H. Ezadi

Marivan unter den Kastanienbäumen


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schaute ich mich im Camp um. Es war eine riesengroße Anlage mit vielen schmalen Straßen, an deren Rand Blumen wuchsen. Alles sah sehr gepflegt aus. Ich suchte nach Zelten, jedoch waren unsere Unterkünfte kleine Hütten wie bei unseren Bauern in Kurdistan, aber aus neuerem Material wie Aluminium und Holz. Zudem waren sie auch noch bunt. Eine Seite war blau, gegenüber war die Außenwand rot und die linke Seite einer Hütte war gelb. Vielleicht waren die Farben so ausgewählt, weil sie die Farben jeder Stadt oder des Landes darstellen sollten. Neben jeder sechsten Hütte stand ein kleines Haus, das mit Schildern versehen war. Es waren die sanitären Anlagen mit Dusche, Toiletten und Waschmöglichkeiten. Beim Zähneputzen konnte man sich im Spiegel betrachten. Ich war erstaunt. Alles war so schick und sauber. So etwas hatte ich in unserer Stadt noch nie gesehen. Meine Gedanken kreisten und ich fragte mich, wer hat das alles gebaut hatte. In jedem Häuschen befanden sich zwei Betten, zwei kleine Schränke und sogar ein kleiner Kühlschrank.

      Voller Staunen konzentrierte ich mich kurz darauf auf unseren Lehrer. Er sagte: „Ihr zwei, Hussein und Mohamed Pänahy, geht in das Haus Nummer 208.“ Wir beide schauten uns an, griffen freudig nach unserem Gepäck und bezogen unser Haus. Wir waren neugierig und voller Erwartung. Mohamed, der größer und kräftiger war als ich, warf seinen Koffer auf das Bett, war der Erste am Kühlschrank, griff sich etwas Essbares und stopfte sich den Mund voll. Ich dachte: Was ist das für ein Kamerad, der erst einmal etwas für sich nimmt? Er sprach mich an: „Lass uns ganz unkompliziert beim Vornamen nennen, Hussein. Du kannst mich Mohamed nennen. Lassen wir den Unsinn mit den Nachnamen. Soll ich dir was verraten? Ich habe etwas Schnaps von zu Hause mitgebracht, weil der hier bestimmt verboten ist.“ Er versteckte ein paar Flaschen hinter seinem Bett und beschwor mich, niemandem etwas davon zu erzählen. Ich musste etwas unsicher gewirkt haben, denn er sagte: „Wir sind eben schon moderner als ihr aus Marivan, aber wir sind alle Kurden. Meine Freunde aus der Schule haben alle einige Flaschen mitgebracht. Wir sind doch hier in den Ferien, um Spaß zu haben. Wir werden nachts bestimmt viel diskutieren, über unser Volk und dessen Ungerechtigkeiten in diesem Land.“ Ich stimmte ihm zu. Ja, ja, wir waren in den Ferien. Gleichzeitig machte ich mir Gedanken, welche Menschen ich hier noch kennenlernen würde.

      Nachdem ich meinen Koffer ausgepackt hatte und etwas Obst gegessen hatte, liefen Mohamed und ich zur Zentralstation des Camps. Dort trafen wir auf mehrere Hundert Jungen und Mädchen in ihren Uniformen aus verschiedenen Städten Irans.

      In einem großen Saal der Zentralstation war der Oberste der Organisation auf der Bühne hinter ein Mikrofon getreten und begrüßte uns alle. Er erklärte uns, warum wir hier seien und welche Aktivitäten uns während der Ferienzeit erwarteten. Er wies darauf hin, was erlaubt und was verboten sei. Nachdem er einige Hinweise zu normalen Aspekten des menschlichen Miteinanders gegeben hatte, wies er strengstens darauf hin, dass jeglicher Genuss von Alkohol strikt verboten sei, und wenn jemand dabei erwischt werden sollte, gäbe es eine Strafe und einen Verweis aus dem Camp. Da ich kleiner war, schaute ich zu Mohamed hoch. Er zwinkerte und lächelte mir zu. Ich machte ein unschuldiges Gesicht, als wüsste ich nicht, was Mohamed mir zuvor in unserer Hütte erzählt hatte. Reden war bekanntlich Silber und Schweigen Gold.

      Der Camp-Oberste in Uniform fuhr in seiner endlosen Rede fort: „Morgen kommen unsere Gäste aus Pakistan, Indien, Irak, Bangladesch und Japan. Ihr werdet ein Vorbild für unser Land sein, und wenn unsere Gäste nach den Ferien nach Hause fahren, werden sie nur Gutes über unser Land Iran und die Pishahang berichten. Ihr seid verpflichtet, Freundschaften mit euren Nachbarschülern zu schließen, damit sie unser Land nach den Ferien in guter Erinnerung behalten.“

      Nach dem gemeinsamen Abendessen in der Kantine schlenderte ich mit Mohamed und einigen seiner Freunde in Richtung der Hütten. Einer der anderen sagte: „Wir ziehen uns um und besuchen euch in einer halben Stunde.“ Ich fragte Mohamed: „Was meinen deine Freunde damit?“ Er lachte: „Junge, wir sind Kurden, wir haben unsere eigene Kleidung, unsere eigene Tradition. Wir laufen doch nicht den ganzen Tag in der Pishahang-Uniform herum. Mach dir keinen Kopf, du wirst schon sehen.“

      In unserem Zimmer wechselte ich die Pishahang-Uniform gegen Mohameds kurdischen Anzug, der etwas zu groß für mich war. Ich fand, dass ich in dieser Kleidung komisch aussah, weil die Ärmel und die Länge der Hose gar nicht zu meinem Körper passten. Aber ich bedankte mich bei Mohamed. Es fehlte das kurdische Tuch für meinen Kopf, sodass ich aus Verlegenheit das Pishahang-Tuch um meinen Hals wickelte. Mohamed betrachtete mich in meiner Verkleidung und sagte: „Hussein, diese Uniform steht dir besser.“

      Plötzlich klopfte es an unsere Tür. Die Freunde von Mohamed waren gekommen. Sie waren zu fünft, und das Erste, was einer von ihnen Mohamed fragte, war: „Wer ist das?“ Dabei sah er mich prüfend an. Es war Huschiar, der uns gleich darauf wie auch die vier anderen begrüßte. Mohamed antwortete: „Liebe Freunde, das ist mein Zimmerkollege Hussein aus Marivan. Er hat keine kurdische Kleidung dabei und ich habe ihm etwas von mir geliehen. Die Kleidung ist zwar ein wenig zu groß für ihn, aber Not macht erfinderisch. Es steht ihm doch gut, oder?“

      Alle seine Freunde, die es sich gerade in unserer Hütte gemütlich machten, trugen traditionelle kurdische Kleidung. Manche trugen sogar ihre Schuhe. Die Kelasch gehörten wie das Kopftuch zu unserer Tradition. Die Kleidung, die ich trug, war zwar zu groß, meine Schuhe passten nicht zur Kleidung und statt des kurdischen Kopftuches trug ich das rote Pishahang-Tuch um den Hals, aber so war ich erst einmal akzeptiert, was die Kleidung anbelangte. Es war für mich ein völlig neues Erlebnis, aber ich war sehr neugierig.

      Huschiar sagte zu Mohamed: „Dies ist unsere erste Nacht im Camp und wir wollen Spaß haben. Also lasst uns einen Schluck Schnaps trinken. Wo ist die Flasche?“

      Mohamed kroch unter sein Bett, holte eine Flasche hervor und reichte sie Huschiar.

      Der fragte: „Haben wir keine Gläser? – Ach, das macht nichts. Wir nehmen alle einen Schluck aus der Flasche. Und wenn die leer ist, gehen wir alle zum Azerga.“ Er nahm einen großen Schluck aus der Schnapsflasche und reichte sie weiter.

      Es war, als wollten wir uns für später Mut antrinken. Rezgar war der Nächste und die Flasche ging reihum, bis ich als Letzter einen großen Schluck trinken sollte. Ich tat so, als wäre es für mich eine Selbstverständlichkeit, aber ich hatte noch nie in meinem Leben Alkohol getrunken. Ich empfand es als Mutprobe, denn ich wollte mich nicht vor den anderen blamieren. Ich wusste aus eigenen Beobachtungen, dass Alkohol nicht gut für den Körper war, weil er den Geist verwischte. Als mir die Flasche gereicht wurde, erinnerte ich mich an den Vater meines Freundes Jewad. Er war nach zu starkem Alkoholgenuss des Öfteren im Basar umgefallen. Jewad schämte sich sehr für seinen Vater, der häufig mit einer Schubkarre vom Basar nach Hause gebracht werden musste. Man stellte ihn vor der Tür ab und Jewads Mutter musste den Transport bezahlen. Das war mehr als peinlich für die ganze Familie. Es war armselig, wie der Mann im Leben abrutschte. Jedoch konnte man in die Seele eines Menschen nicht hineinschauen, dachte ich. Es konnte jedem passieren, alkoholkrank zu werden, zum Beispiel wenn es Probleme gab, die man nicht lösen konnte. Aber dieses Zeugs, das wusste ich, machte Konflikte im Grunde nur noch schlimmer.

      Ich setzte die Flasche an und nahm einen großen Schluck, als hätte ich das schon hundert Mal gemacht. In meiner Brust wurde es auf einmal ganz heiß. Der Schnaps lief in meinen Magen und mir war hundeelend. Doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich musste würgen, versuchte aber, es zu unterdrücken. Die Flasche kreiste weiter, und als sie endlich leer war, gingen wir alle fröhlich zum Azerga, dem Feuerlager.

      Schon von Weitem hörten wir die Musik, und als wir näher kamen, erschien es mir, als wäre ich in einer anderen Welt.

      Die Farben des Feuers tanzten vor meinen Augen, als mich Nasrin erblickte. Sie war traurig. „Woher hast du diese Kleidung?“, wollte sie wissen. „Ich habe kein schönes Kleid mitgebracht und kann nicht mit euch feiern.“ Sie hatte Tränen in den Augen.

      Ich reichte ihr die Hand zum Tanz und sagte: „Nasrin, du bist auch ohne schönes Kleid ein wertvoller Mensch.“ Dann zog ich sie zum Feuer und wir gesellten uns zu den Tanzenden. Die Musiker spielten unsere kurdische Musik und mir war, als wäre ich losgelöst von allen Sorgen und Anstrengungen des Lebens. Jungen und Mädchen tanzten rund um das Feuer. Es war ein wunderschöner Anblick, die vielen tanzenden Menschen in kurdischer Kleidung