ein schätzungsweise dreißigjähriger Häftling, mit schütteren blonden Haaren über einem schmalen Gesicht. Wahrscheinlich ein Krimineller bei diesem Posten hier, ging es Sebastian durch den Kopf. „Na was sollen die schon denken“, antwortete er auf die letzte Frage.
Die nächste Frage, ob er denn noch Geschwister habe beantwortete Sebastian mit einem bloßen „Ja.“
„Na die werden doch auch ganz schön traurig sein“, insistierte der Einseifer ungerührt weiter.
„Ich bin ja nicht gestorben“, entgegnete Sebastian.
Eine Woche später, beim folgenden Rasiertermin, bemerkte der Einseifer Sebastian gegenüber wieder, dass „10 Jahre doch eine mächtig lange Zeit sind für so ’nen jungen Menschen.“ Und als er dann auch noch mit traurigem Gesicht bekundete, dass Sebastian ihm wirklich leid tue, konnte der sichs nicht mehr verkneifen zu erklären, dass seine Mitleidsbekundungen ihm lediglich unangenehm seien. Was er getan habe, sagte er, sei eben geschehen und dazu stehe er!
Natürlich, eine gewagte Aussage, das war ihm klar, aber damit hatte er nichts verraten und bereut hatte er ja weder bei der Stasi noch vor Gericht etwas. Dort hatte man ihnen beiden das sogar vorgehalten.
Der Einseifer hielt sich daraufhin mit seinen Bemerkungen Sebastian gegenüber erst einmal zurück, der sich keinen Reim darauf zu machen wusste, weshalb der gerade ihn mit seinem falschen Mitleid so herabwürdigend berührte. Anders könne man das nicht empfinden, meinte er. Vielleicht aber konnte der Einseifer das nicht begreifen. Mir soll’s halt egal sein, sagte Sebastian sich. Es ist nicht wichtig.
Und dann immer wieder das Phänomen der Zeit, das ihn beschäftigte.
Totila hielt das für Unsinn. „Zehn Jahre und sieben Jahre bleiben, wie man’s auch dreht und wendet, „zehn und sieben Jahre.“
Das sei ja nicht falsch, meinte Sebastian.
Doch Totila lehnte es ab, auf Sebastians Überlegungen einzugehen.
„Wenn man beim Thema Zeit nur das berücksichtigt, was man sehen und anfassen kann greift man vielleicht zu kurz“, sagte Sebastian.
Totila blieb dabei und hielt das was er von seinem Freund zum Thema gehört hatte, für hochgestochene Spinnereien.
Allein das was man sehen und anfassen könne, meinte Sebastian wieder, weise ja schon in recht eigenartige Zusammenhänge, die gerade dort, in dieser öden Zuchthauswelt, ganz gut wahrzunehmen seien.
Wieder waren Wochen vergangen. Die Häftlinge froren, denn die Heizungsrippen blieben kalt. Durch die Fensterklappe sickerte trübes Licht.
Sebastian stand vor dem Fenster und blickte, gegen einen Bettpfosten gelehnt, durch die geschlossene Scheibe hinaus auf die feucht glänzenden Teerpappendächer der masiven Lauben, die ganzjährig bewohnt sein sollten wie er gehört hatte. Obstbäume reckten ihr kahles Geäst schwarz in einen gleichmäßig grauen Himmel. Seine ganzen Monate in diesem Bau, rekapitulierte er, waren in aller Einförmigkeit Tag für Tag im Schneckentempo verlaufen: Wecken, Zählung, Kübel raus, Frühstück, Kübel rein, Freistunde im Hof, Mittag, Kübel raus, Zählung, Kübel rein für die Nacht, Einschluss, Licht aus … und das Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr? Richtig. Jahr für Jahr! Genau besehen geschah ja dauernd etwas, allerdings immer das gleiche. Als Unterbrechung dieser Gleichförmigkeit erwiesen sich vor allem Verlegungen. Wenn man sich mit den Menschen in einer Zelle halbwegs eingelebt hatte, hieß es bald wieder: „Sachen packen!“ Und der Eingewöhnungsvorgang begann von neuem. Schmerzlich konnte es werden, wenn man aus einer Zelle mit Menschen die man verstehen konnte, und die einen selbst verstanden, herausgerissen wurde mit der Gewißheit, dass man sich nie wiedersehen würde, um dann unter Menschen zu landen, die einem womöglich fern oder sehr fern standen. Es gab immer mehr Dinge, die Sebastian gerne mit jemandem besprochen hätte, der auch verstehen konnte worum es ihm ging.
Doch wenn er jetzt zurückschaute mit Blick ins spätherbstliche Land dort draußen, zurück bis an den Tag seiner Ankunft vor einem dreiviertel Jahr, dann schien ihm diese gleichförmig verstrichene Zeit fast wie im Fluge vergangen.
Die Erinnerung ließ sich dort auch nur noch an wenigen Ereignissen fest machen wie etwa an der Fußballweltmeisterschaft Westdeutschlands oder auch am Aufstand im Zellenhaus mit den Mörder! Mörder!-Rufen aus den Fenstern.
Vielleicht auch noch an der Erneuerung der Strohsäckefüllung …?
Dieser dauernde Wechsel der Menschen um ihn her mit denen er zwangsläufig stets nur sehr begrenzt zu tun hatte erschienen nur noch wie ein Zug wechselnder Gestalten, die dann auch bald im Nebel der Erinnerung verschwanden.
Kapitel 13
Es geschah am Abend eines dieser kurzen Novembertage, die vom Morgengrauen sogleich in den Abend überzugehen schienen, die Gefangenen warteten in den Zellen nach der Zählung bereits auf den Einschluss, als den Gang hinauf nacheinander die Schlösser der Türen krachten. Sebastian und alle in der Zelle erstarrten im Moment, um dann sogleich an den Türspalt zu stürzen. Aber schon krachte metallisch auch das Schloss ihrer Türe. Alle sprangen zurück, die Tür flog auf, einer wollte vorschriftsmäßig Meldung machen, doch der Schließer winkte ab.
„Sämtliche Strohsäcke in den Lichtschacht werfen!“, hieß es schließlich. „Dalli, dalli …!“, trieben die Wachtmeister auf allen Stationen die Gefangenen an.
Offensichtlich hatte man alles zusammengesucht was Polizeiuniform trug und zu dieser Aktion in den Zellenbau beordert. Auf den Fluren befanden sich immer mehrere Uniformierte konnten Sebastian, Totila und die anderen feststellen, als sie ihre Strohsäcke über das Geländer in den Lichtschacht warfen, aus dem zuvor die Fangnetze entfernt worden waren. Neben den ihnen bekannten Schließern gabs da aber auf den Gängen auch Uniformträger, die davor von den Gefangenen noch nie einer zu Gesicht bekommen hatte. Sie liefen eilig hin und her, blickten da und dort in die Zellen, in denen Gefangene gerade dabei waren ihre Strohsäcke aus den Bettgestellen zu hieven. Das dauerte in der Enge dort etwas länger, weil sich bei noch größerer Eile die Insassen nur gegenseitig behinderten.
„Dalli dalli, machen Sie schon …!“
Beim Rausschleppen ihrer Strohsäcke über den Gang zum Lichtschacht wechselten die Gefangenen mit denen aus den Nachbarzellen nur ratlose Blicke und schüttelten die Köpfe. Keiner konnte sich einen Reim darauf machen, was dieser Aufruhr sollte.
Schließlich schloss man die Gefangenen wieder in ihre Zellen und ließ sie dort, ratlos wie sie waren, auf das warten, was da kommen sollte. Es war ja längst schon Einschlusszeit und die Gefangenen saßen bei diesem funzligen Licht einer 40 W-Birne, hinter einer Drahtglasscheibe über der Tür, verunsichert auf Hockern vor ihren leeren Betten.
„Vielleicht sollen wir richtige Matrazen kriegen“, sagte dann einer in der Zelle.
„Ja Daunendecken und Damastbettwäsche“, gab ein anderer zum besten.
Irgendwann, nach einer halben Stunde oder vielleicht auch einer Stunde, keiner wusste es genau, wurden alle Türen wieder aufgeschlossen und die Gefangenen traten verwundert und verunsichert raus auf den Gang vor den Lichtschacht, aus dem im gelblichen Licht der Lampen noch immer Schwaden von Staub aus den Strohsäcken im Kellergang bis hinauf in den vierten Stock stiegen.
Dann erscholl eine Lautsprecherstimme von irdendwoher: Alle Strafgefangenen sollten genau zuhören und den Anweisungen Folge leisten. Es würden jetzt Strafgefangene namentlich aufgerufen und dazu jeweils eine Zellennummer.
Jeder Aufgerufene habe im Keller einen Strohsack abzuholen und sich damit vor der ihm genannten Zelle aufzustellen.
Verunsichert durch diese ganze Aktion, die sich absehbar bis tief in die Nacht hinziehen würde, waren nicht nur die Gefangenen, sondern in mindestens gleichem Maße auch die massenhaft nervös umherlaufenden Uniformträger. Man stelle sich vor: Alle sonst streng verriegelten Zellentüren standen offen und vorwiegend politische Langstrafer auf den Gängen, nur von verschlossenen Stationsgittertüren zu den Treppen gesichert. Wie würden die