Auf alle Fälle sah ich zu, so schnell wie möglich unser Haus zu erreichen.
Auf dem Weg dorthin hatte ich ständig die Befürchtung, in jedem Moment einen schlanken Stahl zwischen meinen Schulterblättern zu spüren.
Endlich hatte ich unser Haus erreicht, schlüpfte durch das Gartentor und schloss es hinter mir. Nun fühlte ich mich sicherer, trotzdem konnte ich ein inneres Beben nicht verhindern.
Ich ging auf die Dachterrasse, auf der sich bereits einige Kollegen befanden und den Feierabend genossen. Ihr spöttisches Grinsen übersah ich großzügig, suchte mir einen Platz an der Brüstung, schaute auf die Gärten der Nachbarhäuser und versuchte cool zu wirken.
Ein paar Minuten später machten mich die Kollegen allerdings auf das drohende Unheil aufmerksam, dass sich unaufhaltsam unter mir zusammenbraute, denn sie hatten die Ereignisse auf der Straße schon längere Zeit beobachtet und sich köstlich darüber amüsiert.
Nun wurde es jedoch brenzlig.
Der Vater des Mädchens kam nämlich laut schimpfend die Straße entlang, im Schlepptau den Bruder des Mädchens. Diese Tatsache allein war bereits einigermaßen besorgniserregend, doch was mich außerordentlich beunruhigte, war der Gegenstand, den er in seiner rechten Hand trug.
Es handelte sich dabei nämlich um einen Karabiner, den er wild schwenkte. Als der Junge mit dem Finger auf mich zeigte, war im Nu unsere Dachterrasse leer.
Ich wollte mir allerdings keine Blöße geben und blieb vorerst an der Brüstung stehen.
Inzwischen war der Mann mit dem Karabiner direkt unterhalb von mir angekommen und rief Beschimpfungen zu mir herauf, die ich zwar nicht verstand, jedoch konnte ich seinen Unmut begreifen. Vielleicht war es taktisch unklug, ihm dabei direkt ins Gesicht zu schauen, denn plötzlich riss er den Karabiner hoch und legte auf mich an. Nun wurde es mir doch äußerst mulmig und ich wollte den Bogen nicht überspannen. Deshalb trat ich aufgesetzt lässig von der Brüstung zurück, doch als ich außer Reichweite des Karabiners war, konnte ich das Zittern meiner Knie nicht mehr unterdrücken.
Da ich erst kurz in diesem Land lebte, war mir nicht bewusst, dass ich in den Augen des Vaters gegen die „Schariah“, das islamische Gesetz, verstoßen hatte. Ein Gesetz, das unter anderem besagt, dass sich kein abendländischer Mann ungestraft einer Araberin nähern dürfe.
Allerdings lernte ich die islamischen Sitten und die arabische Tradition erst allmählich kennen und akzeptierte sie natürlich.
Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was mir passiert wäre, wenn das Mädchen meine Einladung angenommen hätte und ich mit ihr nach Bagdad in das Kino gefahren wäre.
In den folgenden Tagen ging ich vorsichtshalber nach der Arbeit nicht mehr vor unser Haus und ich sah auch das Mädchen nicht mehr auf der Dachterrasse. Ich stieß unzählige Stoßgebete aus, dass dieser Zyklus ohne Folgen enden möge.
Glücklicherweise konnte ich diesen Abschnitt wenige Tage später tatsächlich unversehrt beenden, denn ich wurde auf eine neue Baustelle umgesetzt.
Diese Baustelle befand sich etwa sechzig Kilometer westlich von Bagdad, in der Nähe von Falludscha, zwanzig Kilometer tief in der Wüste, direkt in einer Armeegarnison – beruhigend weit entfernt von dem aufgebrachten Vater des Mädchens.
Nicht weniger beunruhigend war jedoch die Tatsache, dass mir einige Kollegen glaubhaft versicherten, dass es auf jener Baustelle vor Schlangen, Spinnen und Skorpionen nur so wimmeln sollte – Tiere, die auf meiner Agenda ganz weit hinten standen, um mit ihnen Bekanntschaft zu schließen.
Das Risiko, einigen Artgenossen von ihnen zu begegnen, erschien mir dann doch zu hoch und ich nahm mir fest vor, nach dem Ende meines zehnwöchigen Aufenthalts nicht mehr in den Irak einzureisen, falls sich diese Behauptungen bestätigen sollten.
DAS CAMP, DIE BAUSTELLE, BAGDAD UND DER MITTELIRAK
Am vierten Juni 1982 wurde ich, gemeinsam mit einigen Kollegen, auf die neue Baustelle in der Wüste, nahe der Stadt Falludscha umgesetzt.
Falludscha war zu jener Zeit eine Stadt mit etwa 60.000 Einwohnern, allerdings mit Vororten. Die Stadt selbst kam mir gar nicht so groß vor.
Bevor man in die Stadt hineinfahren konnte, musste man erst den Euphrat überqueren. Das geschah über eine Pontonbrücke und war eine recht wackelige Angelegenheit. Wenn man den Euphrat passiert hatte, fuhr man an unansehnlichen Häusern, Hütten und kleinen Läden vorüber, ehe die Hauptstraße so etwas wie einen Stadtcharakter offenbarte.
In der Ortsmitte befand sich der Basar, der allerdings nach dem ersten Besuch bereits nicht mehr attraktiv genug war, um ihn ein zweites Mal zu besuchen. Er war klein, unscheinbar und hatte ein sehr begrenztes Angebot. Da machte es vielmehr Spaß, am Straßenrand entlang zu schlendern und in den kleinen Läden zu stöbern oder an den Ständen davor. Ich habe dort so manche Rarität gefunden.
Falludscha, eine fast ausschließlich von Sunniten bewohnte Stadt, war eine der wichtigsten Unterstützer des Saddam-Regimes.
Sie wurde bis zum Ende des Jahres 2013 zu einer bedeutenden Industriestadt ausgebaut in der fast 400.000 Einwohner lebten, ehe sie am vierten Januar 2014 in die Hände der Terrororganisation Islamischer Staat fiel.
Saddam Hussein investierte Millionen in die Entwicklung der Infrastruktur dieser Stadt, die mit einer Ringautobahn umgeben ist und Anschlüsse zu den bedeutendsten Städten im Mittel-und Nordirak besitzt. Ihre nahe Lage zu Bagdad war attraktiv genug, dass sich in Falludscha zahlreiche Regierungsangehörige, führende Funktionäre der Baath-Partei und hohe Militärs ansiedelten.
Während des zweiten Golfkrieges wurden die Stadt und die Gegend um Falludscha als „Sunnitisches Dreieck“ bezeichnet.
Seit ihrer Einnahme im Jahr 2014 war Falludscha eine Hochburg der gefürchteten Dschihadisten und Salafisten der Terrororganisation „Islamischer Staat“. Auch das nahe Ramadi wurde von den Terroristen eingenommen, konnte jedoch Ende Dezember 2015 von der irakischen Armee nach schweren Kämpfen zurückerobert werden.
In der Nacht zum dreiundzwanzigsten Mai 2016 begann die Irakische Armee eine Großoffensive, um Falludschah von den Dschihadisten zurückzuerobern. Zuvor waren die Zivilisten aufgefordert worden, ihre Stadt zu verlassen.
50.000 Personen die dazu nicht mehr in der Lage waren, blieben in der Stadt zurück. Kampfverbände der irakischen Armee, die irakische Luftwaffe und die Luftwaffe der US Air Force griffen die Stadt an.
Am dreißigsten Mai 2016 teilte die Irakische Armee mit, dass sie nun auf das Stadtzentrum vorrückt.
Nach wochenlangen schweren Kämpfen gab die irakische Nachrichtenagentur INA am sechsundzwanzigsten Juni bekannt, dass Falludscha vollständig von der irakischen Armee eingenommen worden war und die Terrormiliz IS vertrieben wurde.
Unsere Unterkünfte im Camp nahe Falludscha bestanden aus sogenannten Kuwaithäusern. Dabei handelte es sich um klimatisierte Stahlbungalows mit drei Räumen für neun Leute. Zu diesen Kuwaithäusern gehörte ein moderner Sanitärtrakt, der ebenfalls aus drei Containern bestand.
Wir waren zu Beginn der Baumaßnahme etwa zwanzig Leute, aber im Zuge des Baufortschrittes stockten wir auf über dreißig Kollegen auf.
Dazu kamen dann noch einmal etwa vierzig ägyptische Arbeitskräfte.
Das war ein zusammengewürfelter Haufen, den unsere Firma in Bagdad bei einer Arbeitsvermittlung angemietet hatte.
Im Grunde waren es Glücksritter, die versuchten, für ihre Familien in der Fremde etwas Geld zu verdienen. Manche waren vorher bereits schon zwei Jahre meist als Tagelöhner ohne feste Arbeit in diesem Land unterwegs gewesen.
Oft standen diese Menschen schon am frühen Morgen an der Karrada oder an der Saadun Street und hofften, dass irgendjemand eine Arbeitskraft suchen würde, um den größten Hunger stillen zu können und sei es auch nur für einen Tag.
Der Arbeitsvertrag in unserer Firma war für die Ägypter wie ein Lottogewinn. Für Monate, eventuell