Heinz Scholz

Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950


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spärlich. Natürlich mussten wir beim Ernten helfen.

      Garten und Berg gehörten mit zu unseren Spielbereichen. Hier bauten wir uns Lagerplätze oder „Höhlen“, manchmal aus alten Decken und Brettern unbestimmbare „Buden“, und ganz oben auf dem Feldrain richteten wir uns Beobachtungsstellen ein, und im Herbst ließen wir von hier aus unsere selbstgebauten Drachen steigen. Im Sommer, beim Spiel im Garten, mussten wir uns öfter aggressiver Bienen erwehren, die vom Bienenstand unseres Nachbarn Gerhard auf einer ihrer Fluglinien durch unser Grundstück flogen. In unserer unberechenbaren Beweglichkeit gerieten wir unwillkürlich in ihre Flugbahn, wurden dadurch prall angeflogen und als vermeintliche Gegner sogleich gestochen. Auch an unserer „Plumpe“ vor dem Haus, an der wir erhitzten Jungen unseren Durst löschten, stießen wir mit den nach Wasser lechzenden Bienen zusammen. Mit der Zeit gewöhnten wir uns an Schmerzen und Schwellungen und suchten Wege nach friedlicher Abwehr der Plagegeister. Zu allem blieben wir versöhnlich, weil die imkernden Nachbarsleute uns ihr Mitgefühl erwiesen, gute Ratschläge erteilten und uns versicherten, Bienenstiche seien gesund! Vor allem aber wurde immer mal wieder ein Glas süßen Honigs zu uns herübergereicht, oder man lud uns Jungen ein, beim Honigschleudern „mitzuhelfen“, was nichts anderes bedeutete, als dass wir naschen durften.

      Und da bin ich bei unseren Nachbarn angelangt, die verdienen, dass ich Löbliches sage: Der „Bäcker-Gerhard“ mit seiner Frau Klara und die Kinder Käthe und Hans – sie wohnten in der Nr. 80, im Haus rechts neben uns, das etwas größer und geräumiger war. Deshalb meinten wir, die Schulzes neben uns seien nicht so arm wie wir. Man muss jedoch einräumen, dass der „Bäcker-Gerhard“ (er war ein Sohn des Dorfbäckers) ein tüchtiger Maurer-Polier war und deshalb sein Haus auch besser in Schuss halten und auch selbst ausbauen konnte. Aber ich hatte trotzdem immer das Gefühl: Die sind „reicher“ als wir: Eine Zeit lang stand sogar ein Flügel (ein richtiges Piano) in der Wohnstube! Dann hatten sie eine Zitter im Haus, auf der auch ich manchmal nach einem eingelegten Notenblatt spielen durfte. Im Stall hatte man auch zwei Kühe stehen, also eine mehr als wir. Und die bei uns allen im Dorf üblichen Bratkartoffeln zum Abendbrot glänzten vor Fett viel mehr als bei meiner Mutter! Und die Schulzes hatten Verwandte in Berlin! Standen also mit Stadtleuten in familiärer Verbindung! Und so weiter. Irgendwie – so meinte ich als Kind – stünden sie über uns oder sagen wir höher als wir. In vielem erklärbar, weil die Nachbarskinder Hans wie Käthe 4 – 5 Jahre älter waren als wir und wir auch mit Respekt zu ihnen aufsahen. Zumal sie uns so manches voraushatten und wir von ihnen dies und jenes lernten. Der 14-jährige Hans zeigte uns z. B., wie man aus Sperrholztafeln kleine Doppeldecker-Flieger herstellen konnte. Mir brachte er dann auch das Schachspiel bei. Wir lernten von ihm, wie man Hockey und Fußball spielt – auf der Straße versteht sich. Hans ließ uns in seine Versandhauskataloge von „Stuckenbrock“, „Klepper“ und „Sport-Schuster aus München“ einsehen, so dass wir wahrnehmen konnten, welche wunderbaren Sachen (Zelte, Skier, Skistiefel, Faltbote, Fußballschuhe oder Fahrräder) in der großen Welt draußen zu haben sind, für Leute, die über das nötige Geld verfügten. Und als er ein Akkordeon besaß und darauf spielte, da wußte ich, was mir noch fehlte Auch dass Hans nach der Schulzeit in Löwenberg in der Bufe-Mühle im Büro als „Schreiber“ lernte und schließlich auch eine Freundin aus der Stadt uns zu Gesicht brachte, hat uns imponiert. Und wie er dann als „Flieger“ zur „Luftwaffe“ „ging“, das war natürlich für mich ganz besonders beispielgebend!

      Käthe war als Mädchen für uns zwei Jungen, da wir keine Schwester hatten, wie eine ältere schwesterliche Freundin. Wir mochten sie, weil sie freundlich zu uns war, sich natürlich gab und sich gelegentlich um uns kümmerte.

      So als unbedarfter Heranwachsender redet man ja manchmal von den „blöden Weibern“, regt sich auf über deren „Schöngetue“. Bei Käthe wären wir nie in derartige Reden verfallen. Später hat uns natürlich interessiert, mit „wem sie geht“. „Käthe ist wie ihre Mutter“, das hörte man sagen. Und es stimmt genau. So überaus gütig, so herzensgut, so voller stiller Nachsicht und natürlicher Freundlichkeit – so habe ich unsere liebe Nachbarin, Frau Schulz, in Erinnerung. Gegen uns Jungen fiel nie ein böses Wort oder eine schroffe Zurechtweisung. Manchmal steckte sie uns was zu. Ein andermal lud sie uns ein, von ihren so wohlschmeckenden Bratkartoffeln zu essen, was wir gern, aber nur zögerlich annahmen, weil bei unseren Eltern galt: Nicht betteln – zu Hause wird gegessen!

      Der Vater von Hans und Käthe war uns Jungen auch gut gesonnen, aber von ihm kriegten wir manchmal schon was ab. Eine tadelnde Bemerkung, wenn wir uns ungeschickt verhielten, oder auch eine ironische, wenn ich im unpassendsten Augenblick in Jungvolkuniform daher kam, aber eben auch eine lobende, wenn man deutlich etwas „Vernünftiges“ vorweisen konnte. „Bäcker Gerhard“ war ein kritischer Mensch, selbst am Ende der Dreißiger Jahre noch stand er ziemlich „links“, während mein Vater seine alte sozialdemokratische Haltung schon fast verdrängt hatte. Über diesen Unterschied hinweg verstanden sich die beiden Männer recht gut. Beide tranken gern „an gutten Kurn“, waren sehr gesellig und spielten zur Kirmes oder zum Maskenball bei „Hiebnern“ gemeinsam so manchen Possen. Und nachbarschaftlich half man sich mit aller Selbstverständlichkeit.

      Während des Krieges spürte man an seinen vorsichtig skeptischen Anmerkungen, dass bei ihm keine Siegeszuversicht aufkam. Er war auch kein militärischer Typ, der sich wie andere beim „Schissen“(Schützenfest) des „Reichkriegerbundes“ groß ins Zeug gelegt hätte. Nein, man konnte als Junge sich schon vorstellen: Der ist gegen den Krieg. Jahre später, nach 1945 haben wir darüber offen gesprochen.

      Überhaupt unterschied er sich grundsätzlich vom Hilger Bruno, unserem anderen Nachbarn zur Linken. Der wohnte also in der Nr. 82 mit seiner Frau Berta. Beide waren „Hofearbeiter“, sie beim „Dunkel-Pauer“, er als Vorarbeiter beim Großbauern Heinrich im Nachbardorf. Hilger Bruno war ein renommierter Teilnehmer des Ersten Weltkrieges. In der Wohnstube hing groß und breit sein Porträt als stolzer Unteroffizier, ehrenbekränzt und mit dem Eisernen Kreuz geschmückt. Wenn die Männer in der Runde vom Krieg erzählten und wir Jungen ganz Ohr waren, dann waren die Kampfberichte von Hilger Bruno am spannendsten. Auch beim „Schissen“ trat er, militärisch ausstaffiert, mit stolzer Brust in Erscheinung. Es war für ihn selbstverständlich, dass seine Söhne nach einer Lehre beim Schmied sich freiwillig zu den Soldaten meldeten. Artur wurde Flieger und der zwei Jahre jüngere Kurt Matrose auf einem U-Boot. Sie avancierten beide und kamen zu Beginn des Krieges in schmucken Uniformen auf Urlaub. Bis dann Anfang 1941 die beiden Alten das Schlimmste traf: Zuerst erhielten sie die Nachricht, dass Artur im Luftkampf abgeschossen worden war, und vier Wochen später, dass Kurt in seinem U-Boot von einem Feindeinsatz nicht zurückgekehrt sei. Beide Söhne tot – innerhalb eines Monats! Das warf die Eltern völlig nieder, und für Bruno brach eine ganze Welt zusammen. Er war von nun an wie verwandelt, kritisierte Hitlers Kriegsführung und prophezeite, als im Sommer der Angriff auf Russland erfolgte, nun sei der Krieg nie mehr zu gewinnen. – Wie sehr doch persönliches Getroffensein, unwiederbringlicher Verlust und tiefstes persönliches Leid, die Blickrichtung ändern kann! So lange es immer nur die Anderen trifft, bleibt man in der eingefahrenen Spur.

      Über unsere unmittelbaren Nachbarn hinaus hatten wir auch gute Verhältnisse zu anderen Bewohnern des Hinterdorfes. Walters Jungen, Kurt und Georg, waren mit uns gleichaltrig, also nahe Spielgefährten, selbst wenn sie als Bauernjungen viel mehr als wir in die häusliche Wirtschaft eingebunden waren und weniger Freizeit hatten als wir. Auf Walters Kellerberg sind wir Schlitten gefahren und bei Walters trafen wir uns auch manchmal abends, wenn die Eltern alle im Kretscham bei „Hiebnern“ zum Tanz waren. Und Schellenbergs Jungen, obwohl älter, so waren wir ihnen aus unterschiedlichen Gründen auch nahe. Oskar war im Dorf der Hitlerjugendführer; Richard, dem Ältesten, musste ich eine Zeit lang zur Reinholds Elli in Neuland als „Liebesbote“ dienen, und Hans, der Jüngste, mit mir gleichaltrig, konnte in der Schule etwas besser rechnen als ich.

      Natürlich kannten wir gut die Bäckerfamilie, wo wir Brot holten. Und der Bäcker Kurt, ein Onkel von Käthe, war für uns Jungen irgendwie eine markante Person. Er ließ uns auch mal in die Backstube, und ich fand es interessant, wie er mit jungen weiblichen Kundinnen turtelte.

      Und „die Rungen“, die war für uns insofern interessant, weil wir bei ihr neben Lebensmitteln Schokoladentafeln im Regal liegen sahen, aber höchstens