Aber im selben Brief, fast zum Schluss, stehen plötzlich zwei Sätze, die aufhorchen lassen. Über den drei Jahre jüngeren Justus Ebhardt, Sohn des Justizrats, in dessen Haus er wohnt, schreibt er: Justus hat seine Karriere, in die er ursprünglich einzutreten gedachte, geändert. Er will jetzt Seemann werden.
Einer ist ausgebrochen aus Norm und Konvention, ist abgewichen vom vorbestimmten Lebensweg. Wilhelm erwähnt es gegenüber den Eltern. Kein Wort der Kritik an Justus, in das der Vater sogleich einfallen könnte. Dafür so altklug und falsch klingende Sätze über das, was sein eigener »künftiger Lebenszweck erheischt«. Das passt nicht zusammen. Auch für Wilhelm ist der Gedanke an ein nicht angepasstes Leben längst eine Verlockung. Aber noch hält er ihn nieder.
Wilhelms erzwungener Eifer ist nicht ohne Erfolg. In der reinen Mathematik schwang ich mich bis zu Eins mit Auszeichnung empor, aber in der angewandten bewegt’ ich mich mit immer matterem Flügelschlage. Wichtig ist ihm der Zeichenunterricht. »Erste Klasse«, benotet Zeichenlehrer Heinrich Schulz seine Leistung auf diesem Gebiet. Aber auch in den Fächern, die mit Zeichnen nichts zu tun haben, zeichnet er. Seine Kolleghefte sind voll mit skizzenhaften Darstellungen seiner Lehrer und Mitschüler. Sowohl Zeichnungen nach der Natur als auch Karikaturen. Dann kommt das Jahr 1848. Der Versuch einer bürgerlichen Revolution in Deutschland. In den Staaten des Deutschen Bundes kommt es zu Unruhen. Die Forderungen nach Freiheiten, ähnlich denen der Französischen Revolution, und nach nationaler Einheit werden überall lauter und dringlicher. Im März kommt es in Berlin zu blutigen Barrikadenkämpfen. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. verspricht, sich an die Spitze des »Gesamtvaterlandes« zu stellen, und lässt doch auf die Aufständischen schießen. Im Mai tritt das erste rechtskräftig gewählte deutsche Nationalparlament in der Frankfurter Paulskirche zusammen.
In dieser politisch bewegten Zeit wird der gerade vom Dorf in die Stadt gewechselte 16-jährige Wilhelm Busch wie alle Schüler der Polytechnischen Schule zur Verstärkung von Militär und Polizei als Hüter von Recht und Ordnung eingesetzt.
Aus langem zeitlichem Abstand, im Jahr 1906, schreibt er über seine Erfahrungen mit der Revolution:
Das Jahr 48 machte bedenklichen Lärm. Um den Wall die Ketten verschwanden. Ans uns Polytechnikern wurden Kompanien gebildet unter Führung der Lehrer. Den Stock in der Hand, eine weiße Binde um den Arm, zogen wir durch die Straßen und riefen den Frauen »Guten Abend, Bürgerim zu. Nur waren wir als Schergen der Ordnung beim »Volke« recht unbeliebt. Aus den Haustüren im Rösehof gossen unsichtbare Hände uns Schmutzwasser an die Beine. Bald kriegten wir Waffen; alte Steinschloßflinten, die Ohrfeigen austeilten und Gesichter schwärzten, wenn wir draußen an der Schwedenschanze exerzierten.
Wilhelm Busch 1848
Unsere Uniform war bloß kurz angedeutet durch eine Mütze mit schwarzrotgoldenem Streif drum herum. Das dreikantige Bajonett, im Bandelier zu tragen, diente als furchtbares Seitengewehr. Meine Kompanie hatte die Ehre, als erste die Hauptwache am Markt abzulösen. Freundlich grinsend standen uns die Soldaten gegenüber. Sie hinterließen uns munter belebte Matratzen zur behaglichen Ruhestatt.
Daß man uns keine scharfen Patronen anvertraute, war ärgerlich. Einstmals, während der Nacht, hatten wir an der Ecke der Ballhof- und der Knochenhauerstraße eine leichte Barrikade zu nehmen. Oben aus der Herberge flogen Backsteine herunter, unten bewarf uns von weitem die verwegene Menge. Vergebens verfolgten wir sie. Schießen konnten wir nicht. Da sprang ein langer Kollege, der die Geduld verlor, voran und prickte einem Kerl das Bajonett durch die Hose, daß er bölkte wie ein Ochse. Im Lindener Spital hat man ihn wieder kuriert. Und dies, soviel mir bekannt, ist unsererseits die einzige grausige Bluttat während der ganzen Revolution.
Übrigens gab es unruhige Geister auch in unserer eigenen Mitte. Sie brachten dem Direktor Karmarsch, ich weiß nicht warum, eine Katzenmusik. Für die Radaumacher schloß man die Schule. Für uns anderen, die brav gewesen, ging der Unterricht weiter.
Was für andere am Anfang mit großen Hoffnungen und am Ende mit bitterer Enttäuschung verbunden ist, beschreibt Wilhelm Busch als Groteske. Mag sein, dass ihm im Augenblick des Erlebens anders zumute war als im Rückblick nach so vielen Jahren. Davon aber verrät er nichts.
Im Grunde ist er unpolitisch. Die Zusammenhänge im Großen durchschaut er nicht. Die Revolution ist ihm eine Posse aus Krähwinkel. Ein Engagement, für welche Seite auch immer, ist ihm zuwider. Der Hang zur Grübelei in die Tiefe verbietet ihm, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Wieder sieht er auch hier zuerst das Bizarre, Komische, Lachhafte. Salopp bezeichnet er das Rauchen und Biertrinken als zwei Märzerrungenschaften.
Sosehr sich eine solche Haltung im Augenblick auch absondert von den Strömungen der Zeit, sosehr wird gerade sie am Ende Gefallen finden bei vielen. Sie wird zur Zuflucht und zum Trost für alle vom Leben Gebeutelten, und wer wollte sich nicht dazuzählen? Später wird diese Haltung zur Grundstimme seiner Bildergeschichten und ist eine Erklärung für ihren großen Erfolg. Seht her, wird man sagen können, wir haben es doch schon immer gewusst, so ist das Leben, hier ist es wahrhaftig aufgezeichnet und treffend beschrieben. Und das Beste, was uns bleibt, ist, wenigstens einmal kräftig darüber zu lachen.
Dass solche Geschichten nur entstehen konnten, weil dem Erfinder vorher so viel von der menschlichen Wärme versagt geblieben ist, auf die er gehofft hat, dass sie entstehen konnten, weil seine nach innen gerichtete Lebendigkeit durch das Nadelöhr der äußeren Absonderung gegangen ist, das wird am Ende kaum jemand wahrnehmen wollen. Im Kern entspringt der Busch’sche Witz dem Alleingelassenwerden und dem Unvermögen, sich zu entscheiden. Weil es vielen so ging und geht, war und ist er so erfolgreich.
Vorerst aber müht sich Wilhelm Busch mit wachsendem Unmut, sich scheinbar dem anzupassen, was man von ihm erwartet. Auch verschwendet er noch längst keinen Gedanken an Bildergeschichten. Er hat ein ganz anderes geheimes Ziel, das er beharrlich verfolgt.
Mit ihm »brav«, aber unzufrieden mit der Maschinenbauerzukunft sind Carl Bornemann aus Alfeld und August Klemme aus Hannover. Alle drei haben sie Bilder im Kopf, die in die technischen Planquadrate nicht passen, die keine Maschinen ergeben. Sie freunden sich an.
Wilhelm hat sich merklich verändert. Aus dem ängstlich-braven Kind aus Wiedensahl ist nun einer geworden, der sich schon mal wagt, im dunklen Wald auch laut zu singen. Nicht nur das Rauchen und das Biertrinken hat er gelernt. Wenn er sich unbeobachtet fühlt und niemand ihn kennt, probiert er jetzt auch schon mal das öffentliche Lautsein. Im Herbst 1850 hat ihn jemand in der westfälischen Kleinstadt Bünde beobachtet:
»Zufälligerweise kam an diesem Tage ein junger Bursch aus Wiedensahl an, der Polytechniker in Hannover ist. Das war ein seltsamer Passagier. Seine Physiognomie war ganz eigentümlich. Er schien sich fortwährend über die ganze Welt lustig zu machen, und seine Fratzen haben uns oft köstlich amüsiert. Dabei war er ein höchst gescheiter, geistreicher Kopf, in allen Fächern zu Hause und jeden Augenblick mit den schlagendsten Einfällen bei der Hand. Ein Komiker war an ihm verdorben, denn er verstand alles ins Lächerliche zu ziehen …«
Ein Studienkamerad begleitet ihn. Von Bünde aus wandern sie nach Ebergötzen. Da will Wilhelm beim Schützenfest dabei sein. Er ist jetzt so alt wie Hannchen Lovis damals. Voriges Jahr hat er ihr ein Albumblatt zukommen lassen mit einem Spruch von Jean Paul:
… Nicht das bunte Ufer fliehet vorüber, sondern der Mensch und sein Strom; ewig blühen die Jahreszeiten des Lebens am Gestade hinauf und hinab, nur der Mensch fliehet einmal vorüber und kehret nicht wiederum.
In diesem Jahr, Wilhelm erfährt es in Ebergötzen, wird Hannchen den Herrn Adalbert Isermann heiraten.
Enttäuschung und Rückzug nach innen.
Hannchen war viel älter als er. Schon die Kinderfreundschaft zu Christine in Wiedensahl war für den Kaufmannssohn aus Gründen des sozialen Unterschieds fern jeder Verwirklichung. So etwas läuft immer nur in seinem Kopf ab, es bleibt bei schönen Träumereien.
In seiner Beziehung