Peter Langer

Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch


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Anfang Juni 1916 mehrere Beschwerden über diese Probleme vor. Hinzu kam die Kritik von den Gewerkschaften, dass nach der Einführung einer Kinderzulage prompt die Löhne gesenkt worden seien und dass in den Betrieben Lebensmittel bevorzugt an die Mitglieder der „gelben“ Gewerkschaften verkauft würden. Reusch berichtete dem Verein für bergbauliche Interessen über diese Beschwerden und kündigte an, dass er der Sache nachgehen werde.165

      Die wohl umfassendste Übersicht über die Ernährungsprobleme im Sommer 1916 ist dem Bericht über eine Sitzung am 9. Juni im Düsseldorfer Regierungsgebäude zu entnehmen. Neben Reusch waren „außer dem stellvertretenden Herrn kommandierenden General die sämtlichen Herren Landräte und Oberbürgermeister des Regierungsbezirks Düsseldorf“ anwesend. An erster Stelle standen die Klagen über den Kartoffelmangel, der zu der einmütigen Forderung führte, die gesamte Ernte zu beschlagnahmen. Dadurch wollte man Händlern, die in einigen Regionen anscheinend sehr aktiv waren, zuvorkommen. Die Forderung, das Brennen von Schnaps aus Kartoffeln zu verbieten, wurde allerdings „mit Rücksicht auf den Bedarf des Heeres an Spiritus zurückgewiesen“. Sehr heftig wurde der undurchsichtige Verteilungsschlüssel für Fett und Butter kritisiert. Bei den Garnisonen gab es anscheinend große Mengen an lebendem Vieh, da z. B. dem Generalkommando in Münster doppelt soviel Fleisch zugewiesen worden war, wie ursprünglich angefordert. Die Teilnehmer der Sitzung forderten die Einschränkung des Fleischverzehrs bei den Soldaten. Besonders scharfe Kritik richtete sich gegen die chaotische Versorgung der Bevölkerung mit Eiern und Käse. Der General aus Münster beschwerte sich über die hohen Preise der aus Holland eingeführten Milchkühe. Da diese Kühe bei Preisen bis zu 2.000 Mark keine Abnehmer fänden, habe die Militärverwaltung sie als Schlachtvieh übernehmen müssen. Schließlich wurde von Seiten der Oberbürgermeister dringend darum gebeten, Beschlüsse des Kriegsernährungsamtes erst dann zu veröffentlichen, wenn sie auch „in die Tat umgesetzt“ werden konnten, da sonst die Rathäuser sofort „von der Bevölkerung belagert würden“.166

      Es scheint bei dieser Sitzung weitere Informationen oder Gerüchte gegeben zu haben, die nicht Eingang in den schriftlichen Bericht fanden. Reusch nahm sie zum Anlass, sich noch am gleichen Tag an Generalmajor Groener zu wenden. Es werde gemunkelt, dass es in den Gefangenenlagern große Mengen an Speck gebe. Der Generalmajor möge das prüfen und eventuell Teile der Speck-Vorräte für die Bevölkerung abzweigen. In einem weiteren Schreiben vom gleichen Tage wies er Groener darauf hin, dass die Lebensmittelknappheit im Revier durch die große Zahl der Verwundeten in den Krankenhäusern noch verschärft werde. Er bat darum, keine weiteren Verwundeten ins Ruhrgebiet zu bringen und die Rekonvaleszenten in andere Gebiete Deutschlands zu verlegen.167

      Auch die Vorstandssitzung des Kriegsernährungsamtes, elf Tage nach der Konferenz beim Regierungspräsidenten, am 20. Juni 1916 wurde nach Düsseldorf einberufen. Reusch schlug nicht nur, wie bei anderen Sitzungen auch, eine komplette Tagesordnung vor, sondern war eifrig bemüht, daraus eine weitere Großveranstaltung zu machen mit dem Kommandierenden General in Münster Freiherr von Gayl dem Oberpräsidenten der Rheinprovinz und Westfalens, den vier Regierungspräsidenten, allen Landräten und Oberbürgermeistern sowie dem Unterstaatssekretär Freiherr vom Stein.168 Vor der Groß-Sitzung war für den Präsidenten Batocki eine Besichtigungsfahrt durchs Ruhrgebiet arrangiert. Reusch sorgte dafür – wen konnte das überraschen? – dass bei dieser Tour die Betriebe der GHH im Mittelpunkt standen: Zeche und Kokerei in Osterfeld, die Geschossfabrik in Sterkrade und die Stahlwerke in Oberhausen.169 Ein ähnliches Besuchsprogramm hatte Reusch für Generalmajor Groener vorgesehen, als dieser zu einer Besprechung mit Industriellen am 1. Juli nach Düsseldorf kam. Als Groener absagte, ließ Reusch es sich zumindest nicht nehmen, den hohen Offizier am Düsseldorfer Parkhotel nach dem Frühstück persönlich zu der Besprechung abzuholen.170

      Obwohl Reusch die Mangelsituation bei Lebensmitteln durch seine Tätigkeit im Kriegsernährungsamt besser kannte als andere Industrielle, führte er die öffentliche Unzufriedenheit in hohem Maße auch auf die Berichterstattung in der Presse zurück und plädierte für eine harte Zensur. Das „Vorgehen der linksstehenden Presse auf diesem Gebiet [kann] das deutsche Volk in eine sehr böse Lage bringen und das Durchhalten außerordentlich erschweren.“ Die Zeitungen müssten wenigstens „auf das allerschärfste“ angewiesen werden, jegliche Kritik an den Preisen zu unterlassen. Er war der Ansicht, „dass die arbeitende Bevölkerung auch über einen Kartoffelpreis von 4,50 [Mark] pro Zentner kein Wort verlieren wird, wenn sie nicht durch Zeitungen oder Agitatoren aufgehetzt wird.“171

      Abb. 11:Geschossproduktion in Sterkrade, aus: Büchner, 125 Jahre GHH, S. 57

      Nach der großen Konferenz des Kriegsernährungsamtes in Düsseldorf lud Reusch im Juli 1916 die für das Revier zuständigen Regierungspräsidenten von Düsseldorf, Münster und Arnsberg zusammen mit den Oberbürgermeistern der großen Revierstädte Oberhausen, Essen und Gelsenkirchen, aber auch der kleinen Gemeinden, in denen die Arbeiter der GHH wohnten (Sterkrade, Osterfeld, Hiesfeld, Walsum), zu einer Besprechung nach Oberhausen ein. Es ging vor allem um die Klagen über die ungerechte Verteilung der Brotzusatzkarten. In den Städten, aus denen die Arbeiter der GHH kamen, herrschte große „Erbitterung“, weil in Osterfeld – einer der Hochburgen der wirtschaftsfriedlichen, „gelben“ Werkvereine – angeblich 71,9% der Arbeiter, in Sterkrade aber nur 47,4% diese Zusatzkarten erhielten. Von den 4.000 Mann der Sterkrader Geschossfabrik seien es gar nur 23% .172 Es wurde vereinbart, dass die Brotzusatzkarten nur einer eng eingegrenzten Gruppe echter Schwerarbeiter vorbehalten bleiben sollten; zusätzlich sollte in einer Notstandsaktion die akute Situation bei den Berg- und Feuerarbeitern durch Verteilung von Speck und Streichfetten entspannt werden.173 Nach dieser Besprechung sah sich Reusch in der Lage, den seit langem in Arbeiterkreisen erhobenen Vorwurf, dass die Mitglieder der „gelben“ Werkvereine bevorzugt würden, zurückzuweisen.174 Kurz danach klärte er den Präsidenten des KEA über die Zahlenverhältnisse bei den Gewerkschaften auf: Die 1,4 Millionen bei den freien oder christlichen Gewerkschaften organisierten Arbeiter repräsentierten nur 2% der deutschen Bevölkerung, ihnen stünden Millionen nichtorganisierter Arbeiter gegenüber. In den wirtschaftsfriedlichen Werkvereinen seien 275.000 Arbeiter zusammengeschlossen. Erstaunlicherweise leitete er aus diesen Zahlen ab, dass die freien und die christlichen Gewerkschaften keineswegs den Anspruch erheben könnten, „die berufenen Vertreter der Arbeiterschaft“ zu sein.175

      In seiner bisweilen pathologische Züge annehmenden Feindschaft gegen die Gewerkschaften, die gepaart war mit einer einseitigen patriarchalischen Zuneigung zu den „Gelben“, manövrierte sich Reusch Anfang August 1916 in einen wochenlangen bizarren Streit um Unterschriften. Es ging um einen der unzähligen öffentlichen Aufrufe zum Durchhalten. In einer kurzfristig einberufenen Besprechung im Kriegsernährungsamt hatte August Müller für die freien Gewerkschaften erklärt, dass sie die Unterschrift verweigern würden, wenn auch die „gelben“ Gewerkschaften unterschrieben. Die Vertreter der Industrie nahmen danach eiligst Kontakt mit Hugenberg und anderen Unternehmern auf, wonach der Centralverband Deutscher Industrieller (CDI) auch mit dem Widerruf der Unterschrift drohte – für den Fall, dass die Gelben nicht unterschreiben dürften; der Bund der Landwirte wurde gedrängt, sich ebenfalls mit dem CDI und den Gelben gegen die freien Gewerkschaften zu solidarisieren. Es erregte erhebliches Aufsehen, dass im Gegensatz zum Centralverband, wo die Schwerindustrie dominierte, der Bund Deutscher Industrieller, vertreten durch Stresemann, sich bereit fand, gemeinsam mit den freien Gewerkschaften zu unterschreiben, auch wenn die Unterschrift der Gelben fehlen sollte. Schließlich stimmte der Vertreter des Centralverbandes einem Kompromiss zu: Die gelben Werkvereine sollten ihre Unterschrift auf eine nachträglich gefertigte gesonderte Liste setzen.176

      Als Reusch, der wegen einer Aufsichtsratssitzung nicht in Berlin war, von der Sache Wind bekam, zog er sofort per Telegramm seine Unterschrift zurück, musste dann aber erfahren, dass der Aufruf bereits mit seiner Unterschrift an die Presse gegangen war.177 Unter dem Aufruf „An die Verteidiger des Vaterlandes in der Heimat“ stand Reuschs Name neben den Namen vieler anderer, meist adeliger Persönlichkeiten, aber eben auch neben den Namen der Gewerkschaftsführer