Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle


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„Warum sitzt ihr dann als hoch verurteilte Buntspechte hier?“

      Vater Sawatzky lachte. „Wir sind anjeschissen worden“, sagte er und wurde wieder ernst. „Die wollten in unser Revier fischen …“

      „Wir wissen aber, wer der Schweinehund war“, unterbrach Arno Sawatzky den Vater. „Die hatten ’nen Strohmann eingesetzt, der uns verpfiffen hat.“

      „Und dann haben die uns mit fufzehn Kilo Kupfer jeschnappt“, ergänzte der alte Sawatzky.

      „Wir sind ja auch angeschissen worden“, sagte Sebastian. „Und ich noch dazu vom besten Freund, der jetzt wohl Parteikarriere macht und für die Stasi arbeitet … Ich schäme mich manchmal dafür.“

      Der junge Sawatsky stand von seinem Hocker auf und winkte ab. „Wir sind zu doof für’s Leben, das is’ es.“

      Da ist was dran, sagte Sebastian sich. Wahrscheinlich wollten wir die Realität nicht sehen … „Ihr wart sicher genau so naiv wie wir“, sagte er dann. „Aber was wär’ das schon für’n Leben“, fuhr er fort, „wollte man überall immer nur Verrat und Feinde vermuten. Das hält auf Dauer doch keine Sau aus!“

      Sebastian stellte sich vor’s Gitterfenster und sah hinaus in einen nebelgrauen Spätherbsttag. So wie vor bald einem Jahr, als sie ihn abgeholt hatten an einem ebenso stillen grauen Tag, weg damals vom Zeichenbrett, weg von dieser großen Bleistiftzeichnung, diesem Kiefernwaldstück, in das er sich vertieft hatte.

      Schließlich wandte er sich ab, blickte in die vollgestellte Zelle und sah die Männer dort vor sich hindösen auf Hockern in der Enge zwischen zweistöckigen hölzernen Bettgestellen. Immer wieder derselbe Anblick: Einer saß, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in die Hände vergraben. Ein anderer starrte gegen ein Stück Wand gelehnt an die Zellendecke. Siegfried, der am Aufstand des 17. Juni beteiligt gewesen war, saß mit dem Rücken zum Fenster und hielt sich ein handtellergroßes Stück Zeitung, das der Zelle als Toilettenpapier zugeteilt worden war, dicht vor die Augen. Ein weiterer Stapel solcher Blätter lag auf dem Schemel neben der Waschschüssel. Aufgeweckte Geister, zu denen dieser Siegfried sich möglicherweise zählte, hatten in den Zeitungspapierfetzen zu lesen gelernt. Kannte man ja die Ideologie und die Verschlüsselung von Aussagen hinter den Druckzeilen und konnte sich so nicht selten ein halbwegs reales Bild über so manche Vorgänge in der Welt machen. Es war dies, richtig gekonnt, schon eine diffizile Kunst. Man musste sich dazu über längere Zeit viele Aussagen, die man diesen Zetteln zu bestimmten Ereignissen entnommen hatte nur merken, um dann durch Vergleiche immer wieder auf ein Muster von Verdrehungen zu stoßen, sodass es dann nicht mehr sehr schwer war Wahrheiten heraus zu filtern, über manches das da draußen vor sich ging.

       Kapitel 14

      Wieder waren Wochen ins Land gezogen. Im Herbst, Sebastian schätzte so im Oktober, hatte es wieder Kartoffeln zu Mittag gegeben, in aller Regel Pellkartoffeln mit Fischsoße oder brauner Mehlsoße, doch zweimal auch schon mit saurem Hering, sodass „Pellkartoffel“, ein älterer Schließer mit original ostpreußischer Aussprache und einem Vorwurf in der Stimme den Gefangenen nahe zu bringen versuchte, dass „Pellkartoffel mit Häring“, ein sehr gutes Essen sei, natürlich so, als seien sie als Verbrecher das gar nicht wert.

      Doch nun rückte auch Weihnachten näher. Die wenigen Tage bis dahin würden wohl wie im Fluge vergehen. Sein erstes Weihnachten als Gefangener. Über ein Jahr lag inzwischen hinter ihm. Da das Gericht ihm seine monatelange Untersuchungshaft bei der Stasi aber nicht angerechnet hatte, galt hier nur erst ein dreiviertel Jahr. Sebastian hielt es jedoch angesichts seiner Gesamtstrafe für müßig, schon jetzt mit dem Abzählen der verbrachten Zeit zu beginnen.

      Seine Mutter schrieb im Monatsbrief, dass Christa aus Leipzig sich gemeldet hätte. Die Mitteilung seiner Verurteilung habe sie erschreckt, doch sie glaube an ihn.

      Und dieser Brief war ohne Schwärzungen oder herausgeschnittene Zeilen durch die Zensur gegangen? wunderte Sebastian sich. So eine Verurteilung sollte ja das genaue Gegenteil bewirken, sollte abschrecken und möglichst Angst verbreiten und nicht den Glauben an einen Volksfeind befördern. Doch das da draußen, was immer es war oder worum immer es ging, es war doch sehr weit weg.

      Viel näher lag das Mittagessen zu Weihnachten. Sie waren ja alles Neue in der Zelle, niemand von ihnen hatte schon mal ein Weihnachten im Zuchthaus erlebt.

      Nahrung, Essen, so dürftig das auch stets ausfiel, war ja ein wichtiger Faktor und Zeitmesser in der Eintönigkeit ständiger Wiederholung. Draußen änderten sich die Jahreszeiten. Eines Tages lag Schnee im Hof, auf den Dächern und im Land draußen.

      „Weiße Weihnachten“, sagte Vater Kurt, der „Buntspecht“, und sah zum Fenster hinaus.

      „Is man bloß Modderschnee“, erklärte der Sohn. „Kann ja morgen oder übermorgen schon wieder wech sein.“

      Als sie eines Tages wieder durch den schrillen Ton der geschlagenen Stahlschiene aus dem Schlaf fuhren, verkündete Siegfried, dass heute „Heiligabend“, sei.

      Doch dieser Tag, ein genau so grauer Tag wie alle davor, verlief auch so. Und zu Mittag gab es Weißkohlsuppe, aber mit Kartoffelstückchen statt bloßer Mehlklümpchen. Was sollte auch sein, beruhigte man sich in der Zelle. „Heiligabend“, passte nun mal nicht ins „Kommunistische Manifest“. Kaum einer wusste inzwischen ja noch, weshalb es Weihnachten überhaupt gab. „Das macht die Kirche, ist deren Sache“, hieß es. Aber warum macht sie’s und wo? Dieser Tag quälte sich also dahin wie jeder andere. Dauernd herrschte draußen ja Kirchenkampf mit der Partei … Und Weihnachten? Draußen nahmen es die führenden Genossen zähneknirschend hin. Die Werktätigen der DDR mochten halt Weihnachten, als der Deutschen liebstes Fest. Aber hier?

      „Weihnachten“, sagte Sebastian schließlich abwinkend, „lasst alle Illusionen fahren, wenn jemand welche haben sollte. Wir Volksfeinde sind ja nicht die werktätigen Bürger“, fuhr er grinsend fort. „Ich jedenfalls nicht. Mir haben sie nach KD 38 die Bürgerrechte aberkannt und das geht hier sicher vielen ebenso.“

      Es wurde endlich Abend, „Heiligabend“. Die Zelleninsassen saßen bei diesem gelblichen Licht der 40 W-Birne über der Tür auf den Hockern, starrten vor sich hin und schwiegen. Was jeder dachte und woran er sich erinnerte, davon sprach keiner. Alle wussten ja, dass noch viele solcher „Heiligenabende“, vor ihnen lagen. Da galt es jede Sentimentalitätsanwandlung gar nicht erst aufkommen zu lassen.

      Als „Einschluss“, ausgerufen wurde und jeder seine Jacke und Hose zusammengelegt auf je einem Hocker deponiert hatte, wurde auch bald das Licht gelöscht. „Einmal werden wir noch wach, heißa dann ist Weihnachtstag“, murmelte Siegfried noch halblaut vor sich hin. Dann war es still und jeder lag ganz für sich mit seinen Gedanken auf dem Strohsack unter der ranzigen Decke, die auch noch schlecht wärmte.

      Nach Wecken, Zählung, Kübel vor die Tür und Verpflegungsausgabe: 500 gr.

      Brot im Stück für den Tag, sowie 20 gr. Margarine, leicht glasig und hart auf einem Blättchen Margarinepapier, einen Esslöffel Vielfruchtmarmelade mit Blättern und Stielen, alle zwei Tage eine mitteldicke Scheibe Wurst beziehungsweise ein Stückchen Käse und einen Becher unergründlichen Getreidekaffees … Holzschuhe an und „Raustreten zur Freistunde.“ Alles lief am ersten Weihnachtsfeiertag so ab wie auch an jedem x-beliebigen anderen Tag. Der Rundgang im Gleichschritt bei bereits festgetretenem Schnee sowie einigen Freiübungen in der kalten Luft, die den eigenen Atem sichtbar werden ließ, verlief mal wieder kürzer als sonst. Alle waren froh in ihren dünnen Klamotten, als es „Einrücken!“, hieß. Die ersten scherten aus dem Kreis aus und auf die Eingangsstufen des Zellenhauses zu, die andern folgten.

      „Oh du fröliche, oh du selige gnadenbringende Weihnachtszeit …“: ertönte aus den Reihen der einrückenden Gefangenen in leicht brüchiger Stimme diese kurze gesungene Sentenz eines bekannten Liedes zu diesem Tag.

      „Ruhe da! Schnauze halten!“, kam auch gleich die Antwort eines Schließers und verhieß nichts Gutes für diesen Weihnachtstag.

      Doch