Heinz Scholz

Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950


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wir begnügten uns jeder mit einem Brathering aus der großen Blechdose.

      Im Vorderdorf war ich gern bei Tüllners. Sie waren zugezogen und hatten Anfang der dreißiger Jahre einen Bauernhof übernommen, und der Sohn Lothar wurde mein bester Freund. Es war für mich eine schöne Jungenfreundschaft. Er war ruhiger als ich, aber mir sehr zugetan. Auch seine Mutter war mir auffallend freundlich gesinnt und legte Wert auf unsere Freundschaft. Ich fühlte mich wohl bei Tüllners. Der verhältnismäßig große vierflüglige Bauernhof war für mich eine andere Welt. Mit Lothar stöberte ich überall herum, von den Kellern bis hinauf in die Körnerkammern gab es allerhand zu entdecken, und er als Jüngster neben zwei älteren Schwestern brauchte nicht ernsthaft in der Wirtschaft zu helfen. Wenn wir mal Schweinskartoffeln mit dem großen „Dämpfer“ auf dem Hof vorbereiten sollten, war das eher wie eine Freizeitbeschäftigung mit einer leicht zu bedienenden Maschine. Ein ziemlich großer Hühnerhof nach dem Garten zu war oft im Gespräch. Ein Fuchs aus dem nahen Wald ging seiner Raubgier nach. Wir spürten ihn auf und machten uns dran, den Fuchsbau auszugraben, kamen wohl aber zu spät. Gänge und Nest waren leer, wahrscheinlich hatte er sich anderswo einen sicheren Bau eingerichtet. Als Lothar ernsthaft an Diphtherie erkrankt war und in Löwenberg im Quarantänehaus lag, habe ich gebangt und gelitten. Wir hatten später, auch im Krieg, während er an der West- und ich an der Ostfront war, noch brieflichen Kontakt miteinander, und sogar nach dem Krieg hatten wir uns wieder ausfindig gemacht, er in Sachsen und ich in Thüringen. Aber Lothar hat dann die Freundschaft abgebrochen, und ich glaube, ich bin schuld daran. Noch heute leide ich darunter.

      Vom Dunkel-Bauer, vom einzigen Gutsbesitzer in unserem Dorf, war bereits die Rede. Er war schon ein alter Mann; der kränklich aussehende Sohn leitete die Gutswirtschaft, und mit zur Familie gehörte die verwitwete Tochter mit ihren drei Kindern Ingrid, Manfred und Reinhard. Die drei gingen nach dem 4. Schuljahr auf das Gymnasium in Löwenberg. Nur mit Manfred, so alt wie ich, blieb ich weiter in Verbindung, und zwar im Jungvolk. – Unweit von Dunkels Hof befindet sich heute noch die Ruine einer alten Wasserburg, umgeben von einer verfallenen Wallanlage mit ehemals breiten Wassergräben. Als Jungen haben wir die Ruinenmauern erstiegen und im Winter auf den zugefrorenen „Burgteichen“ „geschindert“, was heißt, dass wir mit Holzpantoffeln, auf deren Sohlen wir je zwei Kupferdrähte als Gleitschienen befestigt hatten, auf dem Eis geschlittert sind.

      Diese Ringwallanlage oder Sumpfburg soll ehemals den slawischen Bewohnern der Bober-Aue als Fliehburg gedient haben. Sie könnte also 800 bis 1000 Jahre alt sein.

      Die Tüllners wie auch die anderen Bauern des Dorfes waren nicht ausgesprochen reiche Bauern. Die Weltwirtschaftskrise 1929 – 32 und mit ihr die erlahmende Kaufkraft hatte die Preise ihrer Produkte sinken lassen. Mit der nazistischen Ausrichtung der Wirtschaft auf Rüstung und Kriegsvorbereitung ging es Mitte der dreißiger Jahre auch den Bauern wieder besser. Vor allem die Wehrmacht, der „Arbeitsdienst“ und die Füllung der Staatsreserven verlangten nach mehr Lebensmitteln. Wir Arbeiterjungen im Dorf waren bei den Bauern auch gefragte Arbeitskräfte, besonders in den „Kartoffelferien“. Doch wir zogen vor, uns bei den Gutsbesitzern im benachbarten Rackwitz zu verdingen. Dort bekamen wir 1,20 Mark pro Tag einschließlich Frühstück, Mittagessen und Vesper. Am liebsten arbeiteten Helmut und ich beim Sauer-Pauer. Dort konnten wir auch in der Knechtstube übernachten, bekamen zuzüglich noch das Abendbrot und gewannen nach Feierabend interessante Einblicke in das Hof- und Gesindeleben! Und die Bauersfrau nahm sich unser an, kam abends zu uns an den Tisch, drängte uns zu ordentlichem Waschen und schmierte uns die vom Kartoffellesen rauhen, aufgesprungenen Hände mit Schweineschmalz ein. Es war für uns 12- und 13-Jährige eine harte und auch qualvolle Arbeit. Von 7 Uhr an bis 18 Uhr, abzüglich der Pausen, waren wir auf den Beinen. Das heißt, meist in gebückter Haltung oder auf den Knien rutschend hatten wir hinter der Schleuder auf einem abgemessenen Streifen die Kartoffeln in Körbe zu lesen und diese in den bereitstehenden Kastenwagen zu entleeren. Der Rücken, der Rücken … ich spüre ihn heut noch, wenn ich daran denke. Und wenn wir erlahmten, wurden wir unerbittlich angetrieben! Eine Woche, höchstens 10 Tage, das konnte man gerade noch durchhalten. Aber es hat uns niemand zu solch einem Einsatz gezwungen! Weder die Eltern noch die Schule. Wir wollten das, denn es war für uns Jungen eine Möglichkeit, durch selbst verdientes Geld sich einen Sonderwunsch zu erfüllen. „Wenn du eine Fahrradbeleuchtung brauchst, dann musst du sie dir verdienen. Wir können sie nicht kaufen!“ Was will man da machen? Das gebrauchte Fahrrad für mich hatte Vater mit 18 Mark bezahlt. Also wenn ich nun in der Dunkelheit nicht mit Karbidlampe fahren wollte, musste ich eine Woche lang hart arbeiten. Dynamo und Lampe mit Kabel kosteten 7,50 Mark bei unserem Hoffmann Fritz.

      An dieser Stelle muss ich endlich erklären, dass es bei uns in der schlesischen Umgangssprache üblich war, den Nachnamen vor den Vornamen zu stellen. Ich war also für die anderen, wenn sie von mir redeten, der Scholz Heinz oder der Bahner-Scholz-Heinz, und Hoffmann Fritz, das war unser Fahrradmechaniker Fritz Hoffmann, der im Hinterdorf nicht weit von uns eine Werkstatt und einen Verkaufsladen eingerichtet hatte. Eigentlich war er ein Universalmechaniker. Er reparierte und verkaufte nicht nur Fahrräder, auch Grammophone und zunehmend Radios und dann noch Nähmaschinen. Natürlich lötete er auch Töpfe, legte eine „elektrische Leitung“ oder reparierte irgend einen anderen defekten Mechanismus. Und – er hatte eine hübsche, blondzöpfige Tochter! Aber darauf komme ich noch zurück.

      So als Dreizehnjähriger kannte ich so gut wie alle Leute im Dorf. Ich nahm fast jeden zur Kenntnis, wollte auch wissen, wer ist wer. Und bei 480 Einwohnern ist das kein großes Problem, wenn man im Dorf unterwegs ist, sich für andere Leute interessiert und auch hinhört, was da oder dort über diesen oder jenen erzählt wird. Manchmal erfuhr man auch durch direkte Begegnungen, durch bekannt gewordene auffällige Verhaltensweisen oder Leistungen Näheres über eine bestimmte Person, so dass man sich dann aus seiner kindlich jungenhaften Perspektive ein eigenes Bild machte. So lernten wir auch unter den verheirateten Männern einige als „Schürzenjäger“ einzuschätzen, oder wir hörten von Frauen, die es „sehr schwer hätten“ und natürlich auch von schlimmen Krankheiten, die verhältnismäßig junge Frauen oder Männer nach „schwerem Siechtum hinwegrafften“. – Einmal im Sommer hatte mich Vater in ein Haus im Vorderdorf geschickt, um dem darin wohnenden dorfbekannten Manne eine bestimmte Nachricht auszurichten. Da ich barfuß und ungehört durch offene Türen Hausflur und Wohnung erreichte, stand ich ganz plötzlich in der Wohnküche, zuckte aber ganz schnell zurück, dieweil der Hausherr eben in diesem Augenblicke am Sofa auf für mich eigenartige Weise mit seiner Frau hantierte und umging. „Das hätte ich von dem nicht gedacht!“ So meine gedankliche Reaktion aus der Sicht eines unwissenden, unaufgeklärten Jungen. Da geschah auch manches im Dorf oder in Familien, das uns, wenn wir zusammenhanglos davon erfuhren, zu einer recht bedenklichen oder zweifelhaften moralischen Wertung verleitete.

      Ich denke hier an die spektakuläre Geschichte mit der Opitz Marie, aus der Erwachsenensicht: ein klassischer Fall von Kindestötung. Nun, diese Marie, eine sitzengebliebene alte Jungfer zwischen 35 und 40, hatte ihr heimlich zur Welt gebrachtes Kind im sumpfigen „Errlicht“ verscharrt. Das wurde nun auf dem Schulweg mit sensationellen Enthüllungen weitergesagt und phantasievoll bis ins Kleinste durchgesprochen. Ein richtiges Kriminalstück, an dessen Erklärung wir spekulativ mitarbeiteten. In der Scheune habe sie am Vortage noch mit Flegeln das Korn mitgedroschen! Keiner habe etwas gemerkt, keiner hat den dicken Bauch gesehen! Wie das? Darüber mussten wir nachdenken! Und wer hat sie geschwängert? Das war ja die wichtigste Frage! Und warum hat sie alles „mitgemacht“? Dass sie das Kind aus Scham verschwiegen hatte – das glaubten wir zu verstehen, denn die ganze Sache war ja wirklich „schämenswert“! – Bald wurde auch unter vorgehaltener Hand der „Schürzenjäger“ benannt. Und die Marie, sie war längst „abgeholt“ worden, aber von dem Gerichtsprozeß war nichts Genaues zu erfahren. Nur dass sie dann nach Plagwitz in die „Verrücktenanstalt“ eingewiesen worden sei, das fanden wir so ungefähr in Ordnung. „Das arme Luder“, so meine Mutter, die viel besser als wir Jungen einzuschätzen verstand, was da vorgefallen war.

      Bald wurden wir wieder abgelenkt durch andere Vorkommnisse. Da waren doch noch einmal die Zigeuner ins Dorf gekommen und hatten auch am Errlicht mit ihrem Planwagen ihr Lager aufgeschlagen, und deren Frauen zogen bettelnd von Haus zu Haus. Oder das Manöver hatte wieder mal unser Dorf berührt, was uns sofort in Bewegung setzte, Kontakte zu den Soldaten zu knüpfen und Neues