Haus an das alte anzubauen. Beide lebten einträchtig und so häuslich, daß einst über zwanzig Jahre vergingen, ohne daß sie zusammen ausführen. So Wilhelm Busch in seiner Autobiographie über seine Eltern.
Kaufleute in bäuerlicher Umgebung also, für die es überlebensnotwendig war, sich den Wünschen ihrer Umwelt anzupassen. Für die eigenen Wünsche blieb da nicht viel. Arbeiten und Zusammenhalten bestimmte das Leben und schon die kleinsten Abweichungen, die bescheidensten Träume mussten als Bedrohung erscheinen. Die musste jeder mit sich selbst abmachen, die nahm jeder in seine Einsamkeit mit.
Mein Vater war Krämer, klein, kraus, rührig, mäßig und gewissenhaft; stets besorgt, nie zärtlich; zum Spaß geneigt, aber ernst gegen Dummheiten. Er rauchte beständig Pfeifen, aber, als Feind aller Neuerungen niemals Zigarren, nahm daher auch niemals Reibhölzer, sondern blieb bei Zunder, Stahl und Stein oder Fidibus. Jeden Abend spazierte er allein durchs Dorf, zur Nachtigallenzeit in den Wald.
Was Wilhelm Busch nicht schreibt, was er wahrscheinlich gar nicht gewusst hat, ist, dass auch sein Vater als junger Mann Gedichte geschrieben hatte. Auf den leeren Seiten eines Rezeptbuches fanden sich Verse im Stil der Biedermeierzeit, aber auch Spottverse gegen die Anmaßung vermeintlicher Poeten, Gedichte, die die Vergänglichkeit der Liebe in der Ehe betrauern, auch Kritisches gegen die Pracht des Papsttums. Themen, die auch den Sohn später in seinen Gedichten und Bildergeschichten beschäftigen sollten.
Das Geburtshaus in Wiedensahl
Meine Mutter, still und fromm, schaffte fleißig in Hans und Garten und pflegte nach dem Abendessen zu lesen. Mehr will er über seine Mutter nicht sagen. Nur jeweils eine flüchtige Skizze ist bekannt, mit denen er Mutter und Vater dargestellt hat. Die Mutter sieht man auf einem Stuhl sitzend von hinten, ein Enkelkind sieht ihr über die Schulter. Der Vater ist nur zur Hälfte zu sehen, die Pfeife nicht zu Ende gestaltet. Dabei hat Wilhelm später manchmal tagelang gezeichnet, was ihm nur vor die Augen kam. Die alten Leute in Wiedensahl, die ihn noch persönlich kannten, haben berichtet, dass sie weggelaufen seien, wenn Wilhelm mit dem Zeichenstift nahte.
Die Geschichte der Beziehung zwischen Eltern und Sohn ist eine Geschichte der verpassten oder unterdrückten Gespräche, der fehlenden Offenheit. Zuneigung wird gewährt, Strafe erteilt, alles wohldosiert als Mittel der Erziehung eingesetzt. Für Spontanes, für Gefühle ist wenig Platz.
Aber da ist die Sehnsucht nach menschlicher Nähe, nach Wärme, nach einem Zuhause, nach wortlosem Verstehen. Aus der verklärten Erinnerung beschreibt Wilhelm ein Idyll seiner Kindheit:
Mein gutes Großmütterlein war zuerst wach in der Früh. Sie schlug Funken am P-firmigen Stahl, bis einer zündend ins »Usel« sprang, in die halbverkohlte Leinwand am Deckelkästchen des Feuerzeugs, und bald flackerte es lustig in der Küche auf dem offenen Herde unter dem Dreifuß und dem kupfernen Kessel; und nicht lange, so hatte auch das Kanonenöfchen in der Stube ein rotglühendes Bäuchlein, worin’s bullerte.
Als ich sieben, acht Jahre alt war, dürft ich zuweilen mit aufstehen, und im Winter besonders kam es mir wonnig geheimnisvoll vor, so früh am Tag schon selbstbewußt in dieser Welt zu sein, wenn ringsumher noch alles still und tot und dunkel war. Dann saßen wir zwei, bis das Wasser kochte, im engen Lichtbezirk der pompejanisch geformten zinnernen Lampe. Sie spann. Ich las ein paar schöne Morgenlieder aus dem Gesangbuch vor. Gesangbuchverse, biblische Geschichten und eine Auswahl der Märchen von Andersen waren meine früheste Lektüre.
Behagliche Augenblicke. Die Eltern fehlen.
Augenblicke vergehen. Man darf sich nicht einfach fallen lassen im Vertrauen darauf, dass alles so kommt, wie man es sich wünscht. Selbst hinter der schönsten Idylle lauert Bedrohung:
Was weiß ich denn noch von meinem dritten Jahr? Knecht Heinrich macht schöne Flöten für mich und spielt selber auf der Maultrommel, und im Garten ist das Gras fast so hoch wie ich, und die Erbsen sind noch höher; und hinter dem strohgedeckten Hanse, neben dem Brunnen, stand ein Kübel voll Wasser, und ich sah mein Schwesterchen drin liegen wie ein Bild unter Glas und Rahmen, und als die Mutter kam, war sie kaum noch ins Leben zu bringen.
Er ist das erste Kind seiner Eltern, aber das vierte Kind seiner Mutter. Hinter der sichtbaren Welt ist ein schwarzer Abgrund. Umso mehr müsste man zusammenstehen. Aber die Eltern sind beschäftigt.
Ein freundliches Nahesein ist immer gut, schreibt er später in einem Brief. Das weiß Keiner beßer als ich, der in den Kinderjahren die Bangigkeit gründlich studiert hat.
Die Bangigkeit? Woher kommt sie? Ist er nicht wohl behütet? Hat er nicht ein Dach über dem Kopf? Ist nicht alles geregelt für ihn? Hat der Sohn des aufstrebenden Krämers es nicht vergleichsweise besser als andere Kinder seiner Zeit?
Da sind zum Beispiel die Hütekinder. Barfuß und mit zerrissenen Kleidern ziehen sie am Haus vorbei. Für einen Hungerlohn treiben sie die ihnen anvertrauten Kühe ins Feld. Machen einen hundsföttischen Lärm dabei. Warum fühlt er sich zu denen hingezogen?
Die Regeln und Verbote seines Kinderlebens halten ihn im Zaum. Der streng nüchterne Einfluss der protestantischen Kirche weist keinen Weg zu ausgelassener Lebensfreude. In den ersten neun Jahren seines Lebens in Wiedensahl, seinen Weltentdeckerjahren, entdeckt er als Erstes die Enge. Aufbegehren zwecklos. Die Kinderdressurakte, die man Erziehung nennt, halten ihn nieder. Dass da in ihm noch etwas anderes ist, bereitet ihm ein schlechtes Gewissen. Gegen die pflichterfüllenden, treu sorgenden Eltern darf man nicht undankbar sein. Aus der Kindheit wächst ihm ein Schuldgefühl, das ihn sein Leben lang begleiten wird.
39 Jahre alt, von der Welt gefeiert und verehrt, treibt ihn selbst die Erinnerung noch zu Scham:
Das Krähen des Hahns, der der Hel geweiht, ist freilich bedeutungsvoll. Den Dieben und Kranken, den armen Sündern und Gespenstern tönt vor Allen sein mahnender Ruf. Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. Ich selber habe ihn oft gehört, wenn ich in der Fremde vom nächtlichen Gelage kam; er rief mir dann ein wohlbekanntes ländliches Haus vor die Seele, das Haus meiner Eltern.
Wiedensahl, das ausgemessene Fleckchen Erde, das Elternhaus, trotz allem bleibt es eine innere Instanz. Aber er hat sich nie wirklich dazugehörig gefühlt. Von Herkunft und Stand, bald auch von eigener unruhiger Suche getrieben, sind ihm die Menschen im Dorf fremd geblieben, so wie auch er für sie ein Fremder war. Umso heftiger hat er sein Wiedensahl zur Idylle verklärt. Den frommen Selbstbetrug, den beißenden Schmerz, hat er in sich vergraben.
Früh schon und in vielen Ausprägungen hat er die Kehrseite des Lebens zur Kenntnis genommen. Manchmal ist er dabei über sich selbst erschrocken.
Nur einmal, noch ganz in dunkler Früh, wurd ich aufgeschreckt und schmerzhaft horchend wach erhalten durch die Wehklagen eines der vielen Schweine, welche der Genußsucht alljährlich zum Opfer fallen. Jetzt wird’s herausgezerrt aus dem lieben, duftenden Stalle; jetzt liegt’s geknebelt; jetzt der Stich; Notwehr geboten und heftig ausgeübt; Blutverlust fast beruhigend, scheint’s; dann aber erst recht, dicht vor der Todesgewißheit, der höchste, gräßlichste Unmuth; dann röchelnde Entsagung; zuletzt Stille mit Nachdruck. Die Metamorphose in Wurst kann beginnen. Wahrlich! Gewisse Dinge sieht man am deutlichsten mit den Ohren.
Haben Sie jemals den Ausdruck von Kindern bemerkt, wenn sie dem Schlachten eines Schweines Zusehen?, fragt er in einem Brief.
Das Leiden, die Marter hat vielmehr etwas schauderhaft Anziehendes, es bewirkt Grauen und Ergötzen zugleich … Tod, Grausamkeit, Wollust — hier sind sie beisammen.
Das alles gehört zu ihm, das alles ist seine Kindheit. Zum Lachen war da nicht viel.
Nur drei Jahre lang besucht er die Volksschule in Wiedensahl. Wie viel Prügel er vom Lehrer Bohnhorst eingesteckt hat, darüber schweigt er sich, wie über vieles andere — er nennt es die »Peinlichkeiten des Lebens« — gründlich aus.
Der Ablauf der Jahreszeiten, das Wachsen und Gedeihen der Pflanzen im Garten