Wort. Diese ganze erbärmliche, kranke Scheiße. Und mir ist klar, dass mich das jetzt ziemlich mies ausschauen lässt, milde ausgedrückt. (Was Frau Doktor Freud von mir dächte, wenn ich es ihr erzählen würde, möchte ich erst gar nicht wissen.)
Egal. Ich lass das jetzt einmal so stehen.
distanzverlust
protokoll 1
mit diesem protokoll versucht die verfasserin, ihren schrittweisen verlust an emotionaler distanz zu einem ihrer patienten zu stoppen oder wenigstens einigermaßen unter kontrolle zu halten. seit sie registriert hat, dass ihr interesse an diesem patienten das professionell zulässige maß bei weitem übersteigt, fühlt sie sich zunehmend irritiert: einerseits weiß sie, dass die wachsende empathie sie bei der erfüllung ihrer aufgabe als psychotherapeutische begleitung beeinträchtigt, andererseits kann sie sich der unerklärlichen faszination, die der patient auf sie ausübt, nicht entziehen.
um sich aus diesem dilemma zu befreien, folgt die verfasserin dem rat einer kollegin, alle durch den patienten hervorgerufenen gedanken und gefühle regelmäßig aufzuschreiben und dabei eine möglichst neutrale beobachterhaltung einzunehmen. deshalb schreibt die verfasserin in diesem protokoll über sich in der dritten person einzahl (sie) und verwendet außerdem, wenn nötig, statt ihres eigenen namens die bezeichnung „alpha“. ebenso verfährt sie bei ihrem patienten, den sie der einfachheit halber „zero“ nennt. außerdem gebraucht sie konsequent die für sie ungewohnte kleinschreibung, um dadurch noch größere objektivität zu erzeugen und der unreflektierten empathie-umklammerung, wie sie es nennt, ein weiteres element der selbstkontrolle entgegenzusetzen. dieses protokoll ist also der versuch einer „autonomen supervision“.
bereits bei ihrer ersten begegnung war alpha vom außergewöhnlichen verhalten überrascht, das zero an den tag legte. denn während die meisten chemotherapiepatienten erst vorsichtig und mühsam dazu gebracht werden müssen, die mauer des schweigens zu durchbrechen, hinter der sie sich oft schon ein leben lang verbarrikadieren, sich endlich zu öffnen und für ihren zustand, ihr leiden, ihre sorgen und ängste irgendwelche worte zu finden, redete zero sofort drauflos.
die erstaunliche offenheit, mit der zero seither über sich und sein leben spricht, beeindruckt alpha ganz enorm. irgendwas sagt ihr, dass sie es mit einem außergewöhnlichen menschen zu tun hat, einer person, die in ihrem leben noch eine bedeutende rolle spielen wird.
bei selbstkritischer betrachtung muss sich alpha eingestehen, dass es sogar einen ganz konkreten grund für ihr übermäßiges interesse an zero gibt: zero ist ungefähr im alter ihres vaters, den sie nie kennengelernt hat. sie war erst zwei, als er ihre mutter verließ, die sich danach beharrlich weigerte, auch nur ein einziges wort über ihn zu verlieren. keine bilder, keine erinnerungen, nur eine große sehnsucht, ihm wenigstens einmal zu begegnen und mit ihm zu sprechen. nach dem tod ihrer mutter vor ein paar jahren hat alpha begonnen, nach ihrem vater zu suchen, bis jetzt vergeblich. eigentlich wollte sie schon aufgeben, doch nun hat sie auf einmal das gefühl, dass sie doch endlich erfolg haben könnte. hat sie der zufall auf die richtige spur gebracht? wäre es sogar möglich, dass zero alphas vater ist? sie könnte ihn fragen, aber dafür fehlt ihr der mut. deshalb bleibt ihr wohl nichts anderes übrig, als ihn so oft wie möglich zu besuchen und ihm zuzuhören. vielleicht verrät er sich ja irgendwann und sie erfährt so die wahrheit, wie auch immer sie aussehen mag.
5
Die Schnittwunden auf meiner Stirn verheilten rasch. Bereits nach drei Tagen wurden die Fäden gezogen. Endlich war ich den Verband los, der mir bis über die Nasenwurzel und die Augen gereicht hatte. Doch nun stellte sich heraus, dass ich unter Sehstörungen litt. Ich sah alles verschwommen und leicht verzerrt, manchmal sogar doppelt. Wie durch geriffeltes Milchglas. Deshalb musste ich noch zwei Wochen im Krankenhaus bleiben, zur Beobachtung, wie es hieß, und für weitere Untersuchungen. Man untersuchte mich in der Augenklinik, man machte eine Computertomographie von meinem Kopf und eine Hirnstrommessung, alles ohne Befund. Aber nach einiger Zeit, um es vorweg zu nehmen, begann sich mein Zustand von selbst zu normalisieren und die Symptome verschwanden.
Bis ich wieder klar sehen konnte, lebte ich allerdings in einer gespenstischen Welt. Besonders der Anblick meines Bruders erschreckte mich jedes Mal auf Neue. Täuschten mich nur meine Augen, oder war aus ihm in den letzten beiden Jahren, während der wir einander nicht gesehen hatten, tatsächlich dieser aufgedunsene, stoppelglatzige, ziegenbärtige Gnom geworden, der da neben meinem Bett hockte und mir mit seinen Vergeltungsschwüren für Tanjas angebliche Vergewaltigung in den Ohren lag? Der immer wieder dieselben haarsträubenden, hasserfüllten Behauptungen absonderte und mich zum Komplizen seiner Rache machen wollte? Ich wusste, dass ich mit ihm darüber nicht diskutieren konnte, und außerdem war ich zu müde, zu schwach für eine Auseinandersetzung. Meine einziger Ausweg war, ihn zu ignorieren. Sollte dieser hässliche Freak doch daherquatschen, was er wollte, ich hörte einfach nicht mehr hin.
Das gelang mir allerdings nicht immer. Ich versuchte, Thomas abzulenken, und fragte ihn nach dem Befinden von Tanja. Vergeblich. Er hatte sich derart verbohrt in seine zwanghafte Idee, es dem Vergewaltiger heimzuzahlen, dass daneben für nichts anderes mehr Platz war. Tanjas augenblicklicher Zustand interessierte ihn ebenso wenig wie der meine.
„Weiß nicht. Liegt im künstlichen Tiefschlaf. Aber ich schwör dir, wenn sie stirbt, bring ich das Dreckschwein um.“
Das war alles. Mehr fiel ihm nicht ein zu seiner Frau, die zwei Stockwerke über uns in der Intensivstation lag.
Es war hoffnungslos. Ich konnte sagen, was ich wollte, es lief immer wieder aufs selbe hinaus. Bis mir der rettende Einfall kam.
„Kannst du eigentlich Auto fahren, Tommi?“ „Ja. Warum?“
„Irgendwo vor der Spitalseinfahrt müsste noch das Cabrio stehen. Nicht ganz vorschriftsmäßig, fürchte ich. Vielleicht hat man es sogar schon abgeschleppt. Könntest du dich darum kümmern?“
„Du meinst den Scheiß-VW von Pa?“
„Ja. Vaters heißgeliebten Käfer.“
„Die beschissene Kiste gibt’s noch immer? Was soll ich damit machen?“
„Mach, was du willst, Tommi. Schlüssel steckt, Papiere sind im Handschuhfach.“
„Geht in Ordnung. Ich kümmer’ mich irgendwann drum.“
„Nicht irgendwann. Gleich, Tommi. Sofort.“ „Okay, wie du willst.“
Eine halbe Minute später war Thomas weg. Endlich. Ich hatte bei ihm auf den richtigen Knopf gedrückt. Der Groll auf unsere toten Eltern schwelte nach wie vor in ihm. Und wie gewohnt war er knapp bei Kasse.
Nein, in dieser Hinsicht hatte er sich nicht verändert. Vernünftige Argumente prallten an ihm ab. Doch wenn man seinen wunden Punkt traf, spurte er sofort wie ein dressiertes Hündchen. Man konnte allerdings nie wissen, wohin es führen und was dabei herauskommen würde. Aber in diesem Augenblick war mir das egal. Ich war nur erleichtert, dass ich den Quälgeist für einige Zeit losgeworden war.
Es war wie damals, nachdem sich Roswitha in Luft aufgelöst hatte. Monatelang, bis er das Gymnasium geschafft hatte, war es mir gelungen, Thomas mit meinen Lügen einigermaßen zu beruhigen. (Und, wenn ich ehrlich bin, auch mich selber.) Doch danach wusste ich mir keinen Rat mehr.
Wegen seiner geringen Körpergröße musste Thomas keinen Wehrdienst leisten, so blieb die Verantwortung für ihn weiter an mir hängen. Ob ich es wollte oder nicht, ich hatte ihn am Hals und musste nun miterleben, wie er aus unserer Wohnung eine regelrechte Kultstätte für Roswitha machte. Nach dem Tod unserer Eltern hatte er jede Erinnerung an die beiden so schnell wie möglich auszulöschen versucht. Jetzt tat er das genaue Gegenteil. Und das mit einer Verbissenheit, die schon an Wahnsinn grenzte.
Das muss man sich einmal vorstellen: Da will ich endlich die Wohnung frisch ausmalen, bin gerade dabei, im Vorzimmer ein Graffiti nach dem anderen mit weißer Farbe zu übertünchen, und plötzlich drängt sich Thomas dazwischen,