Herbert Günther

Der Versteckspieler


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Und Heinrich Brümmer führt ihnen vor, wie brav Hasso Platz machen kann.

      Eines Abends sehen sie den alten Gottlob Wenzel auf den Stufen zum Kirchplatz sitzen. Kein vernünftiger Mensch setzt sich da hin. Oben, ein paar Schritte weiter nur, ist die Bank rund um die alte Linde; da treffen sich nach Feierabend die jungen Mädchen und Burschen und singen und lachen und reden und streiten. Gottlob Wenzel, der allabendlich abseits auf dem kalten Stein sitzt, Pfeife raucht und unergründlich lächelt, ist oft genug geduldiges Ziel ihres Spotts. Und er ist auch ein leichtes Opfer für Erich und Wilhelm.

      Die Bank ist noch leer, niemand scheint in der Nähe, die Pfeife liegt noch unbenutzt neben ihm, und Gottlob Wenzel genießt mit halb geschlossenen Augen die letzten Strahlen der Abendsonne.

      »He, aufwachen, Gottlob!«, ruft Erich.

      Der alte Mann sieht sie an und lächelt versonnen.

      Jetzt ist Wilhelm an der Reihe. Mit Gottlob muss man reden wie mit einem kleinen Kind, hat Erich gesagt. Er leidet an Blödigkeit.

      »Pastor Kleine schickt uns«, sagt Wilhelm. »Er schenkt dir von seinem Tabak.«

      Ohne eine Antwort abzuwarten, die ohnehin nur in Lächeln besteht, nimmt Wilhelm die Pfeife und stopft sie randvoll mit Kuhhaaren, die sie sich aus Bachmanns Stall besorgt haben.

      »Bester Eichsfelder Krauter«, sagt Erich, während Wilhelm sorgfältig stopft.

      Gottlob Wenzel nickt zufrieden, und als Wilhelm ihm die Pfeife reicht, steckt er sie widerspruchslos in den Mund. Dienstbeflissen reibt Wilhelm ein Zündholz an, es qualmt und knistert gewaltig im Pfeifenkopf, aber das selige Lächeln auf Gottlob Wenzels Gesicht bleibt ganz unverändert.

      Zwei junge Burschen kommen die Straße herauf, und weil der erwartete Erfolg immer noch ausbleibt, ruft Erich ihnen zu: »Gottlob raucht Ochsenkraut! Gottlob raucht Ochsenkraut!«

      Aber plötzlich schlägt die Kirchentür zu, der Onkel Kleine kommt mit langen, eiligen Schritten über den Kirchplatz. Wahrscheinlich hat er alles mit angesehen und gehört. Ärgerlich sieht er aus, gar nicht milde und freundlich wie sonst. Erich zieht es vor, das Weite zu suchen. Für Wilhelm gibt es kein Entrinnen.

      »Ich werd dich lehren!«, schimpft der Onkel. »Was du dem Geringsten tust, das tust du mir!« Er reißt einen trockenen Georginenstängel vom Wegrand und schlägt damit drei-, viermal auf Wilhelms Hintern, bis der Stängel zerbricht.

      Weh tut es nicht. Aber schmachvoll zieht Wilhelm mit dem Onkel davon. Die beiden jungen Burschen lachen hämisch. Und Gottlob Wenzel sitzt auf der Treppe, sieht auch dieser Szene freundlich lächelnd zu und schickt immer noch schwarzrauchigen Qualm in die Luft.

      An einem Spätsommertag steigen sie wieder durch die Hinterhöfe. Die Birnen sind reif. Diese Köstlichkeit wollen sie sich nicht entgehen lassen. Erich weiß genau, wann die beste Zeit ist, die Obstgärten ungesehen zu plündern. Im Gras liegt viel Fallobst. Die Wespen machen sich daran zu schaffen. Und da hinten unter dem großen Birnbaum liegt auch wieder der alte Tanne.

      Sie schleichen sich an wie beim vorigen Mal. Auf allen vieren durchs Gras. Aber als sie näher kommen, hören sie kein Schnarchen.

      Wieder nimmt Erich einen kleinen Stock von der Erde auf, beugt sich vor, streckt den Arm aus, aber plötzlich verharrt er in der Bewegung.

      Die Bartstoppeln sehen heute viel heller aus als sonst. Sind auch länger. Der Kopf zur Seite geneigt, die Augen starr und glasig. Der Mund steht offen und irgendwie schief. Zwei Fliegen laufen hinein und heraus.

      Erichs Hand zittert. Dann schleudert er den Stock von sich und springt auf.

      »Da ist kein Leben mehr drin!«, schreit Erich.

      Sie rennen los und achten auf kein Hindernis.

      Wie gut ist es, in Bewegung zu sein. Den Atem zu spüren, das Blut in den Adern und den jagenden Puls.

      Sammelbilder

       1841-1851

      Wilhelm ist schon seit drei Monaten in Ebergötzen, da schickt er endlich ein Lebenszeichen nach Wiedensahl. In gestochen sauberer Schrift, die Hand vom Onkel geführt, schreibt er kurz nach Weihnachten 1841:

       Theure Eltern

       Ihr habt gewiß schon lange nach einem Briefe von mir ausgesehen, und ich habe auch im stillen daran gedacht, wie lieb Euch eine kleine Nachricht von mir sein würde. Aber da ich noch nicht ganz ohne Onkels Hülfe an Euch schreiben kann, Onkel aber seit einiger Zeit so viel zu thun hatte, daß ich ihn nicht mit meinen Bitten zur Last fallen wollte, so habe ich meinen Brief bis nach dem Feste verschoben, schreibe nun auch gleich und laße Euch nicht länger auf ein Lebenszeichen von mir lauren …

      Die Festtage habe er ziemlich still zugebracht. Er ist der Einzige im Pfarrhaus, der zu Weihnachten Geschenke empfangen hat. Artig bedankt er sich für die neue Hose und das Buch von den Eltern und verspricht, recht viel daraus zu lernen.

       Einen Freund habe er auch schon, teilt er mit, den Erich, den Sohn des Müllers Bachmann. Um die Eltern über diese Freundschaft zu beruhigen und positiv zu stimmen, stellen Onkel und Neffe den Freund gleich im Zusammenhang mit dem Lernen vor. Die Nachmittagsstunden haben sie nun gemeinsam, berichtet Wilhelm, wodurch es sich um so beßer lernen lässt, weil der eine es immer beßer machen will, als der andere. Ferien haben wir in dieser Zeit nicht gehabt; bloß den letzten Tag vor den Feiertagen hatten wir keine Stunden. Wir gehen aber auch eben so gern in die Stunden, als daß wir frei haben.

      Ernsthaft und lerneifrig gehe es in Ebergötzen zu, davon sollen die Wiedensahler überzeugt werden. Ein anschauliches Beweismittel wird mitgeliefert. Wilhelm schreibt:

       Um Euch aber doch einen kleinen Beweis zu geben, daß ich in Ebergötzen nicht so dumm geblieben, als ich hingekommen bin, und daß ich meine Zeit nicht müßig hingebracht habe, schicke ich Euch diejenigen Bücher, die ich bisher vollgeschrieben habe. Aller Anfang ist schwer, das werdet ihr auch in meinen schriftlichen Arbeiten erkennen; aber ich tröste mich mit dem Sprichwort: mit der Zeit bricht man Rosen, und verliere darum die Geduld nicht, wenn’s auch langsam geht …

      Onkel und Neffe haben einen Bund geschlossen. Zeigen wir dem Vater mal, wie brav wir sind, wir beide, wie sittsam und ordentlich. Dann wird er beruhigt sein. Und im Übrigen sind wir hier in Ebergötzen für uns.

      Pastor Georg Kleine ist ein für die Zeit äußerst toleranter Mann, vielseitig interessiert, gleichwohl ein Landmensch, Naturbeobachter, Verfechter des einfachen Lebens aus Überzeugung. Er ist ein leidenschaftlicher Bienenfreund. Ab 1865 hat Georg Kleine das Bienenwirtschaftliche Centralblatt herausgegeben und sich als Verfechter der damals neuen Fortpflanzungslehre von der Parthenogenese beim Bienenvolk einen Namen gemacht.

      Der Privatunterricht beim Onkel, am Nachmittag geteilt mit dem Freund Erich Bachmann, ist abwechslungsreich und interessant. Kein Vergleich zu den zeitüblichen Paukmethoden mit Rohrstockbegleitung in öffentlichen Schulen. Naturbeobachtungen nehmen einen großen Raum ein. Das Leben, wie es ist, steht im Mittelpunkt. Und natürlich kann im Einzelunterricht das individuelle Interesse des Schülers Wilhelm Busch viel mehr Antworten finden als in einer Schulklasse.

      Zeichnen gehört zu seinen liebsten Fächern. In Ebergötzen hat er damit ernsthaft und akribisch begonnen. Da ist das Selbstporträt des jungen Zweiflers. Daneben das Bild des Freundes Erich Bachmann — schon ganz künftiger Mühlenbesitzer. Moritz und Max, wie sie in Wirklichkeit waren. Früh schon zeigt sich Wilhelms Talent, mit wenigen Strichen Wesentliches zu erfassen. Der Onkel hat es unterstützt, hat ihn gewähren lassen.

      Der Privatunterricht hat auch zur Folge, dass sich sein Abstand zur gewöhnlichen Welt zusehends vergrößert. Die Entdeckung, dass er anderes, dass er mehr kann als die Gleichaltrigen seiner dörflichen Umwelt, wächst sich aus bis zum Hochmut. Den zeigt er selten offen, aber die beständige Unterdrückung des Besserwissens schafft Fremdheit und Irritation. Erich Bachmann, der Freund, hält die Verbindung zum prallen, gradlinigen, oft so erschreckenden Leben.