der Natur ist ihm von Anfang an vertraut. Schon bald wird er sie auch an sich selbst entdecken.
Seine scharfe Beobachtungsgabe lässt ihn an der Vernunft und Einsichtigkeit der Erwachsenen zweifeln. Wie es sein müsste, »die freundliche Nähe«, die Welt der Wünsche, Träume, Utopien und die des wirklich gelebten Lebens, die Welt des Nützlichkeitsdenkens, der abgezirkelten Berechnung — das scheint ihm ein für alle Mal wie durch eine unüberwindliche Mauer voneinander getrennt.
Im Abstand von zwei, dann drei Jahren werden seine Geschwister geboren. 1834 Fanny, 1836 Gustav, 1838 Adolf und 1841 Otto. Im Haus des Krämers wird es allmählich eng. Da beschließen seine Eltern, ihn, den Ältesten, dem Bruder der Mutter, Pfarrer Georg Kleine in Ebergötzen bei Göttingen, zu übergeben.
Wilhelm kennt den »Bienenonkel« aus Erzählungen und von kurzen Besuchen. Der Onkel war freundlich, verständnisvoll und gütig. Trotzdem: Mit neun Jahren hat Wilhelm gerade begonnen, seine Umgebung bewusst wahrzunehmen und mit den Menschen, die um ihn sind, langsam vertraut zu werden. Da wird er weggeschickt. Noch einmal muss er von Anfang an lernen.
Am Abend vor der Abreise steht Wilhelm vor der Regentonne im Garten, über die der weiße Rosenstrauch hängt. Er plätschert mit der Hand im Wasser und denkt wehmütig an die Geschichten, die für ihn angefangen haben und nun von einem Tag auf den anderen abbrechen werden. Krischan, Kord, Hinnerk, Johann. Das Dabeisein, ohne viel fragen zu müssen. Geschichten, die bis heute für ihn die Welt gewesen sind. Die geheimste Geschichte hat den Titel Christine. Er sagt den Namen leise vor sich hin, dann fährt er mit der Hand durch das Wasser, bis die Wellen gegen die Tonnenwand klatschen.
Im Morgengrauen brechen sie auf. Der Leiterwagen wird beladen. Den meisten Platz nimmt der Kasten des alten Klaviers ein. Das gespreizte Beingestell passt nicht auch noch auf den Wagen. Kurzerhand wird entschieden, es in Wiedensahl zurückzulassen.
Knecht Heinrich spannt das dicke Pommerchen in die Scherdeichsel. Großmutter, Mutter, ein Kindermädchen, seine drei Geschwister und Wilhelm besteigen den Wagen. Der Vater bleibt zu Hause.
Die Sterne stehen noch am Himmel, da rumpeln sie aus dem Dorf hinaus. Durch die Felder und durch den Schaumburger Wald. Im Klavierkasten tunkt es, ein Rudel Hirsche springt über den Weg. Sie fahren über die Grenze der Welt hinaus, die der neunjährige Wilhelm sich bis jetzt hat denken können. Zweimal übernachten sie bei Verwandten, dann erreichen sie ohne Zwischenfälle das Pfarrhaus in Ebergötzen.
Max und Moritz. Erich Bachmann und Wilhelm Busch. Gezeichnet vom jungen Wilhelm Busch
Ach, was muß man oft von bösen Kindern hören oder lesen …
II
Moritz trifft Max
Er ist ganz anders als Harmschlüters Hinnerk. Anders auch als Krischan oder Johann oder Kord. Aber eins hat er mit ihnen gemeinsam: den festen, bedenkenlosen Blick, der aufs Erleben aus ist, aufs Ausprobieren und Machen, koste es, was es wolle.
Wie bestellt, schon am ersten Tag nach Wilhelms Ankunft in Ebergötzen, steht Erich Bachmann im Pfarrgarten; der Onkel lächelt und entlässt sie beide zu einem Streifzug durchs Dorf.
»Wo kommst du denn her?«, fragt Erich.
»Aus Wiedensahl«, antwortet Wilhelm.
»Nie gehört.«
»Ist auch weit weg. Drei Tage mit der Kutsche.«
Erich pfeift anerkennend durch die Zähne.
»Und jetzt wohnst du bei Pastors?«
»Ja.«
Auch das ist offenbar ein Pluspunkt. Erich nickt, und Wilhelm, der schon dabei war, sich alle Vorzüge seines Heimatortes in Erinnerung zu rufen, um bei einem zu erwartenden Dorfvergleich nicht schlechter abschneiden zu müssen, wundert sich, dass Erich nichts weiter wissen will.
Das Dorf hat Ecken und Winkel, es geht bergauf und bergab und Wilhelm, der Flachländer, hat schon bald die Orientierung verloren. Aber Erich schleust ihn, seines Weges offenbar ganz sicher, über Gartenzäune und Mauern, über Höfe und offen stehende Scheunen, an bellenden Hunden und zischenden Gänsen vorbei, über den Bach; und auf einmal stehen sie vor einem großen, hölzernen Mühlrad, das sich, vom vorbeifließenden Wasser getrieben, knarrend und gleichmäßig dreht.
»Da wohn ich«, sagt Erich.
Jetzt ist auch Wilhelm voller Bewunderung.
Lange rührt er sich nicht vom Fleck und bestaunt wortlos das riesige Mühlrad; beobachtet, wie die Schaufeln eintauchen, wie das Wasser im Mühlgraben abläuft.
»Bei uns haben wir nur Windmühlen«, sagt er schließlich und hat schon vergessen, dass er sich damit bei seinem Begleiter in Nachteil bringen könnte. Ohne weiter zu fragen, zieht Erich ihn mit sich, um das Haus herum, über den Hof, zur Haustür rein und zeigt ihm das Innere der Mühle.
In einen Trichter, der aussieht wie ein gefräßiges, weit geöffnetes Maul, werden Getreidesäcke entleert, hölzerne Zahnräder greifen eins ins andere; es staubt und rattert und ruckelt. Ein Müllergeselle verscheucht sie mit Handzeichen aus der Nähe des Laufwerks. Man könnte sein eigenes Wort nicht verstehen.
Ein anderer Geselle schleppt prall gefüllte Maltersacke treppauf und treppab, auf seinem Gesicht klebt eine Staubschicht, von Schweißrinnen durchbrochen.
Unten treffen sie auf den Müller, Erichs Vater, der mit einem Bauern herumbrüllt, aber, wie sich heraushören lässt, nur über das Wetter redet.
Erich schiebt sich vorbei, der Vater sieht sie beide, beachtet sie aber nicht weiter. Unvorstellbar, denkt Wilhelm, er wäre mit einem fremden Jungen durch den Kaufladen oder auf den Wiedensahler Speicher gegangen.
Auf dem Weg zum Pfarrhaus zurück machen sie einen kleinen Bogen den Hang hinauf. Es ist ein warmer Septembertag, die Kühe, Schafe und Ziegen weiden noch auf den eng abgesteckten Wiesen und Obstgärten dicht hinter den Häusern.
»Mal sehen«, flüstert Erich geheimnisvoll. »Vielleicht haben wir Glück.«
Er schleicht durch Hinterhöfe, unter Zäunen hindurch, vorbei an glotzenden Kuhaugen und Wilhelm folgt ihm ohne Rücksicht auf seine Kleider.
Vor ihnen stehen Obstbäume, knorrig verwachsene Stämme, ein Birnbaum am Rand überragt die anderen, wirft einen dunklen Schatten ins Gras. Dahin zeigt Erich jetzt und drückt den Zeigefinger auf die Lippen.
Auf allen vieren pirschen sie sich an den Birnbaum heran. Erich teilt die langen Grashalme vor ihren
Augen, und ein Hab-ich-nicht-gewusst-Lächeln strahlt über sein Gesicht. Jetzt reckt auch Wilhelm den Hals, und da sieht er den stoppeligen Graubart im Gras liegen, einen langen, verbogenen Spieß im Arm, zerlumpte Kleider, vorn aufgeplatzte Schuhe. Er schnarcht aus zahnlosem Mund. »Krrrch«, macht er, wenn er einatmet, und »Püüüh«, wenn er die Luft mit spitzen Lippen von sich bläst. Das rasselnde »Krrrch« und das pfeifende, melodische »Püüüh« sind wie Bruchsteingeröll und Vogelgesang. Der alte Mann schläft mit tiefem Genuss, sein Brustkorb hebt und senkt sich unter dem zerschlissenen Hemd.
Erich stößt Wilhelm an, grinst, pult einen kleinen krumm gewachsenen Zweig aus dem Gras und fährt dem Alten damit leicht über den grauen Stoppelbart. Erst tut sich nichts, aber dann macht der Mann seltsam schnappende Bewegungen mit dem Kinn, dann lässt er es vorgestreckt und mahlt die Kiefer aufeinander, als würde er genussvoll dem Sonntagsbraten nachschmecken.
Siegessicher und zufrieden erhebt Erich sich und lacht dem längst sprungbereiten Wilhelm ins zweifelnde Gesicht. Lachend umkurvt Erich die Obstbäume und trabt den Häusern entgegen. Wilhelm läuft hinter ihm her.
»Der alte Tanne«, sagt Erich atemlos. »Alle im Dorf nennen ihn »Bettelvogt«. Bisschen plemplem, wenn du weißt, was ich meine. Aber harmlos. Isst mal hier und mal da. Schläft auf Heuböden und in Pferdeställen. Im Sommer im Gras.«