im Camp weg: „Ezadi, made in Iran.“
Der Tag nahm seinen Lauf. Wir hatten Sport in kleinen Gruppen. Diese Gruppen waren gemischt aus den Pishahang der einzelnen Regionen und den Schülern aus anderen Ländern, deren Sprache wir nicht verstanden. Jedoch zeigte ein jeder Kampfgeist für seine Gruppe und wir verständigten uns mit Mimik und Gestik. Sport vereinigt die Menschen, dachte ich. Man hatte mich in eine Fußballmannschaft gesteckt. Zu der gehörten auch zwei kleine Japaner. Das war mir sehr angenehm. Im Vergleich zu ihnen war ich zwar nur wenige Zentimeter größer, aber ich wusste, ich hatte viel Kraft, um vielleicht ein Tor zu schießen. Und tatsächlich: Ich schoss ein Tor! Meine Mannschaft rannte auf mich zu und alle umarmten mich voller Begeisterung. Die Japaner riefen: „Ezadi, made in Iran! Du hast uns gerettet!“ Ach, mir war es fast peinlich. Wir gewannen zwei zu eins und ich ging glücklich, aber körperlich ausgelaugt mit den anderen zum Duschen. War ich heute ein kleiner Held? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, bis wir später zum Abendessen in die Kantine gingen.
An unserem Tisch sagte Huschiar zu Mohamed und mir: „Ich habe vorhin mit den Musikern von Sene gesprochen und sie waren damit einverstanden, dass sie heute Abend beim Azerga gute Tanzmusik spielen.“ Ich nahm mir heimlich einen Becher Joghurt und etwas Salz mit, weil ich wusste, was auf mich zukam.
Dieses Mal brachte Huschiar eine Flasche Schnaps mit. Es war meine zweite Mutprobe – ein weiterer Schluck Schnaps. Ekelhaft, es wurde wieder heiß in meiner Brust bis hinunter zum Bauch, genau wie gestern. Aber ich ließ mir nichts anmerken, schließlich wollte ich akzeptiert werden. Ich löschte dieses brennende Gefühl auf der Toilette mit dem Joghurt und dem Salz. Niemand bemerkte es. Nachdem die Flasche leer war, traten wir alle vor den kleinen Spiegel im Zimmer und kontrollierten unser Aussehen in der kurdischen Kleidung. Hossein entsorgte zuvor noch den Müll und vor allem die Flasche in der Nähe unserer Unterkunft, damit uns niemand entlarven konnte. An der Straßenecke warteten wir auf ihn und gingen dann vergnügt, aber mit heißem Kopf zu unserem Treffpunkt.
Von Weitem sahen wir das Azerga in lodernden Flammen und die schöne Musik wehte zu uns herüber. Als wir ankamen, spürten wir die gute Stimmung unter den Tanzenden. Wir sangen mit und reihten uns farbenfroh gekleidet in den Tanz ein. Alles war bunt und berauschend im Licht des Feuers. Die schönen Mädchen in ihren wehenden langen Kleidern zu sehen, war wie in einem Traum. Ihre geschminkten Augen spiegelten sich im Licht des Feuers und alles drehte sich im Kreis. Wir waren unbeschwert und konnten für ein paar Stunden die Gedanken des Lebens ausschalten. Die Musiker gaben ihr Bestes und ein Hauch von Romantik schlich sich in meine Gedanken. Wir tanzten weiter im Kreis um das Feuer, bis auf einmal einige Perser dazukamen, sich an unsere Mädchen heranmachten und sie belästigten. Wir Jungs verteilten einige Ohrfeigen, beschimpften die Störenfriede und jagten sie weg, was uns für unsere Mädchen zu Helden machte. Bis Mitternacht genossen wir den Tanz rund um das Feuer.
Hundemüde fielen Mohammed und ich nach diesem wunderbaren Abend in unser Bett. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte sich der Abend noch einmal in meinem Traum gezeigt. Mein Unterbewusstsein hatte wohl die ganze Nacht nicht geschlafen. Aber es war ein schönes Gefühl gewesen, ein Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit mit den Farben im Licht des Feuers. Ich rieb mir die Augen und sah, dass es draußen bereits hell wurde. Plötzlich hörte ich eine Stimme aus dem Lautsprecher, bekam aber nicht mit, was sie sagte. Bei der Wiederholung stand ich kerzengerade neben meinem Bett. Angst, was soll das? Über dem Lautsprecher hörte ich die Namen „Mohamed“, „Huschiar“, „Hossein“, einige andere Namen und „Hussein“. War ich gemeint? Es schien so. Wir alle sollten uns im Büro des Camps melden. Voller Angst gingen wir vor dem Frühstück dorthin. Mohamed war der Meinung, dass wir wegen des Tragens von kurdischer Kleidung beim Tanzen eine Rüge oder eine Strafe bekämen. So etwas war hier wohl nicht erlaubt.
„Na, jedenfalls hatten wir gestern Abend viel Spaß und haben gezeigt, dass wir eine andere Kultur vertreten.“ Hossein glaubte nicht daran, dass unser Handeln falsch gewesen war. „Man kann uns zwar tagsüber die Pishahang-Uniform aufzwingen, aber wir haben unseren Stolz, den uns niemand nehmen wird.“
Am Camp-Büro angekommen, klopften wir leise an die Tür. Unser Lehrer war schon dort. Wir standen da wie Schwerverbrecher, aber wir hatten doch nichts Falsches getan. Oder?
Der Chef des Camp-Büros sagte in wenigen Sätzen: „Ihr alle habt gegen die Regeln des Camps verstoßen. Wir haben eure Zimmer durchsucht und Alkohol gefunden. Abends tragt ihr keine Pishahang-Uniform. Ein Pishahang hat ein Vorbild zu sein. Ihr seid es jedoch nicht.“
Hossein widersprach dem Direktor und wollte uns verteidigen.
Auch Rezgar setzte an: „Aber Herr Direktor …“
Aber man ließ uns nicht zu Wort kommen. Wir hatten keine Chance der Erklärung.
„Packt sofort eure Sachen zusammen, ihr werdet das Camp verlassen und nach Hause gebracht. Eure Schule und eure Eltern werden mit der Post einen Brief bekommen, damit sie von eurem Fehlverhalten erfahren.“ Für den Direktor war die Sache erledigt.
Mit gesenkten Köpfen verließen wir das Camp-Büro. Wir alle hatten Tränen in den Augen, tauschten unsere Adressen aus, reichten uns die Hand und schworen uns, dass wir zu unserer Kultur stehen würden.
Die Fahrt nach Hause war für mich sehr lang und voller Gedanken über das, was passiert war und was noch kommen würde. Ich begann die Ungerechtigkeit zu begreifen, schaute aus dem Fenster des Autos und fühlte mich allein gelassen – wie unser Volk in der Unterdrückung durch andere. Was würde mein Vater sagen? Und meine Mutter? Sie würden überrascht sein, wenn ich bereits nach drei Tagen wieder zu Hause ankam. Die Ferien waren für drei Wochen geplant. Ich dachte an meinen Vater, an das, was er Mele, meiner Mutter, von der Savak und von Hajeje erzählte hatte und wie traurig er über dessen Folterung gewesen war. Ich würde einfach sagen, dass der Hauptgrund dafür, aus dem Camp geflogen zu sein, unsere kurdische Kleidung gewesen sei. Den kleinen Schluck Schnaps würde ich so erklären, dass ich kein Spielverderber sein wollte und dass es mir dabei schlecht gegangen war. Ach, meine Eltern würden mich schon verstehen! Und doch hatte ich das schlechte Gefühl im Bauch, versagt zu haben. Aber ich war auch sehr stolz, stolz, ein junger Mensch zu sein, der über die Ereignisse nachdachte und unsere Kultur schätzte. Mehr wusste ich nicht, aber ich konnte mir selbst ein Bild machen. Ja, ich war stolz, ein Mensch zu sein, der es nicht akzeptierte, was andere befahlen, schrieben oder sagten, ohne selbst darüber nachzudenken. Ich begriff nicht, warum man im Camp so hart gegen uns vorgegangen war, warum sie uns rausgeschmissen hatten. War es wegen des bisschen Alkohols? War es wegen unserer Kleidung? Unsere Kleidung war doch so schön! Besonders die Kleidung unserer Mädchen. Die anderen Gruppen hatten unsere Kleidung bewundert. Und die Schüler anderer Nationen, zum Beispiel die Pakistaner, hatten doch auch ihre traditionelle Kleidung getragen. Warum war es nur uns verboten gewesen? Was war schlimm daran? Vielleicht hatte Huschiar recht gehabt und die harte Reaktion beruhte tatsächlich auf unserer Kleidung. Die Machthaber des Iran wollen die Ungerechtigkeit gegen unser Land versteckt halten, damit die Außenwelt nichts davon erfuhr. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass das nichts Gutes bedeutete. Warum herrschte in diesem Schüler-Camp eine so starke Überwachung? Wir waren doch noch Kinder, Jugendliche! Warum waren dort Savak-Beamte, die uns ausspionierten und überwachten? Welche Gefahr barg ein Schülertreffen? Mit all diesen Gedanken schaute ich aus dem Fenster und bemerkte, dass ich wieder in Marivan angekommen war.
Der Fahrer des Wagens setzte mich vor unserer Haustür ab. Ich nahm meinen Koffer und bedanke mich. Allerdings aus reiner Höflichkeit. Innerlich kochte ich, weil der Fahrer bestimmt auch ein Savak war.
Meine Mutter schaute aus dem Küchenfenster und sagte: „Junge, was machst du denn schon hier? Es sind erst drei Tage, die du weg warst.“ Sie machte eine einladende Handbewegung. „Komm rein, ich mache dir ein Glas Milch.“
Kleinlaut erzählte ich meinen Eltern, die in der Küche saßen, alles, was passiert war und warum ich wieder zu Hause war. Ich war schuldbewusst, aber meine Befürchtungen traten nicht ein.
Mein Vater sagte: „Junge, du brauchst dich nicht weiter zu erklären. Was passiert ist, kann man nicht rückgängig machen.“ Und doch schaute er mich traurig an. Nach einer Weile fuhr er fort: „Hussein, mein Junge, pass immer auf dich auf da draußen,