beinahe festlichen Hochstimmung im Kopf, leicht und perlend wie Champagner.

      Im Gegensatz zu den meisten Menschen, mit denen ich damals zu tun hatte, war ich nie an irgendwelchen Drogen interessiert. Abgesehen von ein paar Joints, die ich in meiner Jugend geraucht hatte und von denen mir nur übel geworden war. Dabei hätte ich oft genug Gelegenheit gehabt, problemlos an die wirklich harten Sachen heranzukommen. Im Hinterzimmer der Galerie, die meine Frau und ich im Kaiviertel betrieben, wurde manchmal gekokst, dass es nur so eine Freude war. Das scheint in der Kunstszene so üblich zu sein, bei den Künstlern und noch viel mehr bei der reichen Kulturschickeria, für die das offenbar zum Lifestyle gehört. Mir war schon immer ein guter, alter Rotwein lieber. Oder ein edler Calvados. Aber ich vermute, so, wie ich mich fühlte, während ich im Schneckentempo durch die Stadt fuhr, genau so muss es sein, wenn man high ist.

      Ich fand alles großartig. Die weiße Festung vor dem tiefschwarzen Nachthimmel und zu ihren Füßen die Altstadthäuser und Kirchtürme und Kuppeln, die sich an den Mönchsberg drängen wie die Ferkel an die Muttersau, diese weltberühmte Kulisse, deren Anblick mich sonst schon seit Jahrzehnten nur noch langweilte, entlockte mir plötzlich Begeisterungsschreie. Wow! Oh, wow! Ein alter Mann, der sich an einer Hauswand abstützte, ängstlich einen Fuß vor den anderen setzte und schließlich doch ausglitt und rücklings hart auf dem Eis aufschlug, war einfach nur zum Brüllen komisch. Die zwei ineinander verkeilten Taxis und die aufgeregt gestikulierenden Fahrer waren der Witz des Jahrhunderts. Und als das Folgetonhorngeplärr der Rettungsfahrzeuge immer öfter zu hören war, plärrte und jaulte ich jedes Mal voll Vergnügen mit.

      Alles war wunderbar. Ich war wunderbar. Das ganze Leben war wunderbar. Völlig unverständlich, dass irgendwer irgendwelche Probleme haben konnte. Kein Problem, dass die letzte Ausstellung in unserer Galerie ein Flop war, es war doch nicht der erste. Kein Problem, dass Claudia und ich uns deswegen vor zwei Tagen heftig gestritten hatten und sie es vorzog, im Gästezimmer zu schlafen, das kommt schließlich in den besten Ehen vor. Probleme existieren nicht, und wenn jemand meint, sich trotzdem unbedingt umbringen zu müssen, bitte schön, nur zu.

      Es war, als befände ich mich in einer riesigen, bunt schillernden Blase. Wohlbehagen, nichts als Wohlbehagen. Daran änderte sich auch nichts, als ich irgendwann bemerkte, dass mir etwas Warmes von der Stirn über die Nase rann. Es fühlte sich klebrig an und schmeckte nach Blut.

      Und da musste ich erst recht lachen, weil mir einfiel, wie ich meinen Bruder einmal fast zu Tode erschreckt hatte. Er muss damals vier