einem angesagten Chinesen zu Tisch. Ihr sonst so gelungener Lidschatten war fahrig aufgetragen und verlieh ihr die Anmutung einer Nachteule. Das blond gefärbte Haar war nicht so gekonnt toupiert wie sonst, und zu allem Überfluss hatte sie auch noch das falsche Parfum gewählt.
Ihre smaragdgrünen Augen funkelten in einem einzigen Vorwurf. »Musst du mir eigentlich immer auf den letzten Drücker Bescheid sagen? Ich hatte dich pünktlich um halb elf angerufen, und du warst indisponiert wie so oft. Ein bisschen Zeit, um mich zurechtzumachen, musst du mir schon lassen!«
Karl-Heinz musterte ungerührt die Karte. »Ich würde es an deiner Stelle vorziehen, zu bestellen, ich habe jetzt nämlich noch genau«, er warf einen Blick auf sein Chronometer, »… zwanzig Minuten Zeit … Und du willst doch sicher nicht ohne Mittagessen wieder nach Hause?«
Der Blick seiner blassblauen Augen glitt durch sie hindurch und schien die Sekunden zu zählen, die ein imaginäres Pendel stur und vollkommen exakt aus der Zeit in den Raum lud.
Sabine schnappte einen Moment lang nach Luft. Einen Augenblick lang überlegte sie sich, aufzustehen, Karl-Heinz eine zu kleben und zu gehen. Doch ihr Magen war anderer Meinung. Sie riss ihrem Freund die Karte aus der Hand und beschloss, aus Rache das teuerste Gericht zu nehmen. Sie befeuchtete ihren rosa lackierten Finger mit der Zunge und fuhr genüsslich über das edle Hochglanzpapier.
Karl-Heinz klopfte nervös auf das weiße Tischtuch. Mit dieser Ziege verlor er nur seine Zeit – so wie mit allen anderen, dachte er in einem Anflug von Selbstmitleid. Warum konnte er eigentlich nicht eine Frau wie Joana haben, die mit beiden Füßen auf der Erde stand und doch so exotisch wirkte wie eine seltene Orchidee; eine Frau, deren schwingende Hüften einen Mann vollkommen um den Verstand bringen konnten …«
»Karl-Heinz, hörst du mir überhaupt zu?«
Er zuckte zusammen und zwang sich zu einem schmalen Lächeln. Hoffentlich, dachte er, waren die achtzehn Minuten bald vorüber.
6. Die erste Begegnung
13. September 2010
Am heutigen Montag war das Wetter diesig. Über den Himmel spann sich eine transparente Wolkendecke, die ganz Friedrichshain in ein diffuses Licht tauchte. Gegenstände und Menschen wirkten schattenlos und schienen in einer merkwürdigen Verklärtheit über dem Boden zu schweben. Die Autos schienen leiser als sonst über den Asphalt zu rollen, die Straßenhunde winselten trübe, und die Gäste in der Kneipe redeten verhalten, so als könnten sie damit ein Unwetter, das von fern her anrollte, beschwichtigen und in eine andere Richtung lenken.
Auch die beiden Freunde waren in gedämpfter Stimmung. Karl-Heinz hatte Sigi einen Interessenten vermittelt, der jedoch abgesagt hatte. Seine Telefonrechnung war noch höher als sonst ausgefallen, und sein Konto so leer wie eine sibirische Steppenlandschaft. Susi, die hübsche Bedienung, bemerkte seine melancholische Verfassung, stellte einen Vorspeisenteller vor ihn hin und bestand darauf, dass er auf Kosten des Hauses ging.
Sigi ergriff ihre Finger, die heute hellblau lackiert waren, und drückte sie an sein Herz. »Ach«, sagte er und lächelte wehmütig, »was täte ich nur ohne dich!«
»Wenn du es nur tätest …«, formten ihre Lippen und lächelten zurück.
Auch Karl-Heinz hatte ein paar Gänge heruntergeschaltet. Seine Liaison mit Sabine war wohl endgültig beendet. Nachdem er so gut wie nie erreichbar war, hatte sie ihm auf den Anrufbeantworter gesprochen und sich unter Tränen aus seinem Leben verabschiedet. Obwohl er sie eigentlich nie sehr gemocht hatte, ging ihm das Ende doch etwas aufs Gemüt. Hätte sie nicht warten können, bis er von selber Schluss machte?
Die beiden waren bei der zweiten Flasche Wein angelangt und versicherten sich wohl schon zum vierten Mal ihrer Zuneigung.
»Du bist«, bekräftigte Karl-Heinz, »ein wahrer Freund. Wenn ich dich nicht hätte …«
»Prost, Alter! Wir beide sind wirklich ein gutes Team.« Sigis Hand fuhr in seine Gesäßtasche und stieß auf gähnende Leere. »Verdammt noch mal! Ich habe schon wieder meine Börse vergessen.«
Karl-Heinz winkte ab und warf dabei seinen Wein um. »Lass nur. Ich hab’s zum Glück ja wirklich dicke!« Er stellte vorsichtig das Glas senkrecht und schenkte mit unsicherer Hand nach. »Wenn nur diese Weiber nicht wären … Das heißt – du bist in der Richtung ja gut bedient … Deine Joana ist eine wunderbare Frau, habe ich dir das schon einmal gesagt?«
Sigi dachte einige Sekunden nach und nickte ernsthaft. »Das ist sie tatsächlich … Wenn ich ihr bloß ein besseres Leben bieten könnte. Nur ein paar Tage in eine andere Haut schlüpfen … zum Beispiel in deine. Diese Malerei ist doch total für die Katz.«
Sein Freund kniff die Augen zusammen und musterte ihn schräg.
»Weißt du was? Das ist eine gute Idee! Wenn du für einige Tage – oder sagen wir eine Woche – ich sein könntest, und ich du, das wäre …«
»Um Gottes willen! Der Satz war einfach nur so dahin gesagt.«
»Nein, tatsächlich, ich meine …« Karl-Heinz überlegte, was er mit seinem Gedanken eigentlich ausdrücken wollte. »Also, ich habe ja im Prinzip alles, was du brauchst – und du hast etwas, das ich …«
Seine Stimme wurde belegt. Er bemerkte, dass sich die Stirn seines Freundes in Falten zog und ließ den Rest des Satzes in der Schwebe.
Sigi blickte angestrengt auf sein halbleeres Glas. Auf der Fläche spiegelten sich Karl-Heinz’ geschlängelte Gliedmaßen und ein riesiger Kopf, dessen Inhalt in Schlieren über die Fläche strömte. Interessant, dachte er und wusste einen Augenblick nicht, ob er gerade selbst dachte oder von jemand anderem gedacht wurde. Kann man eigentlich das Denken malen? Er musste unbedingt Joana fragen.
Ohne dass es die beiden merkten, hatte sich ein weiterer Gast an ihren Tisch gesetzt: ein dürrer dunkelhäutiger Mann, der vor seinem Mineralwasser hockte und hineinstierte, als könne er in den aufsteigenden Perlen Schicksale lesen.
Ein Hund, der sich unter Sigis Stuhl zu einem Nickerchen niedergelegt hatte, winselte, stand auf und suchte sich einen anderen Platz.
Der Fremde schloss einen Moment lang die umschatteten Augen. Plötzlich richtete er sich gerade, wandte seinen stechenden Blick auf die Männer und sagte mit starkem Akzent: »Vielleicht … könnte ich Ihnen helfen …«
Die Freunde fuhren aus ihrem Schweigen hoch und betrachteten den ungebetenen Gast. Seine dunkle Haut wirkte durch die weiße Kleidung nur noch schwärzer. Er war so spindeldürr, dass ihm Hemd und Hose um den Leib flatterten wie eine Gebetsfahne. Sie wussten nicht recht, ob sein Anblick komisch wirkte, bedrohlich oder zum Gotterbarmen.
Karl-Heinz setzte sein geschäftsmäßiges Lächeln auf und erwiderte kühl: »Nein, vielen Dank, wir sind bereits bestens bedient.«
Der Mann fuhr fort, die beiden anzustarren und entblößte seine wirr stehenden Zähne. »Ich weiß genau, was Sie sich wünschen!«
Die ungleichen Freunde überfiel ein Frösteln. Nach einer Schrecksekunde riss Sigi sich zusammen und prostete dem Fremden zu. Unsicher winkte er nach Susi, bestellte ein weiteres Glas und schenkte es voll bis an den Rand.
Der Schwarze hob das Utensil hoch, senkte es langsam in die Schräge und musterte es wie eine sich hochräkelnde Schlange. Die Flüssigkeit weigerte sich beharrlich, den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen und zu tropfen. Plötzlich rollte der Mann mit den Augen, legte das Glas an die Lippen und spülte den Wein in einem einzigen Zug herunter.
Sigi lag eine ironische Bemerkung auf der Zunge, doch als er sie aussprechen wollte, hatte er sie schon vergessen. Er schenkte ein weiteres Mal voll und blickte gebannt auf das Glas. Der Fremde hob es wie einen Kelch in die Höhe und hielt es sekundenlang in der Neige. Die Flüssigkeit darin verharrte, als sei sie zu Gelatine erstarrt. Augenzwinkernd wandte er sich seinen neuen Bekannten zu und flüsterte: »Magie …«