H. Ezadi

Marivan unter den Kastanienbäumen


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endlich wieder Strom. Zuhause lachte mein Vater und sagte: „Ja, ja, das hast du gut gemacht, Junge.“ Er meinte Foad.

      Meine Mutter tadelte meinen Vater: „Hör auf, sei leise, du kennst doch die Savak! Bring uns nicht in Gefahr.“

      „Foad ist jetzt schon in Gefahr.“

      Kak Foad war unser neuer Nachbar. Er war Ingenieur und Direktor des Stromwerkes in unserer Stadt. Ein sehr freundlicher und begabter Mensch. Die Stadtbewohner mochten ihn. Ich hatte meine Mutter einmal sagen hören: „So einen Sohn hätte ich auch gern in unserer Familie.“

      Unser Bürgermeister war sehr verärgert über den Stromausfall, der für ihn eine Blamage gewesen war. Er beschimpfte Foad in seinem Büro und dieser verteidigte sich. Uns Bürgern gegenüber hatte Foad den Bürgermeister zuvor schon kritisiert, was sich sonst niemand in unserer Stadt traute. Nie durfte man auch nur ein Wort gegen den Bürgermeister aussprechen, sonst landete man sehr schnell im Gefängnis und wurde von der Savak gefoltert. Aber alle sagten, Foad sei ein sehr mutiger Mann, der neuen Wind in unsere Stadt bringen würde.

      Am nächsten Tag nach der Schule besuchte mich Jewad zu Hause. „Hast du von gestern Abend gehört?“, fragte er. „In der ganzen Stadt ist der Strom ausgefallen.“ Ich nickte und erzählte ihm, was mein Vater darüber dachte.“

      „Ja, Hussein, viele in der Stadt denken, dass Kak Foad für den Stromausfall verantwortlich ist, ob mit oder ohne Absicht. Wenn Absicht im Spiel war, finden die Bürger es trotzdem gut. Als Protest nämlich. Ich habe gehört, dass sich Kak Foad seit seinem ersten Tag als Direktor des Stromwerkes ständig mit dem Bürgermeister streitet. Er wollte in die ärmeren Viertel unserer Stadt und die anliegenden Dörfer Stromleitungen legen lassen. Der Bürgermeister war da ganz anderer Meinung und plädierte, dass zuallererst die Kabelnetze in den Beamtenvierteln erneuert werden sollten.“ Jewad fuhr fort: „Aber wir dürfen nicht öffentlich darüber sprechen, was passiert ist, sonst landen auch wir im Gefängnis. Kak Foad hat zahlreiche Kontakte zu den aktiven Bauern in Marivan. Ich glaube, er plant, wegen der Ausbeutung der Bauern gegen die AGHWAT (die Feldgrundbesitzer) zu kämpfen. Ich habe Foad schon einige Male getroffen und weiß von Kak Kawe, dass er ein guter Mensch ist. Aber Kak Kawe hat mir keine richtige Antwort gegeben. Bitte schweige darüber. Du solltest dir im Laufe der Zeit dein eigenes Bild von der Situation machen. Beobachte einfach, was hier alles geschieht.“

      In den folgenden Monaten passierte relativ wenig. Ich fand mich häufiger im Kaffeehaus ein, um herauszufinden, was in unserer Stadt vor sich ging. Ich war sehr neugierig und hätte gerne gewusst, was die Hintergrundorganisationen planten. Ich sah immer wieder junge Männer, besonders Lehrer, die sich heimlich und leise in den Ecken des Kaffeehauses und im Basar unterhielten. Wenn man näher kam, lachten sie einfach. Das passte nicht zu dem, worüber sie vermutlich sprachen. Ich nahm mir vor herauszufinden, über was sie redeten, und ich wollte auch gern mit ihnen gegen die Ungerechtigkeit kämpfen.

      Dies alles geisterte seit einiger Zeit in meinem Kopf herum. Jewad meldete sich nicht mehr bei mir und ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Ich überlegte, was ich tun sollte. Außer im Kaffeehaus hatte ich junge Lehrer und Studenten auch in der Stadtbücherei gesehen. Ich beschloss, zu Kak Jamschid, dem Leiter der Stadtbücherei, zu gehen. Er war zu Schülern besonders freundlich und gab Ratschläge, welche Bücher leicht zu lesen seien. Er sah anders aus als unsere Stadtbewohner. Seine Haare waren sehr lang und er trug einen Schnurrbart. Man sagte, er habe gar keine richtigen Haare auf dem Kopf, das seien Kunsthaare. Mit den meisten jungen Lehrern war er befreundet. Außer seines guten Rufes als Intellektueller war er auch für seine Kunstwerke berühmt, die er hin und wieder malte. Wenn er im Basar seine neuen Werke ausstellte, erntete er Zuspruch von den Studenten, aber auch von alten Menschen, die über mehr Lebenserfahrung verfügten. Von ihnen konnten wir lernen. Oft waren junge Menschen zwar schlau, was nicht schlecht war, aber ihnen fehlte die nötige Erfahrung. In jungen Jahren lebten sie in der Theorie und hatten Pläne für ihr zukünftiges Leben – meist waren es Träume –, doch das wahre Leben mussten sie erst noch kennenlernen.

      Die Motive, die Kak Jamschid malte, handelten meist von dem normalen Leben in unserer Stadt. Einmal betrachtete ich auf dem Basar ein Bild von ihm. Das Gemälde zeigte einen alten Mann mit einem Bart und Schweißperlen im Gesicht. Er trug eine schwere Last auf seinem Rücken. Nebenan hing ein Bild von Hussein, dem „Schiet“. „Schiet“ hieß „verrückt“. Vielleicht war er tatsächlich etwas verrückt gewesen, aber in unserer Stadt hatte er sich großer Beliebtheit erfreut, weil er keiner Menschenseele etwas zuleide tat. In unserer Stadt erzählte man sich, dass er einst im Winter auf den zugefrorenen Zarivar-See gegangen sei, um über das Wasser zu laufen. Das Eis brach ein und mit ihm Schiet. Er war ein kräftiger Mann, obwohl er arm war. In dem eiskalten Wasser unseres Sees erfroren ihm seine Hände und Füße, die dann später bei dem Arzt amputiert werden mussten. Der beliebte Verrückte konnte nur wenige Worte sprechen. Worte wie „Hunger“ und „Durst“ beispielsweise. Und die Menschen gaben ihm jeden Tag ein Almosen, weil er zwar ärmlich gekleidet war, aber niemanden belästigte. Manchmal schlief er einfach am Straßenrand und irgendjemand brachte ihn am Abend zu seinem verfallenen Häuschen, das weder mit Strom noch mit Wasser ausgestattet war. Es gab dort auch keine Toilette. Das Bild zeigte den armen Schiet schlafend auf dem Basar. Anstelle eines Kissens lag eine harte Blechdose unter seinem Kopf. Ein sehr trauriges Bild, dachte ich, als ein alter Mann neben mir zu mir sagte: „Ja, ja, jedes seiner Bilder erzählt uns eine traurige Geschichte über Menschen in unserer Stadt.“ Der alte Mann lobte den Maler und berichtete, dass dieser wegen seiner Bilder oft im Gefängnis landete. Die Motive seien gegen die Gesinnung des Regimes. Wie viele andere stand er unter ständiger Beobachtung der Savak-Leute.

      Ich war vor der Stadtbücherei eingetroffen und wollte irgendwie zu der Organisation Kontakt aufnehmen. Als ich die Bücherei betrat, sah ich Herrn Kak Jamschid. Er sprach gerade in einer Ecke der Bücherei mit Jewad. Ich ging zu ihnen und sprach Jewad an: „Wo warst du die ganze Zeit? Ich habe lange nichts von dir gehört.“

      Er wollte mir antworten, aber Kak Jamschid sagte: „Seid leise, die anderen wollen in Ruhe lesen.“

      Jewad flüsterte: „Hier können wir nicht reden, aber ich habe dir viel zu erzählen.“

      Wir verabschiedeten uns von Kak Jamschid und gingen in Richtung Zarivar-See.

      Jewad erklärte: „Ich hatte in den letzten Wochen sehr viel zu tun und war ständig unterwegs, mal in Bilow, mal in Sanandaj, mal in Kermanschah.“

      Ich war neugierig und fragte ihn: „Was hast du im dem Dorf Bilow gemacht?“

      „Ich erkläre es dir, wenn du Geduld hast.“

      „Ja, dann sag es mir doch. Im Übrigen bin ich nicht ungeduldig.“

      „Du weißt doch noch von der Weißen Revolution. Das Wichtigste war die Reform der Grundbesitzer in der Landwirtschaft.“ Endlich kam Jewad auf den Punkt. „Man entzog der Aghwat Land und gab es in kleinen Ländereien an die Bauern ab.“

      „Ja“, sagte ich, „davon habe ich gelesen.“

      „Das hat den Bauern Vorteile gebracht. Hier bei uns in Kurdistan wurde diese Reform nicht umgesetzt.“

      „Aber warum? Wer hat das entschieden?“

      Jawed sagte: „Das waren das Schahregime und seine Gendarmen.“

      „Warum machen die bei uns diesem Unterschied?“, wollte ich wissen.

      „Das ist eben die Ungerechtigkeit. Die Savak und die Aghwat nehmen den Bauern seit Jahrhunderten alle guten Felder ab. Sie lassen sie auf ihren Namen umschreiben und lassen die Bauern nicht weiter darauf arbeiten. Sie nehmen somit den Bauern die Ernte weg. Viele unserer Freunde sind Lehrer in den anliegenden Dörfern und haben mit den Bauern gesprochen. Um es kurz zu machen: Die Bauern von Bilow und Darsiran haben sich versammelt und wir haben gemeinsam mit ihnen einen Plan ausgearbeitet, um gegen diese Ungerechtigkeit zu kämpfen. Die Bauern haben dort ihre Ernten eingeholt und wir waren ihnen wochenlang dabei behilflich. Die Gendarmen jedoch sind auf der Seite der Aghwat und sie haben viele Bauern ins Gefängnis gebracht. Aus Solidarität sind dann andere Bauern immer wieder auf die Felder gegangen, bis auch sie festgenommen wurden.