den Berliner Behörden abgesprochen war, da er sich Mitte April 1917 mit General Groener und dem Präsidenten des Kriegsernährungsamtes Freiherrn von Batocki traf, wobei es anscheinend in erster Linie um die Unterbindung des Schmuggels und des Schleichhandels ging. Auf welchen Wegen allerdings die Betriebsleitung der GHH sich den Speck besorgt hatte – es kann sich ja nicht um kleine Mengen gehandelt haben –, muss offen bleiben. Reusch benutzte für seine Anordnung, den Speck unter Verschluss zu halten, ganz stilvoll den Kopfbogen des „Russischen Hofes“ in Berlin – eines Hauses, das sich auch in diesen Steckrübenwintern seiner „anerkannt vorzüglichen Küche“ rühmte.211 Drei Tage später, als in Berlin am 16. April über 200.000 Arbeiter in den Streik traten und gleichzeitig ein Massenstreik in Leipzig für den folgenden Tag angekündigt war, hielt er sich in Stuttgart auf. Regierung und Militärbehörden wollten diese Massenbewegung zunächst durch Zugeständnisse ins Leere laufen lassen, schwenkten aber auf eine ganz harte Linie ein, als die Berliner Arbeiter die in Leipzig formulierten politischen Forderungen übernahmen.212
Abb. 12:Speckverteilung: Originalschreiben auf Kopfbogen des Russischen Hofs, in: RWWA 130-300193003/7
Abb. 13:Telegramm aus Stuttgart, in: RWWA 130-300193003/7
Reusch machte sich von Stuttgart aus über die weiche Welle der Behörden in Berlin lustig; diese seien „in den letzten Tagen sehr nervös gewesen“, weil sie einen Generalstreik befürchteten. Er habe aber „den maßgebenden Herren in Berlin gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass [er] für den Westen keine diesbezüglichen Befürchtungen hege“.213 Woltmann konnte sofort per Telegramm bestätigen, dass im Ruhrrevier alles ruhig sei; was die Betriebe der GHH anging, so gebe es nur auf der Zeche Jacobi gewisse „Schwierigkeiten“.214 Trotzdem drängte Reuschs Stellvertreter, u. a. zuständig für die betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen, auf Zugeständnisse: „Die Sonderzuteilung von Speck ist den Bergarbeitern in der vorigen Woche aufgrund unserer Besprechung zugesagt. Diese Zuteilung bildete eins der Mittel, um die Arbeiterschaft in dieser Woche ruhig zu halten. Wir müssen daher den Speck unbedingt in dieser Woche verteilen.“ Denn die Lage war in Osterfeld, das an das unruhige Bottrop angrenzte, immer noch angespannt. Auf Jacobi seien zwar zunächst nur die in Bottrop wohnenden Arbeiter wegen der unzureichenden Kartoffelversorgung in dieser Gemeinde nicht angefahren. „Das Ergebnis war eine Zuweisung an die Schwerarbeiter von 2 Pfund Kartoffeln auf die Schwerarbeiterkarte, außerdem Ersatz in Gries, Graupen und Sauerkraut.“ Diese Sonderzuteilungen kamen offenbar aus den Vorräten der GHH, denn prompt weigerte sich auch „der in Osterfeld wohnende Teil [der Jacobi-Belegschaft], welcher keinerlei Klagen vorzubringen hat“, anzufahren. Nach Anhörung des Arbeiter-Ausschusses werde er über das weitere Vorgehen entscheiden.215 Am folgenden Tag fuhren alle Arbeiter auf Jacobi wieder an.
Jetzt streikten aber die Kumpel auf der benachbarten Zeche Osterfeld, die von ihren Nachbarn sicher über die Zugeständnisse auf Jacobi informiert worden waren. „Die Leute sind zur Waschkaue gekommen, haben dann aber die Arbeit nicht angetreten.“ Die Mitglieder des Arbeiter-Ausschusses würden von „Agitatoren“ gedrängt, den Schlichtungsausschuss anzurufen. Die noch unschlüssigen Ausschussmitglieder sollten durch eine Belegschaftsversammlung „vergewaltigt“ werden.216
Einen Tag später klang alles schon viel weniger dramatisch: Woltmann hatte Reusch telegraphiert, dass auf den beiden Osterfelder Zechen wieder „alles zur Arbeit angefahren“ sei. Auf Jacobi habe der Arbeiterausschuss getagt, ohne aber irgendwelche Forderungen zu beschließen. Deshalb gebe es dort keine Notwendigkeit zum „Eingreifen“ des Schlichtungsausschusses. Auf Osterfeld habe sich eine große Arbeiterversammlung stundenlang nur mit der Einrichtung eines kommunalen Lebensmittelausschusses beschäftigt, zur Erörterung von Lohnfragen sei die Versammlung gar nicht gekommen.217 Noch am gleichen Tag gab Paul Reusch aus Stuttgart telegraphisch grünes Licht: „Speckverteilung kann vorgenommen werden. Preisfrage ist offen zu lassen.“ Darüber wollte er persönlich nach seiner Rückkehr nach Oberhausen entscheiden. Veranlasst durch die kürzlich in Berlin geführten Verhandlungen – konkreter wurde er dabei nicht – werde er voraussichtlich entscheiden, dass der Speck „zum Höchstpreise abzugeben“ sei.218 Ging ihm das von den Betriebsleitern vor Ort empfohlene Entgegenkommen schon wieder zu weit? Reuschs harte Haltung in der Preisfrage entsprach der Empfehlung des Gutachters Edler von Braun, wonach die Landwirte nur durch höhere Preise zu bewegen waren, mehr Nahrungsmittel für die offizielle Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen.
Bei der Rückkehr an seinen Schreibtisch in Oberhausen fand der Konzern-Chef ein Schreiben vor, in dem auf der ganzen Linie Entwarnung signalisiert wurde. Der Arbeiterausschuss der Zeche Jacobi habe keine Anträge an die Betriebsleitung beschlossen. Bei der stundenlangen Arbeiterversammlung auf Osterfeld sei auch nichts herausgekommen. Der Amtmann der Gemeinde Osterfeld habe die Leute dadurch beruhigt, dass er die Einrichtung eines Lebensmittelausschusses zusagte. Auf beiden Zechen wurde am 19. April wieder voll gearbeitet. „Das Einstellen der Arbeit sowohl auf Jacobi als auch in Osterfeld kennzeichnet sich als ein ganz unüberlegtes Unternehmen.“219 Das besonnene Verhalten der Arbeiterausschüsse und der offenbar geringe Einfluss radikaler Agitatoren mussten den Schluss nahelegen, dass man mit den durch das Vaterländische Hilfsdienstgesetz eingerichteten Arbeitervertretungen durchaus zusammenarbeiten konnte und dass Zugeständnisse sich auszahlten. Zu diesem Schluss kam Reusch jedoch nicht; denn schon im Sommer 1917 fuhr die Konzernleitung der GHH gegenüber den Forderungen der Arbeiter eine ganz harte Linie.
Reusch hielt alle Zugeständnisse an die organisierte Arbeiterschaft für schädlich. Als durch das Hilfsdienstgesetz Schlichtungsausschüsse ohne Beteiligung der gelben Werkvereine eingerichtet wurden, versuchte er deren Arbeit zu behindern, indem er empfahl, diese in Angelegenheiten der Mitglieder von wirtschaftsfriedlichen Werkvereinen als befangen abzulehnen.220 Nach den Aprilstreiks wurde seine Haltung auch gegenüber den friedlichen Werkvereinen härter, als diese es wagten, kollektiv die Beibehaltung der Kriegszulage zu fordern. Die „Gelben“ bekamen es jetzt zu spüren, dass „die Arbeiterschaft durch die Wahlen zu den Ausschüssen gezeigt hat, dass sie vollständig in den Händen der Gewerkschaften ist.“ Zwar wusste Reusch, dass Lohnerhöhungen nicht ganz zu vermeiden waren, er legte „aber Wert darauf, dass die Arbeiterschaft individuell behandelt wird, dass also nur derjenige eine Lohnzulage bekommt, der sie auch verdient hat.“ Woltmann erhielt den Auftrag, die Lohnforderungen des – gelben (!) – Werkvereins zurückzuweisen.221
Im Juni 1917 versuchten die Arbeiter des Walzwerks Neu-Oberhausen, ihre Forderung einer 100% igen Zulage für Sonntagsarbeit mit einem Streik durchzusetzen. Reusch hatte seinem Stellvertreter Woltmann und dem Betriebsdirektor Lueg eingeschärft, auf keinen Fall dieser Forderung nachzugeben.222 Im Arbeiter-Ausschuss sorgte Woltmann denn auch persönlich dafür, dass die Betriebsleitung keine Zugeständnisse machte. Daraufhin riefen die Arbeiter den Schlichtungsausschuss an und weigerten sich, sonntags zu arbeiten.223 Ob die Betriebsleitung bereits im Juni Repressalien gegen einzelne Arbeiter, d.h. die Einberufung an die Front, einsetzte, um sie gefügig zu machen, ist nicht bekannt. Im Herbst würde dieses Druckmittel dann rigoros angewandt werden: Wer streikt, kommt an die Front!
Die Herren der Schwerindustrie, Reusch eingeschlossen, machte die innenpolitische Krise im Frühjahr und Sommer 1917 nicht nachdenklich. Im Gegenteil: Sie hielten umso hartnäckiger an ihren alten Positionen fest. Trotzdem lagen manchmal die Nerven blank. Mitte des Jahres zum Beispiel ließ sich Reusch aus nichtigem Anlass zu einer erstaunlichen verbalen Entgleisung hinreißen: Er hatte in der „Kölnischen Zeitung“ gelesen, dass ein Ingenieur, der einem Bekannten seine Brotkarte abgetreten hatte, dafür zu sieben Wochen Gefängnis verurteilt worden sei. In einem Brief an den Redakteur fragte er, ob dies stimme, ob wirklich „auf Gottes Erdboden ein solcher Schafskopf herumläuft“, der derartige Urteile spreche. Reusch verlangte, „für dieses Menschenexemplar einen besonderen Galgen auf dem Potsdamer Platz zu errichten. Dummköpfe sind in der heutigen Zeit viel gefährlicher wie Verbrechernaturen.“224 Die Zeitungsmeldung wurde richtiggestellt: Der Mann hatte keine Brotkarte verschenkt, sondern angeblich 14 Brotkarten