Stunde. Er rechnete dabei nach, wieviel Kilometer er auf diese Weise am Tage laufen konnte. Es kam eine stattliche Marschleistung heraus.
Der Direktor des Zuchthauses, Oberleutnant a. D. Marloh, hatte die drei »Ausbrecher« zu der Disziplinarstrafe von vier Wochen Arrest, verbunden mit »strengem Arrest«, verurteilt. Diese Zeit mußten Jan, Franz und Christoph isoliert in den engen Käfigen bei Wasser und Brot verbringen.
An jenem Morgen, an dem das milde Septemberlicht mit einem matten Schein zwischen die Gitter drang, hatte Jan das Brot, das er zum Frühstück erhielt, schon verzehrt und sich auf den »Marsch« begeben. Der leise Klang seiner eigenen Schritte hinderte ihn nicht, auf alle Geräusche außerhalb seiner Zelle aufmerksam zu lauschen.
Die Schritte, die auf dem Gang draußen zu vernehmen waren, stockten an der Tür zu Jans Zelle. Jan wußte, daß der Wachtmeister jetzt durch den »Spion« schaute, um das Verhalten des Gefangenen zu beobachten. Jan gab keinerlei Zeichen dafür, daß er etwas gehört habe oder etwas vermutete. Er lief unentwegt hin und her.
Der Schlüssel drang ins Schloß und drehte sich, das Schloß sprang auf, und die Tür wurde geöffnet.
Der Wachtmeister machte einem andern Platz, der mit ihm gekommen war. Der Wachtmeister machte diesem anderen in einer sehr respektvollen Weise Platz, wie es sich einem Wachtmeister dem Direktor des Zuchthauses und Oberleutnant a. D. gegenüber gebührte.
Marloh trat in Jans Zelle.
Jan war stehengeblieben und schaute Marloh an. Der Gefangene hatte weder die Schultern zurückgenommen noch die Hände, an der Hosennaht gestrafft. Er stand ruhig, gerade, natürlich, in der gleichen Haltung, die er gegenüber jedem Wachtmeister einzunehmen pflegte. Vielleicht war die Falte zwischen seinen Augenbrauen, die sich ihm schon als Kind eingeprägt hatte, in diesem Augenblick noch etwas schärfer und tiefer. Aber auch das hätten nur diejenigen sagen können, die Jan genau kannten.
»… itler«, sagte Marloh. Er wirkte dem Gefangenen gegenüber schmächtig. »Na – Gefangener Möller – was machen Sie?«
»Es geht mir gut«, antwortete Jan.
In Marlohs Augen blitzte etwas auf. Er hatte die Augen des preußischen Offiziers, Augen ohne tiefen Hintergrund, Augen, die das, was sie sahen, einteilten in Freund oder Feind, gefährlich oder nicht gefährlich. Seine Augen erschienen Jan wie schartige Messer.
Das ist der Mann, der die roten Matrosen betrogen und ermordet hat, dachte Jan. Das hat er vor siebzehn Jahren getan. Jetzt will er wieder morden. Aber betrügen kann er uns nicht mehr.
»So, es geht Ihnen gut«, schnarrte Marloh. Er schnarrte es leise, ohne Stimmaufwand, mit einem Unterton des Mißtrauens. Er wußte offenbar nicht recht, was er aus Jans Haltung und Sprechweise machen sollte. War dieser Gefangene dumm? Oder war er unverschämt? – »So, es geht Ihnen gut. Dann haben Sie also kein Heimweh?«
»Was soll ich dazu sagen?« erwiderte Jan ruhig. »Das Heimweh, das kommt und geht. Wachtmeister Vürmann pflegte uns zu erklären, daß das so ’ne Krankheit ist.«
»Ich hoffe, daß Sie diese Krankheit anders und besser zu heilen versuchen, als mit Meuterei. Sie kommen bei uns nicht mit dem Kopf durch die Wand! Je eher und je gründlicher Sie das einsehen, desto besser für Sie!«
»Aus Heimweh habe ich nicht gemeutert. Sondern wegen der Behandlung.«
Jan, der gefangene Arbeiter, stand hinter den schweren eisernen Gittern dem Oberleutnant a. D. nach dieser Antwort noch einen Moment schweigend gegenüber. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, aber in diesem Augenblick drängte sich alles zusammen, was Jan Marloh gegenüber denken und empfinden konnte. Du Mörder … du kleine, elende, niederträchtige Kreatur!
Marloh hatte vielleicht noch irgend etwas sagen wollen. Aber er sagte nichts mehr. Er hätte selbst nicht erklären können, warum es ihm nicht länger angenehm war, sich an dem Anblick des eingekerkerten Flüchtlings zu weiden. Die Wirkung, die er auf den Gefangenen machte, hatte ihn enttäuscht. Es schien, als ob die Person des Zuchthausdirektors hier keinen Eindruck mache, und doch war es auch nicht möglich, dem Gefangenen eine Disziplinlosigkeit nachzuweisen.
Marloh ging. Der Wachtmeister schloß die Zellentür wieder ab, und Jan nahm seinen Marsch wie vordem auf.
Mittagbrot erhielt er nicht. Die ersten elf Tage gab es im Arrest und strengen Arrest kein Mittagessen. Von da an erhielten Jan und seine beiden Gefährten jeden vierten, schließlich jeden dritten Tag eine Mittagsmahlzeit.
Jan blieb allein in seinem Käfig und ohne Beschäftigung.
Marloh erschien noch einige Male. Nicht, daß er selbst das Bedürfnis gefühlt hätte, sich den Gefangenen anzusehen, der durch seine Flucht den Ruf des Zuchthauses zu Celle als einer Musteranstalt im Dritten Reich geschädigt hatte. Marloh mußte sich eingestehen, daß ihm der Anblick des Gefangenen immer widerwärtiger wurde. Aber es gab prominente Besucher, denen Marloh eine gewisse Sensation zu bieten verpflichtet war, und diese pflegte er zu dem Käfig zu führen und ihnen den gefangenen Meuterer zu zeigen. Jan betrachtete dann ohne jede äußerlich sichtbare Gemütsbewegung die feinen braunen und schwarzen Tuche, aus denen die Uniformen der Gäste geschneidert waren, er sah ihre Gesichter, die im Grunde immer die gleichen Gesichter waren und in denen sich eine mittelmäßige Intelligenz, Ehrgeiz und Brutalität ausdrückten.
Die Besuche waren Jan langweilig. Sie hatten ihm nicht mehr zu sagen, als er schon wußte.
War aber der Gefangene allein, so langweilte er sich nicht. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ihm das Alleinsein schwerfiel. Aber wie lange, wie unendlich lange lagen diese Jahre zurück. Damals, als ihn die Einsamkeit noch bedrückte, war er ein Kind von neun oder zehn Jahren. Die Eltern hatten ihn von daheim fortgeschickt, weil er zuviel Hunger hatte und aus den Kleidern zu schnell hinauswuchs. Er sollte sich seinen Unterhalt selbst verdienen. Das tat er als Hütejunge bei einem Bauern. Der Arbeitsherr des kleinen Jan war ein reicher Bauer gewesen, dem viel Land ringsumher gehörte, Felder, Wälder, Wiesen, Weiden. Weil alles Land rings dem einen großen Bauern gehörte, war es menschenleer und einsam. Auch die Knechte und Mägde kümmerten sich wenig um den kleinen Jan. Die einzige Tochter des Bauern war ein großes hübsches Mädchen und viel zu stolz, um mit einem Hütejungen zu spielen. Damals hatte Jan zuerst gelernt, was Heimweh heißt und Einsamkeit. Er hatte es noch oft erfahren müssen, und die Kruste um ein heißes und leidenschaftliches Herz war immer härter und starrer geworden. Er hatte sich gewappnet.
Jetzt, hinter Eisenstäben, wußte er die Einsamkeit zu ertragen.
Der Wachtmeister, der täglich die Gefangenen bei der Essenausgabe begleitete, war Jan nicht unfreundlich gesinnt. Er hatte auch ein Auge zugedrückt, als Jan sich vom Kalfaktor einen Bleistiftstummel besorgte.
Eines Tages stand ein Vers an der Kalkwand der Zelle, klein gekritzelt, so daß nur der ihn finden und lesen würde, der später einmal gleich Jan in den Käfig gesperrt wurde.
»Im Arrest, da hab’ ich gesessen,
vier Wochen bei Wasser und Brot.
Das werde ich niemals vergessen –
mein Herz blieb trotz alldem rot.«
Die Wochen des strengen Arrestes vergingen. Der »Maschoris« – der Wachtmeister – brachte dem Gefangenen eines Morgens die Anklageschrift des Staatsanwaltes. Die Anklage lautete auf »Meuterei«. Jan hatte es nicht anders erwartet. Alles, was Gefangene gemeinsam unternahmen, sei es, daß sie eine Beschwerde vorbrachten, sei es, daß sie das Essen verweigerten oder gar die Flucht wagten, alles, wozu sich Gefangene untereinander verabredeten, war »Meuterei«. Jan war in der Anklageschrift als der Rädelsführer bezeichnet. Das entsprach seinen eigenen Aussagen. Er hatte es so gewollt.
Der Gefangene erfuhr aus der Anklageschrift, daß der Termin nicht in Celle stattfinden konnte, weil die Flucht im Bezirk von Stade vor sich gegangen war. Die drei Übeltäter mußten nach Stade zur Aburteilung übergeführt werden. Jan lächelte ein wenig vor sich hin, als er wieder allein war. Der Bürokratismus machte in seinem Vaterland immer noch seine Ziegensprünge. Im vorliegenden