Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle


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heranschleppten. Jeder bekam daraus eine Kelle leicht zerkochter Kartoffeln in die hingehaltene Schüssel.

      „Was ’n das?“, fragte Arno Sawatzky verblüfft, starrte in den dampfenden Kessel und dann auf den Schlag Kartoffeln in seiner Schüssel.

      „Ist doch Weihnachten“, sagte einer der Kesselträger und beide lachten.

      Doch es kam noch besser: Zwei weitere Gefangene rückten mit einem Kessel voll ebenfalls dampfenden Sauerkrauts an, von dem jeder zwei große Löffel voll in die Schüssel bekam.

      Nicht genug damit, zwei Kalfaktoren kamen mit dem Rollwagen und zwei Kesseln darauf, um Soße und Fleisch auszuteilen. Das erwies sich zwar als fett und zettrig. Doch was Besseres, meinte Sebastian, gebe es draußen oft genug auch nicht. Dieses Fleisch mit dem Löffel bewältigen zu wollen, erwies sich dann ganz schnell als unsinnig. Man musste es in die Hand nehmen, hineinbeißen und auseinanderzerren, um sich Stücke aus dem fettigen Gezettere zu reißen.

      Handelte es sich dabei doch um Eiweiß und kostbare Kalorien. Schließlich traf man auf genügend Gefangene, meist etwas ältere, bei denen sich bereits Wasser durch tiefe Fingerabdrücke in den Beinen nachweisen ließ. Aber außer wässriger Spinatsuppe, abgewechselt mit zerkochten Bruchnudeln in brauner Mehlsoße im Sommer sowie zerkochter Weißkohlsuppe, abgewechselt mit Pellkartoffeln und Fischmehlsoße. Sommers wie Winters gab es weder Obst noch Gemüse wie etwa Zwiebeln, Tomaten, Gurken, Äpfel … Vieles davon bekam man aber auch draußen nicht zu Gesicht und im Winter schon gar nicht.

      Am zweiten Weihnachtsfeiertag gab es dann noch Mal ein festliches Mittagessen wie schon am ersten Feiertag und das auch noch bei weiterhin höher eingestellter Heizung. Die Zelleninsassen steckten wie eh und je die feuchten Brotscheiben zum Trocknen zwischen die sonst nur lauwarmen Heizungsrippen. Mancher vertrug dieses feuchte Brot nicht. Es verursachte Magenbeschwerden.

      Die Weihnachtsfeiertage waren schließlich mit dieser für alle unerwarteten kulinarischen Überraschung vorüber gegangen. Es standen zwar noch Silvester und Neujahr vor der Tür, aber es erwartete niemand eine ähnliche Situation wie die an den Weihnachtsfeiertagen. Es blieb den Gefangenen sowieso unerfindlich wie es zu dieser Art von Bescherung hatte kommen können.

      Der Silvestertag verging dann wie jeder andere x-beliebige Tag. Am Nachmittag war es in der Zelle bereits so dunkel, dass man auf den Seiten der sowjetischen Heldenromane Buchstaben kaum noch erkennen konnte. Es handelte sich dabei um Bücher, die wie üblich den Zellen vom Bücherkalfaktor zugeteilt worden waren: Vier Mann, vier Bücher. Vater und Sohn Sawatzky hatten darüber gelästert: Diese Schwarten dort, das sei doch der reinste Schund. „Die hätten uns lieber was zu fressen bringen sollen.“

      Am Silvesterabend, noch vor Einschluss, hatten sich alle ihre Becher mit Wasser gefüllt und ins Regal gestellt. Die Trink-und Waschwasserkanne des Nachts in der Zelle zu belassen, galt der Anstaltsleitung grundsätzlich als zu gefährlich.

      Alle Vier hatten sich also vorgenommen in dieser Nacht wach zu bleiben. Sie lagen daher nicht in den Betten, sondern saßen im trüben Widerschein der Scheinwerfer, die draußen die weißen Mauern ausleuchteten, in ihre Decken gewickelt auf den Hockern und unterhielten sich in gedämpftem Ton. Eine Uhrzeit hatten sie nicht, also warteten sie auf das Glockengeläut der Cottbuser Kirchen, die den Beginn des Jahres 1955 einläuten würden.

      Sebastian war ans Fenster getreten und blickte durch die Scheibe hinaus in langsam aufsteigende Eisnebelwolken, drehte sich dann in die Zelle um und sagte: „Draußen wirds neblig. Wenn es Silvesterfeuerwerke in der DDR geben würde“, fügte er hinzu, „wäre deren Abbrennen, bei diesem Nebel der sich da draußen zusammenbraut für die Katz.“

      „Es ist auch kälter geworden“, bestätigte Siegfried und wickelte sich schaudernd fester in seine Decke.

      Bei dieser Nachtwache kroch die Zeit zäh dahin, die Stunden dehnten sich und Sebastian dachte darüber nach, ob ihm dieser Jahreswechsel nicht schnuppe sein konnte. Ging ihn das hier, ausgesondert und abgeriegelt wie er war, überhaupt noch was an? Das Vergehen der Jahre schon, sagte er sich, aber so ’n Jahreswechsel? Und er schüttelte dazu unmerklich den Kopf.

      Doch dann begannen die Silvesterglocken der Cottbuser Kirchen nahezu gleichzeitig tatsächlich zu läuten. Und im Dämmerlicht der Zelle erhoben sich wie Nachtgespenster die in ihre Decken gewickelten Insassen, griffen nach ihren Trinkbechern im Wandregal, stießen mit Wasser an und wünschten sich wechselseitig nur eines: Gesundheit, um auch dieses kommende Jahr unbeschadet zu überstehen. Ein womöglich laut gewordener Wunsch nach baldiger Freiheit wäre von den dort Versammelten wohl nur als peinlich empfunden worden bei insgesamt 42 Jahren Zuchthaus in der Zelle. In Abständen waberten immer wieder mal Gerüchte von möglichen Amnestien durch die Zellen. Vielleicht von der Anstaltsleitung auch nur gestreut, um die Gefangenen zahm zu halten.

      Ans Fenster getreten sahen die Vier dann statt eines möglichen Feuerwerks nur ein paar Leuchtkugeln im Nebel verglimmen.

      Der alte Sawatzky warnte schließlich davor, das Wasser in den Bechern ganz auszutrinken. „Bis zum Kübeln ist es noch ’ne Weile hin“, gab er zu bedenken.

      Das leuchtete ein.

      Die weihnachtliche Bescherung in Hinsicht auf das Nahrungsangebot wiederholte sich am Neujahrstag nicht mehr. Als große Enttäuschung empfand das kaum jemand, denn Wunder, das wusste ja jeder, wiederholten sich nun einmal nicht so oft.

       Kapitel 15

      Dem neuen Jahr war es gleich, ob es neu war oder nicht, sagte Sebastian sich indes er ins verschneite Land dort draußen blickte. Seinen der Ewigkeit entlehnten Rhythmus verdankte sich die Zeit und auch das was wir ein Jahr nennen, nur einer uns nicht fassbaren Wirklichkeit von Zeit, die sich nicht bloß aus einer simplen Umrundung der Sonne durch die Erde ergibt.

      In den Zellen froren die Gefangenen. Viele wickelten sich in ihre Decken wie in eine Toga und liefen abwechselnd, alle auf einmal ging ja nicht wirklich, den schmalen Gang zwischen den Betten auf und ab. Und da das noch Jahre so weitergehen würde, mussten Menschen sich auch auf ein Leben einrichten, wie es Schweinen oder Kaninchen bis zur Schlachtung zugemutet wurde. Einen Lichtblick gab es: Man konnte und durfte lesen, ganz gleich auch was es war … Eines Tages krachten wieder mal Schloss und Riegel und in der aufgestoßenen Türe stand ein Schließer, dem Arno Sawatzky Meldung machte. Hinter dem Schließer erschien auch gleich der Bücherkalfaktor mit der voluminösen Bücherkiste auf dem Rollwagen. Wie üblich warf er den Zelleninsassen vier Bücher in die Arme. Die gelesenen oder auch nicht gelesenen wanderten rasch zurück in die hohe Bücherkiste. Dann verschwand er auch schon mit seinem Rollwagen und die Türe fiel krachend ins Schloss.

      Sebastian besah sich mit Siegfried zusammen diese Bescherung auf dem Tisch.

      Alles ihm unbekannte Autoren, stellte er fest und Siegfried nickte dazu: Übersetzungen aus dem Rumänischen, dem Polnischen …. und ein Buch fiel aus dem Rahmen. „Vom anderen Ufer“: lautete der geheimnisvolle Titel. Auch von diesem Autor namens Alexander Herzen hatte Sebastian noch nie etwas gehört.

      Aus dem Vorwort erfuhr er, dass dieser Autor in der Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts gelebt hatte. Weshalb kommt so ein Buch in eine DDR-Zuchthausbücherei fragte er sich neugierig geworden. Den „Anmerkungen“ konnte er entnehmen, dass dieser Alexander Herzen „Die blutigen Junitage von 1848“, in Paris miterlebt hatte. Das machte Sebastian dann allerdings einen Tick skeptisch, aber doch zugleich auch wieder neugierig, denn wenn so ein Buch in der DDR erscheinen durfte, würde dieser Herzen doch sicher als ein ernannter Vorläufer der heutigen Bonzen missbraucht werden. Und wenn dessen Texte sich dazu eigneten dürfte wahrscheinlich nicht allzuviel dahinter stecken. Mit diesen Überlegungen setzte er sich auf einen Hocker dicht unters Fenster, das aufgeschlagene Buch auf den Knien. Seine Skepsis nahm erst einmal nicht ab, als er in einer Einleitung über den Autor las, dass dessen Prosa nichts anderes als geschriebene Rede sei, einschließlich aller Vorzüge und Mängel des gesprochenen Wortes, wie es dort hieß. Metaphernreich, aber ungekünstelt verrate es die unwiderstehliche Neigung des geborenen Erzählers zu Übertreibungen mit langen Abschweifungen in der Schilderung von Ereignissen,