H. Ezadi

Marivan unter den Kastanienbäumen


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bekommen auch nur wenig Geld. Aber es ist besser, als wenn wir in den Ferien nutzlos auf der Straße herumlaufen.

      Ich stimmte ihm zu und nickte.

      „Was denkst du, Hussein? Ist doch besser, oder nicht?“

      „Ja, ich bin einverstanden“, antwortete ich.

      „Aber ich möchte dir noch etwas zu unserer Arbeit sagen“, fuhr Jewad fort.

      „Ich bin ganz Ohr!“, entgegnete ich.

      Dann erzählte er: „Bevor ich mit unserem Arbeitgeber gesprochen habe, war ich bei unseren Freunden, die du aus dem Kaffeehaus kennst. Sie sagten, wir müssten uns öfter treffen, um über das Ziel unserer Arbeit zu diskutieren. Unsere Arbeit ist eine ideologische Sache. Wir wollen den Arbeitern, ja der ganzen Bevölkerung helfen, dass sie vor Ausbeutung und Ungerechtigkeit besser geschützt sind. Wir sind für mehr Gerechtigkeit. Wir wollen mit den Menschen über die Ungerechtigkeit sprechen, ihnen zuhören, wo sie ihre Probleme haben. Jeder Einzelne wird uns sein Leid klagen und so werden wir uns ein besseres Bild von der gesamten Situation machen können. Wir wollen ihr Vertrauen für eine gute Sache gewinnen und mit den Menschen für ein gerechteres Leben kämpfen. Die Arbeiter haben nichts zu verlieren. Außer ihrem Leid, das von der Ausnutzung ihrer Arbeitskraft bewirkt wird. Von dem Lohn, den sie bekommen, kann kaum eine Familie ein würdiges Leben führen. Der krasse Unterschied ist bei dem anderen Teil der Bevölkerung zu sehen. Ich meine damit all die Beamten, die Geistlichen, das Ministerium, die nicht mit ihren Händen arbeiten, aber im Wohlstand leben, indem sie den armen Teil der Bevölkerung ausnehmen. Dieser Ungerechtigkeit wollen wir uns zusammen mit den Arbeitern widersetzen. Das sehen wir als unsere höchste Aufgabe. Aber lassen wir zunächst dieses Thema. Sag mir lieber, wie es dir geht und was es Neues bei dir gibt. Wie hat dir letzte Woche die Diskussion im Kaffeehaus gefallen?“

      Ich überlegte einen Moment und antwortete: „Es geht mir gut.“ Ich sagte nichts über mein Haus und die beste Note 20, weil ich dachte, er würde das vielleicht als lächerlich empfinden. Vielleicht dachte er über mich, ich sei ein kleiner Junge, der sich über solche banalen Dinge freute. Jewad war schließlich älter als ich und erwachsener. Stattdessen sagte ich: „Weißt du, Jewad, ich war begeistert von unserer Diskussion im Kaffeehaus. Das war ganz anders als das, was wir in der Schule lernen. Ich muss noch viel darüber nachdenken und vieles lesen, damit ich begreifen kann, wie diese Reform aussehen könnte. Ich denke dauernd an die Worte von Kak Shwane, der im Kaffeehaus zwei Seiten aufgezeigt hat, die positive und die negative. Also die Vor- und Nachteile.

      „Ja klar“, sagte Jewad und lächelte mich an. „Natürlich erwartet niemand, dass du alles gleich verstehst. Wir werden noch sehr viel darüber sprechen und diskutieren. Hab keine Angst. Hast du gehört, dass Kak Kawe einen Artikel über die Weiße Revolution geschrieben hat, was sogar der Schah belobigt hat?“

      Schnell antwortete ich: „Nein, ich habe das nicht gehört oder gelesen.“

      „Es gibt darüber unterschiedliche Meinungen in unserer Stadt“, erklärte Jewad. „Die einen sagen, es sei schlecht, man dürfe sich nicht in die Politik und in Reformen des Schahs einmischen, und es sei nicht gut, für einen solchen Artikel vom Schah gelobt zu werden. Aber das ist jetzt alles zu viel, wir werden bald näher darauf eingehen. Ich bin spät dran und muss los. Kommst du übermorgen ins Kaffeehaus?“

      „Ja, natürlich werde ich kommen.“

      Wir verabschiedeten uns. Ich ging ins Haus und machte meine Hausaufgaben. Meine Nachgedanken waren aber bei dem Gespräch mit Jewad.

      Als ich am nächsten Tag zur Schule ging, hörten wir im Schulhof, dass die erste Stunde des Unterrichts ausfiel und dass stattdessen unser Schuldirektor zu uns sprechen würde. Oh, da waren wir aber neugierig! Wir mussten uns alle wie kleine Soldaten im Schulhof aufstellen, Reihe für Reihe. Der Schuldirektor betrat die oberste Stufe der Treppe vor unserer großen hölzernen Schuleingangstür. Wie man es uns anerzogen hatte, hoben wir alle aufrichtig unseren Blick zu ihm und hörten zu, was unser Schuldirektor zu verkünden hatte.

      „Liebe Schüler, in wenigen Monaten, vom 12. bis zum 16. Oktober dieses Jahres 1971, findet anlässlich des Todes des altpersischen Königs Kyros II eine große Feier statt. Dabei wird im ganzen Land der iranischen Monarchie gedacht. Diese Feierlichkeiten erinnern unsere Bevölkerung an die iranische Kultur, die menschliche Entwicklung und die Zivilisation in unserem Land in den letzten zweitausendfünfhundert Jahren. Gerade ihr Schüler werdet in dieses Projekt eingebunden sein. Unsere Schulen bekommen einen neuen Glanz. Auch sollen in unserem Land viele neue Schulen gebaut werden. Dabei hat man unsere Schule in Marivan mit bedacht. Unsere Gebäude bekommen einen neuen Anstrich, die sanitären Anlagen werden verbessert und eure Klassenräume werden renoviert. Soweit ich erfahren habe, werden während der Feierlichkeiten viele ausländische Gäste erwartet. Unser ganzes Land wird im Glanz zahlreicher Lichter erstrahlen und jeder ist aufgefordert, sein Bestes dafür zu tun. So ist der Plan unseres Schahs. Eure Lehrer erhalten Anweisungen, um dieses große Ereignis mit euch gemeinsam zu gestalten. Ihr werdet es voller Stolz unterstützen. Unser Land wird mit euch das Beste geben.“ Der Direktor schloss seine Rede mit den folgenden Worten: „So, liebe Kinder, jetzt könnt ihr alle in eure Klassenräume zum Unterricht gehen. Ich wünsche euch einen schönen Tag!“

      Nach der Schule ging ich gewohnter Weise nach Hause und berichtete meinen Eltern von den Neuigkeiten. Mein Vater schüttelte seinen Kopf, jedoch eher zu meiner Mutter hin, damit ich nichts merkte. Er sagte: „Ja, Junge, mach da mit wie all deine Schulkameraden. Tut, was die Lehrer euch sagen.“ Mein Vater tuschelte mit meiner Mutter, aber er war nicht leise genug, sodass ich jedes Wort verstand. „Mele“, flüsterte er, „ich hoffe, sie verlangen nicht öffentlich, dass wir unser Geschäft auf unsere Kosten schmücken.“

      Ich verzog mich in meine Lernecke, um Hausaufgaben zu machen und trotzdem meinen Eltern weiter zu lauschen. Aber es gab offenbar in dieser Sache nichts mehr zu sagen. Sie sprachen über alltägliche Dinge, beispielsweise was meine Mutter für heute gekocht hatte und wie es ihr ging.

      Mir war klar, dass mein Vater nun eine Sorge mehr hatte, nämlich Geld für diese Feierlichkeiten ausgeben zu müssen, ohne dass es ihm etwas einbrachte. Meine Mutter sagte immer: „Euer Vater ist in Sachen Geld ein geisteskranker Mensch!“ Er war der Meinung, dass sie das Geld nur für unnötige Dinge ausgab und nicht damit umgehen konnte. Meine Tante, die Schwester meines Vaters, verteidigte ihn in dieser Sache, da er der Alleinverdiener war und unsere ständig wachsende Familie ernährte. Jeden Tag gab es auf dem Basar neue Produkte, die man nicht brauchte. Meine arme Mutter tat mir immer sehr leid, wenn ich die Kommentare meiner Tante hörte, denn ich wusste es besser. Oft zauberte sie aus nichts etwas besonders Leckeres, wenn am Monatsende das Geld nicht reichte. Und so wurden wir satt, obwohl meine Mutter kaum noch etwas einkaufen konnte.

      Mir kam wieder unser Schuldirektor mit seiner Rede in den Sinn. Ich meinte mich zu erinnern, dass er von zweitausendfünfhundert Jahren gesprochen hatte, die wir feierten. Wie konnte ein König so lange leben? Ich lachte über mich selbst bei diesem Gedanken. Er hatte ja alle Könige vom Anbeginn des Königreiches gemeint. Diese Könige – wie Dariosch, Korsch, Mozafer und wie sie alle hießen – hatten stets Kriege mit anderen Ländern geführt und die Menschen hatten viel Leid erfahren. Ich wusste nicht, wofür man Könige brauchte, schließlich hatten sie nie arbeiten müssen. Eher beutelten sie das Volk und zogen den Menschen die Steuern aus der Nase. Ich nahm mir vor, Jewad danach zu fragen. Vielleicht würde er mir ein Buch über das Königreich ausleihen, damit ich lesen konnte, was in der Geschichte unseres Landes passiert war. Ich wollte am nächsten Tag nach der Schule in unser Kaffeehaus gehen, um meine Freunde zu fragen, was sie darüber dachten.

      Am nächsten Tag ging ich nach der Schule mit den Gedanken an die Zweitausendfünfhundert-Jahr-Feier des Königshauses zu unserem Kaffeehaus. Unterwegs ging ich in Gedanken durch, was ich sagen und fragen würde. Sorgfältig legte ich mir die Worte zurecht, damit mich alle anhörten und akzeptierten. In meiner Mimik wollte ich mich so geben wie Kak Shwane: den Kopf hoch und ein Lächeln im Gesicht. Wer würde mir auf meine Fragen antworten?

      Auf dem Weg ins Kaffeehaus prüfte ich meine Kleidung. Alles musste sauber und korrekt sein. Ich fühlte mich, als müsste ich eine große Rede halten.