Heinz Scholz

Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950


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– Ja, das müsste doch zu bestreiten sein. Irgendwer hatte auch einen Groschen bei sich. Ich weiß nicht, wie wir zu Streichhölzern kamen. Zu guter Letzt hatten wir drei Knaller gekauft. Daher zogen wir nun ziemlich „unverzüglich“ aus der Stadt hinaus, und gleich hinter dem Sägewerk Mährlein, in der S-Kurve sahen wir rechter Hand ein Stoppelfeld, auf dem wir Mäuselöcher vermuteten. Dem war auch so. Was folgte war klar: Die Knaller hinein ins Mäuseloch, einer muss die Dochte anzünden, und dann nichts wie weg. Es knallte beträchtlich. Es blieb jedoch ein mittelmäßiges Gaudi. In unserem Eifer hatten wir nicht weiter nach links und rechts gesehen und wohl nur so beiläufig mitbekommen, dass da ein Bauer seitwärts auf dem Feld mit den Pferden pflügte.

      Am nächsten Tag in der Schule, erst am späten Vormittag, nachdem der Ehrentraut-Bauer, besagter pflügender Bauer vom Vortag, an der Klassentür geklopft und uns schießende Begräbnissänger beim Lehrer angeschmiert hatte, begann unser Otto mit der Verhandlung dieses unerhörten Vorfalls: „Ungehörig so ein Verhalten – grundsätzlich, … und schwerwiegender noch, weil unmittelbar nach einer Trauerfeier, vor allem … pietätlos … und sogar mit dem Kreuz Jesu! … das habe den Bauern, Herrn Ehrentraut, zu Recht erzürnt.“ Hier muss ich zu besserem Verständnis hinzufügen, dass außer uns Begräbnissängern stets noch einer der kräftigen Jungen in schwarzem Umhang und mit hochgehaltenem Christuskreuz vor dem Sarg stehen und auch dem Trauerzug vorangehen musste. Dieser Kreuzträger also war mit uns; und er hatte sich – da ja nicht mehr im „Dienst“ – genauso wie wir munter und flink auf dem Acker bewegt und war samt seinem zwei Meter langen schwarz lackierten Kreuz vor dem Feuerknall in Deckung gerannt. Jetzt war für uns klar: Das Christuskreuz bei der Sprengung von Mäuselöchern muss wohl den Ausschlag gegeben haben. Wenngleich wir, weil wir von einer gewissen nachbarlichen Uneinigkeit mit unserem Lehrer wussten, wiederum meinten, der „Ehrentraut-Pauer“ wolle mit seiner Anzeige unserem Otto nur eins auswischen. Mit diesem Gedankengefüge im Kopf, fand ich es überaus ungerecht, dass wir 4 oder 5 Delinquenten nun nach vorn kommen und jeder drei Stockschläge entgegennehmen mussten. Nach meinem Gerechtigkeitsempfinden erschien mir diese Bestrafung vollkommen unberechtigt! Waren wir wirklich Übeltäter? Hatten wir jemandem geschadet oder weh getan? Das war doch ein harmloses Spiel! Hat er nur so hart gestraft, um dem lästigen Ehrentraut-Bauer Genüge zu tun? – Soll er doch beim nächsten Begräbnis allein singen!

      Es war für mich eine bittere Enttäuschung, und sie machte mich in der Folge trotzig. Ich verhielt mich im Unterricht in den folgenden Tagen völlig passiv, trotzte also sichtlich. Und da der Lehrer es sofort merkte, wollte er mich niederzwingen anstatt mich austrotzen zu lassen. Wir hatten Erdkunde. Und im Atlas wie an der großen Landkarte war ich ziemlich gut bewandert. Manchmal zitierte er mich nach vorn, damit ich den anderen an der Karte zeige, was man wissen müsse. Diesmal rief er mich wieder vor, doch ich blieb vor der Landkarte stehen und sagte mürrisch: „Ich weiß es nicht!“ Da wies er auf die Deutschlandkarte daneben: „Zeig uns die deutsche Hauptstadt!“ Ich blieb bewegungslos und stumm stehen. „So“, sagte er, „wer auf der Karte Berlin nicht finden kann, der kann auch nicht Klassenerster bleiben. Pack deine Sachen und setz dich auf den vierten Platz!“ Damit war ich degradiert. Die anderen vor mir rückten auf und saßen nun auf den ersten Plätzen. Das ging mir an die Nieren. In den Tagen danach muss ich wohl klein beigegeben haben, oder auch der Lehrer war nachsichtiger geworden. Jedenfalls wurde ich dann aus irgendeinem Anlass wieder vorgesetzt auf den ersten Platz und blieb auch „Klassenerster“ bis zum Ende meiner Schulzeit …

       Der Lehrer und seine Schüler in der Evangelischen Volksschule Hartelangenvorwerk 1938.

      Unser Schulhaus war ziemlich neu, 1913/​1914 erst gebaut. Man sagte: das schönste Dorfschulhaus weit und breit, mit stattlicher Lehrerwohnung, aber für die Schüler/​innen nur mit einer Plumpsklo-Anlage im Hinterhof. Das Schulgebäude lag am Dorfrand, nahe des Eisenbahngleises, über das in unmittelbarer Nähe eine Holzbrücke hinauf zum „Schießplatz“ führte, auf dem wir im Turnunterricht genügend Platz für Ballspiele fanden. Kleiner und nur eingeschränkt benutzbar war der umzäunte Spiel- und Turnplatz unmittelbar neben der Schule. Hier tummelten wir uns während der Pausen, und hier „hielt“ unser Lehrer auch meist den Turnunterricht „ab“. Das heißt, er ließ unter seiner Leitung größere Schüler/​innen als eingesetzte Riegenführer oder Vorturner agieren. Dafür gab es eine Weitsprunggrube, einen Barren und ein Reck. Unser Otto war unsportlich oder seines Alters wegen nicht mehr in der Lage, mitzuturnen bzw. vorzuturnen. Er stand daneben im Anzug mit Krawatte und Spazierstock und gab lediglich theoretische Anweisungen, die wir für überflüssig hielten, denn wir mussten sowieso allein zusehen, was wir zustande brachten. Eigentlich lag alles in unserer Hand, zumindest das praktische Training und die Ausführung der Übungen. Und die Vorturner, die Geschicktesten aus unseren Reihen, die konnten trotz ihrer laienhaften Führungsrolle zumindest mit unserem sportlichen Eifer rechnen. Dass der Lehrer nur ermunternd oder bemängelnd daneben stand, störte uns nicht, aber wenn er am Reck beim Klimmzug die Schlappen anspornen wollte, indem er sie mit Hilfe einer kitzelnden Nadel am Gesäß pickte, das nahmen wir ihm übel!

      Jedes Jahr, im Frühsommer, fanden die „Reichsjugendwettkämpfe“ statt. Alle Schulkinder im Alter von 10 – 14 Jahren mussten daran teilnehmen, und wir freuten uns darauf, denn viele von uns waren von sportlichem Ehrgeiz erfüllt. Es galt, im 60-m-Lauf, im Weitwurf und im Weitsprung insgesamt 180 Punkte zu erringen und möglichst zu überbieten, um als Sieger das begehrte Reichsjugend-Wettkampfabzeichen zu erwerben. Die Wettkämpfe wurden mit anderen Dorfschulen gemeinsam an zentraler Stelle ausgetragen, meistens auf einer großen Sportwiese in einem unserer Nachbardörfer. Es kam auch darauf an, dass unsere Schule gut abschnitt. Mein Bruder Helmut wie auch ich, wir konnten jedes Jahr mehr als 180 Punkte erringen und somit immer das Siegerabzeichen gewinnen.

      Wir zwei Jungen wie auch die meisten der Dorfkinder waren keine Spezialisten und schon gar keine Leistungssportler im heutigen Sinne. Doch wir waren im Allgemeinen sehr behänd und flink und auf ganz natürliche Weise gut durchtrainiert, weil wir viel an frischer Luft in ständiger Bewegung waren. Unsere dörfliche Region mit Höfen, Gärten, Bergen, Wald und Wiesen war ein einzigartiger, großer Spielplatz für uns Jungen. Und wir hatten laufend Ideen und Projekte, die uns ständig in Bewegung hielten. – Im Turnunterricht, um darauf zurückzukommen, hatten wir allerdings auf Grund der Unzulänglichkeiten keine gründliche Ausbildung erhalten. Wir drängten den Lehrer auch gern zu Ball- oder Laufspielen. Mit nie erlahmender Begeisterung spielten wir „Völkerball“. Auf diese Weise lief der „Turnunterricht“ wie von allein.

      Auch der Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern erfolgte sehr allgemein und oberflächlich. Unter dem Begriff Naturkunde lernten wir etwas von der Lebenswelt; unter dem Begriff Naturlehre erfuhren wir einiges, was man heutzutage den Fächern Physik und Chemie zuordnet. Interessant fand ich – als „Bahner“ – Bau und Funktion der Dampfmaschine, ansonsten ist mir von Ottos Naturlehre nicht viel in Erinnerung geblieben. Auf „Rechnen“ wurde zu meinem Verdruss viel Wert gelegt, die Anzahl der Wochenstunden betreffend, doch unser Lehrprogramm ging nicht über die vier Grundrechnungsarten sowie über Bruchrechnung, Dreisatz, Prozent und Zinsrechnung hinaus. Ich sträubte mich gegen „tote“ Zahlen und tat nur das Nötigste. – Meine Lieblingsfächer waren Geschichte, Erdkunde und Deutsch, hier ging mir das Lernen leicht von der Hand, obwohl wir leider vorrangig Rechtschreibung und Grammatik betrieben. Aufsätze mussten wir schreiben, ohne zu erfahren, wie man sie schreibt. Auch im „Singen“ und „Turnen“ hatte ich beste Noten.

      Was Zeugniszensuren bzw. Bewertungsnoten angeht, höre ich unseren Otto heute noch, wie er wiederholt verkündete: „Es gibt kein ‚Sehr gut‘!“ Damit wollte er uns weismachen, dass bei aller Anerkennung einer Leistung nie eine Vollkommenheit erreicht werden kann. Damals schien mir das einzuleuchten. Später habe ich diese absolute Bewertung kritisch gesehen, denn er hat den relativen Aspekt nicht berücksichtigt. Doch vielleicht hat er auf seine Weise uns sagen wollen, dass er Leistungen grundsätzlich nicht beschönigen wolle. – Wandertage gab es natürlich auch während unserer Schulzeit. Da fällt mir ein, wie wir als Abteilung der Unterstufe auf der Landstraße in Richtung Kalkbusch marschierten und uns ein eigenartiges Gefährt entgegenkam: ein Motorfahrzeug, verkleidet mit grauen Platten nach