Jans Zelle öffnete sich. Er konnte unter Bewachung zu ungewohnter Zeit durch das Haus mit den vielen verschlossenen Türen gehen. Die Schritte hallten auf den Gängen und Treppen. Als Jan mit dem Wachtmeister aus dem Tore trat, stand das Gefangenen-Transportauto schon bereit. Jan stieg ein.
Seine beiden Fluchtgenossen saßen in dem Wagen. Die drei Freunde grüßten sich kurz und unauffällig mit den Augen. Ein jeder sah, wie mager und blaß der andere geworden war. Aber Jan las auch aus den Mienen von Christoph und Franz, daß hier keiner schlappgemacht hatte.
Am Bahnhof wurden die Freunde wieder getrennt. Im Reichsbahn-Gefangenen-Wagen war für einen jeden Insassen eine besondere kleine Zelle abgeteilt.
Jan hatte die Gedanken abgeschaltet und überließ es seinen Sinnen, zu arbeiten und die vielen Geräusche aufzunehmen, die sonst nicht mehr an das Ohr des Gefangenen dringen. Die Lokomotive ließ zischend Dampf aus, Stimmen von Reisenden waren vom Bahnsteig her zu vernehmen, der Stationsvorsteher pfiff. Die Räder setzten sich in Bewegung … Rm-tata-rm-tat-rm-tata …
Die Räder rollten schneller. Obwohl die Gefangenen von ihrer Umwelt nichts sehen konnten, fühlten sie sich mehr in das allgemeine Leben eingeschaltet als in dem Hause der Kerker, indem sich niemand aufhielt als Gefangene und Wächter. Heute fuhren sie in einem Zug, in dem auch »normale« Menschen saßen, Menschen, die ihren Geschäften nachgingen, Familien, die ihre Verwandten irgendwo besuchten.
Der Zug hielt an einer Zwischenstation. Wieder drangen die üblichen Geräusche des Bahnhofslebens auch in den Gefangenenwagen. Jans Gedanken setzten ein. Was für Menschen, dachte er einen Augenblick. Der eine will vielleicht in Stade seine Musterkollektion zeigen, eine Frau fährt zu ihrem Mann zurück, ein schönes junges Mädchen lacht aus irgendeinem Fenster des Zuges und nimmt Blumen zum Abschied in Empfang. An den Gefangenenwagen denkt keiner. Keiner denkt an uns. Sie leben dahin und sie wissen nicht, wohin die Reise geht. Eines Tages wachen sie auf, dann werden sich ihre Gesichter verzerren … denn sie müssen dem Krieg und dem Tod ins Angesicht sehen.
Rm-tata-rm-tat-rm-tata …
Was für Menschen! Sie brauchten nur an den Schalter zu gehen, eine Fahrkarte zu lösen, und konnten nach Spanien fahren, nach Spanien, wo um die Freiheit gekämpft wurde. Aber sie taten es nicht. Und Jan konnte es nicht tun. Hein Henne hatte ihn verraten.
Der Gefangene fuhr mit der Hand über sein kurzgeschnittenes Haar. Zorn kochte in ihm auf. Er hatte ihn lange zurückgedrängt. Gefühle ohne Ziel, Gefühle, die nicht zur Tat werden konnten, waren nichts für den Menschen. Sie verzehrten nur die Kraft. Jan hatte die unnützen Träume immer gehaßt. Er hatte auch über das Scheitern seiner Flucht nicht nachgedacht, er hatte sich selbst mit eiserner Energie gezwungen, nicht daran zu denken. Aber heute wallte es in ihm auf wie siedende Brühe. Er wußte selbst nicht, warum. Er konnte es auch nicht mehr hindern. Vielleicht war es der Transport, die Veränderung der Umgebung, die Hoffnungen weckte und in Jans Gefühl die selbst aufgebauten Schranken und Dämme einriß. Ihr Lumpen, ihr Verräter … Wenn ich noch fort könnte, wenn ich doch noch nach Spanien käme … ich und ein Gewehr in der Hand … ich mit den Genossen in der Volksarmee … Jan hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und seine Phantasie sah andere Bilder, als seine Umgebung sie ihm bot. Er hörte nicht mehr das Rollen der Räder und wußte nicht mehr, wieviel Stationen der Zug noch berührt hatte. Wenn … »Wenn« ist ein gefährliches Wort. Jan wurde es nicht mehr los. Er grübelte, machte Pläne, spann seine Gedanken weiter.
Als Jan in Stade als »Untersuchungsgefangener« in seiner Einzelzelle saß, war er von dem Gedanken an den nächsten Fluchtversuch besessen. Er konnte nichts mehr sehen, nichts mehr hören und nichts mehr denken, was nicht damit zusammenhing.
Er saß auf seiner Bank und betrachtete die Wände, die Tür, das vergitterte Fenster, die ihn von der Freiheit abschlossen. Stundenlang saß er so auf der Bank, andere Stunden ging er wieder auf und ab, wie es das gefangene Tier und der gefangene Mensch in gleicher Weise zu tun pflegen. Dabei hingen seine Augen immer an den Wänden, an der Tür, an dem vergitterten Fenster. Seine Augen studierten die Kerkermauern. Jan Möller war Zimmermann. Er hatte selbst oft genug am Bau von Häusern mitgearbeitet, um einen Bau sachverständig zu beurteilen. Immer wieder blieb sein Auge an einer Stelle hängen, an der der Putz von der Wand abbröckelte. Die Stelle befand sich an der Innenwand, die Zelle und Korridor trennte. Hier zum Beispiel …
Jan befühlte die Wände, er tastete die schadhafte Stelle ab.
Wenn es Abend wurde, machte er regelmäßig eine Stunde lang seine Freiübungen. Seine Muskeln und Sehnen, waren sehr kräftig. Sie sollten nicht dadurch schwächer werden, daß ihnen alle Übung fehlte.
Jan studierte auch mit Gründlichkeit die Mienen der Wachtmeister, die zu ihm in die Zelle kamen, und die Mienen der Gefangenen, die als »Kalfaktor« das Essen zu bringen und für Sauberkeit zu sorgen hatten.
Eines Abends fiel ihm ein Gesicht auf.
Jener breitschultrige und grobschlächtige Gefangene, er einen anderen Kalfaktor abgelöst hatte und jetzt den Essenkübel tragen half, hatte Jan zugezwinkert. Er hatte ihm auf jene schlaue Art, die jeder Gefangene rasch annahm, ein Zeichen mit den Augen gegeben. Er wollte irgend etwas von Jan. Was? Das würde sich noch zeigen. Ein Kalfaktor hatte viele Möglichkeiten, mit einem Gefangenen in Verbindung zu treten, wenn er das wollte.
In Jans Gefühl ging eine Veränderung vor. In dem Auenblick, in dem eine Möglichkeit erschien, irgend etwas praktisch zu erreichen, war er wieder so ruhig wie nur je. Er wartete nicht einmal mit Ungeduld, wie sich die Sache mit dem Kalfaktor weiter entwickeln würde. Er wartete voller Geduld.
Als die Nachricht kam, daß der Termin für Jan, Franz und Christoph verschoben sei, erschien Jan diese überraschende Mitteilung wie ein Zeichen, daß sich ihm die Gunst der Umstände wieder zuneigte. Nun hatte er Zeit, um die Annäherung des grobschlächtigen Kalfaktors abzuwarten. Er brauchte dem andern keine Vorgaben zu machen. Das war gut, es war sogar sehr gut.
Eines Morgens klimperte es ein wenig am Spion. Es war die Stunde, um die August, der Kalfaktor, den Gang vor Jans Zelle zu säubern hatte.
»He!«
Jan trat an die Tür heran und blickte durch den Spion in Augusts wasserblaue, immer etwas entzündete Augen.
»Du?«
Jan wartete stumm.
»Du …«
August schaute noch einmal nach rechts und links, und als er sich überzeugt hatte, daß kein »Maschoris« zu fürchten sei, erschien ein Grinsen auf seinem fleischigen, blassen Gesicht.
»Du, Jan, du kennst mich wohl gar nicht? Aber ich kenne dich … ja, da staunst du …«
»Hm … nee – ich kenn’ dich nicht.«
»Nee, nich … wir waren ja auch so viele … die damals zugehört haben, nicht? Weißt du noch, wie euer Prozeß war? Das ist doch hier in Stade gewesen. Ihr kommt jetzt wieder hin, in denselben Saal … der Staatsanwalt, der Sch … kerl … jetzt ist es ein anderer, aber es ist einer wie der andere …«
»Das ist schon wahr.«
»Jan … paß auf … du hast mir gefallen … wie du die zum besten gehabt hast und hast dich gehalten und keinen nicht verraten … weil du immer gesagt hast, das hast du alles allein gemacht …« August lachte vor sich hin. Er hatte einen breiten Mund. Seine Lippen waren blutleer. »Hör mal zu, du hast mir gefallen, Mann, du bist richtig … Also dann auf Wiedersehen … wir sprechen uns noch, ja?«
»Wie du willst.«
August kicherte und nickte.
Als er am nächsten Morgen unter Aufsicht des Wachtmeisters die Verpflegung brachte, tat er schon vertraulich und berichtete unverfroren, daß es Jans beiden Genossen nicht schlecht gehe.
»Laß das Geklatsche!« sagte der Wachtmeister unwirsch. »Ihr seid alle Waschweiber. Aber ich rate dir, August, wenn du noch weiter kalfaktern willst, so laß die Finger von den ›Politischen‹. Du kannst das für deinen Fall schlecht vertragen.«
»Jawoll, Herr