brauchen keine Angst zu haben!“, rief er und nahm ihre Hand, um sie zu beruhigen. „Falls der Stier näher kommt, jage ich ihn weg, Mama.“ Henry nahm einen Stein vom Rasen auf, wie um zu zeigen, dass er stark war und den Stier fortjagen konnte. Anna wusste, dass sie nicht rennen konnte, denn sie war dick und lief schlecht und hatte deshalb auch besonders Angst. Sie konnte ihre Kinder nicht verteidigen, die Kinder mussten sie verteidigen. Hier draußen im kahlen, steinigen Tal gab es keine Stelle, wo man sich verstecken konnte. Vielleicht könnte man um den großen Felsen herum zur Wiese laufen, dachte sie.
Die Königsbauern im Dorf hielten sich abwechselnd einen Stier. Die Kühe mussten notwendigerweise begattet werden und einmal im Jahr kalben, um Milch zu liefern.
Der Stier lief in der Außenmark frei herum, weit weg vom Dorf. Er war durch seine Größe leicht zu erkennen, und weil er einen großen Ring in der Nase und einen Büschel unter dem Bauch hatte. In der Regel blieb er für sich, fern von den Menschen.
Die Torfarbeiter setzten sich, jeder für sich, auf einen Stein mit dem Gesicht zum Stier gewandt, der weit weg war, jedoch nicht so weit, als dass sie sein gewaltiges Brüllen nicht hören und sehen konnten, wie er die Hörner in das Gras stieß. Mit den Hörnern riss er Grasbüschel aus und warf sie hoch in die Luft und um sich. Er sah sehr, sehr gefährlich aus. Ob er auch so gefährlich war wie er aussah? Der Anfall war vorüber und sie sahen, dass er sich wieder beruhigt hatte. Er beugte den Kopf hinunter und begann zu grasen. Er ignorierte die verschreckte Familie völlig und ging langsam am Berg entlang, tief hinein ins Tal. Das Tal war groß, und der Stier kam diesmal nicht zu ihnen hinüber. Sie beschlossen, dass Mutter ein Auge auf das Tier hielt, während die Kinder ihre Arbeit zu Ende brachten.
„Jetzt gibt es erst einmal ein Stück Kuchen.“
Anna packte den Rührkuchen aus und die Kinder versammelten sich um sie. „Mmh, wie das nach Kardamom riecht!“, riefen sie.
Mit dem Dolch für das skerpikjøt schnitt sie ein paar dicke Kuchenstücke ab. Alle waren jetzt ruhiger. Der Stier graste friedlich in der Ferne. Wenn die Kinder durstig waren, gingen sie zur Quelle, die aus dem Berg kam. Der Quelle mit dem klarsten, reinsten, eiskalten Wasser.
Plötzlich hörten sie einen lauten Pfiff. Jóanis erschien und kam mit raschen Schritten auf sie zu. Er war mit seinem Tageswerk fertig. Das Boot war geteert, und das Fischernetz und die Haken in Ordnung gebracht. Er roch nach Teer, den man schwer von den Händen bekam. Teer setzte sich in den Hautfältchen fest, und Flecken auf der Kleidung ließen sich nicht vermeiden.
„Gibt es etwas zu essen?“, fragte er.
„Natürlich!“, lautete die Antwort.
Die Reste vom getrockneten Lammschenkel kamen hervor, ebenso Dolch, Brot und Margarine, und die noch hungrig waren, aßen. Auch für Vater gab es ein Stück Kuchen.
Wie man doch Appetit und rote Wangen von der frischen Luft bekam. Selbst Anna hatte ein wenig Farbe in ihrem sonst kreideweißen Gesicht bekommen. Mit Jóanis in der Nähe fühlte sie sich sicher, er würde schon mit dem Stier fertig werden, wenn es sein musste. Es ist gut, dass Jóanis gekommen ist und uns nach Hause begleitet, dachte sie. Sie begnügte sich mit diesem Gedanken, denn so etwas sagte man nicht laut. Man drückte seine Gefühle nicht aus.
Es wurde Abend. Der Weg nach Hause war anstrengender als der Hinweg. Alle waren müde nach der schweren Arbeit des Tages und der frischen Luft. Die Jungs liefen nicht vorneweg, und außerdem ging es den Hügel hoch nach Uppi við Garð. Auf dem Heimweg holten sie Borghild ab. Jóanis trug sie auf den Schultern. Sie quietschte vor Wonne, als er mit ihr zu rennen begann. Nach einer warmen Tasse Tee und einem dicken Stück Schwarzbrot gingen alle zu Bett. Selbst Schwester ging zeitig ins Bett und schlief ein. Anna dankte Gott in ihrem Abendgebet, dass Jesus sie beschützt und dafür gesorgt hatte, dass der Stier sie nicht mit den Hörnern getötet hatte. Jesus hatte ihren Angstruf gehört.
Im Spätsommer wurde der Torf in große luftdurchlässige Stapel gelegt, damit der Wind durchziehen konnte. Der getrocknete Torf war hart und schwarz und färbte nicht an den Fingern ab. Er hatte Form und Größe von Mauersteinen mit ungleichmäßiger Struktur. Die Familie war unzählige Male draußen im Tal, denn es hing von Wetter und Wind ab. Dann musste der getrocknete Torf eingesammelt und sicher untergebracht werden. Erst wurde ein krógv, ein Steinfundament, gebaut. Der Torf wurde im krógv aufgeschichtet und zuletzt mit dicken Grassoden bedeckt. Regen drang nicht durch die Grassoden, der Torf blieb trocken. Dieses Steinfundament wurde Jahr für Jahr benutzt, und als kein Torf mehr übrig war, wurde es für die Schafe als Unterstand verwendet. Es war harte Arbeit, den Torf nach Hause, nach Uppi við Garð zu bringen. Jóanis folgte der Mode und baute einen modernen Handwagen mit zwei großen Rädern. Es bedurfte dreier Personen, um diesen Handwagen, voll mit Torf, zu bewegen.
„Man muss es sich so vorstellen: Zwei Kinder gingen vorneweg, jedes mit einem Seil über der Schulter den Wagen ziehend. Hinten am Wagen waren zwei Handgriffe. Hier ging ein Kind und lenkte den Wagen und passte auf, dass er nicht umkippte. Schwester bestimmte, dass sie lenkte und wir anderen ziehen sollten, was am schwersten war. In der Außenmark gab es keinen Weg, wir mussten über Grasbüschel, Steine, Löcher und Unebeheiten gehen. Näher am Dorf gab es einen holprigen Pfad. Man musste aufpassen, dass die Ladung auf dem zweirädrigen Handwagen nicht umkippte.
Zu Hause wurde der Torf in den hjallur, den Schuppen, oder in eine Kellerecke gelegt und ordentlich gestapelt. Wenn man sich die Mühe machte, konnte man viel Torf unterbringen. Ostwärts, in der Ostbucht, hatte Vater einen weiteren Schuppen gebaut. Wir brachten den Rest des Torfs so weit wie möglich vom Tal in den östlichen Schuppen, bevor der Schnee kam. So konnten wir an schönen Wintertagen den Rest holen und ihn mit dem Handwagen die drei Kilometer bis nach Hause und den Hügel hoch bringen. Viele Familien hatten sich einen Handwagen angeschafft, der Platz für viel Torf bot, da es die Arbeit erheblich erleichterte. Als mein Großvater Janus jung war, gab es keine Handwagen. Damals trug man den ganzen Torf in einem leypur auf dem Rücken. Am leypur war ein starkes Seil befestigt, das mit einem alten Strumpf umwickelt wurde, damit es nicht in die Stirn schnitt. Der leypur wurde mit der Stirn als Stütze und dem Gewicht auf dem Rücken getragen. Man trug sowohl mit dem Rücken als auch mit der Stirn.
Wir begannen im Alter von sechs, sieben Jahren im Torf zu arbeiten. Wenn wir beim Torfstechen und der Heuernte waren, blieben die Schularbeiten liegen, wir durften keine Zeit damit vergeuden. Wir mussten arbeiten. Das war in den 1920er Jahren. Kinder sollten tatsächlich arbeiten.
Kinderarbeit? Heute ist man gegen Kinderarbeit. Ob Kinder wohl in anderen Ländern immer noch arbeiten müssen, damit die Familie überleben kann? Und wir sind dagegen?
Wenn das Wetter gut war, sollten wir den Lehrer bitten, uns freizugeben, damit wir zum Torfstechen und zur Heuernte gehen konnten. Torf war unser einziger Brennstoff. Wir verwendeten ihn für den Herd, der die Küche und das ganze Haus wärmte. Die gute Stube, die Oststube, wurde nie benutzt. Die Tür war immer verschlossen, damit sie nicht die Wärme im Haus verbrauchte und eingestaubt wurde. Nur wenn der Pfarrer zu Besuch kam, wurde die gute Stube benutzt, und dann heizten wir den Kachelofen im Zimmer mit Torf.
Der Torf aus dem Tal verschaffte uns Wärme, warmes Wasser, warmes Essen, selbst gebackenes Brot und so weiter, und zwar das ganze Jahr über. Wir mussten bereits im Frühling abschätzen, wie viel Torf gestochen werden sollte, also wie viel wir für die zwölf Monate im Jahr brauchen würden. Ohne Torf keine Wärme, kein warmes Essen und kein Brot.“
Schafe – Tod – Fleisch – Wolle
Frühjahr: Die Schafe bekamen Lämmer, die Widder hatten ihre Mannespflicht erfüllt. Die Natur war erwacht, es war Frühling, das Gras wuchs. Die Bauern achteten sorgfältig darauf, wann sie den Widdern erlaubten, sich mit den Schafen zu vergnügen, denn