Amy Fuglø

Eine färöische Kindheit


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das kalte Kind behutsam in den Sarg legte. Sie kniete und streichelte ein letztes Mal sein seidenweiches Haar, fühlte mit den Fingerspitzen den weichen Flaum auf dem kalten Scheitel.

      Die Augen des Jungen waren geschlossen. Es sah aus, als schliefe er friedlich.

      „Ruhe in Frieden“, flüsterte sie schluchzend, „wir werden uns wiedersehen.“

      Die Tränen tropften auf die weiße, selbst genähte Bluse des Jungen, die von den anderen Kindern abgetragen war – von Kind zu Kind weitervererbt.

      Sie richtete das Tuch, sah zu, dass es glatt war und seufzte tief: „Oh Gott.“ Dann schwieg sie, das Hirn leer von Worten – sie konnte nicht mehr.

      Der Vater griff nach der Bibel und öffnete sie. Auf Dänisch, mit starkem färöischen Akzent, las er langsam und unsicher, leicht stotternd: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde … und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“

      Das Flackern der Petroleumlampe leuchtete in fünf Paar ernste Kinderaugen.

      Er legte die Bibel auf den Küchentisch und faltete die Hände, die Kinder taten das gleiche. „Vater unser im Himmel …“

      Alle in der Küche waren still außer dem vierjährigen Aksel, der schon immer ein Zappelphilipp war.

      Der Vater sah liebevoll zu seiner Frau, er war ein Mann weniger Worte. Dann nagelte er den Deckel zu. Die Hammerschläge hallten durch das kleine Haus und ließen den Sarg erzittern.

      „Willst du nicht Aksel mitnehmen, damit ich mich eine Weile ausruhen kann?“, fragte die Frau müde ihren Mann.

      Der Vater hob den Sarg hoch und klemmte ihn sich unter den Arm.

      „Komm, Aksel“, sagte er und nahm seinen quirligen Sohn an die freie Hand. Dann gingen sie.

      Die Frau ging in die kleine Stube, die Wohnstube, wo sie ihre Kinder zur Welt brachte. Sie lehnte die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe, von wo aus sie mit ihren verweinten Augen dem kleinen Leichenzug folgte, bis er hinter der Hausecke weiter unten am Weg verschwand. Das Bild setzte sich in ihrer Netzhaut fest. Ein Bild, das sie nie vergessen würde. Ihr Mann, mit dem quirligen, lebendigen Jungen an der einen Hand und einem Holzsarg mit dem toten Jungen unter dem anderen Arm. Dort stand sie, die Gedanken wirbelten durcheinander. Wie wahr doch der Glaube an eine bessere Welt, wo Kinder nicht geboren werden, um gleich sterben zu müssen.

      Die Kinder gehörten dem Herrn, Gott sei Dank. Der Kleine war nicht getauft, denn bei den Baptisten wurde Erwachsenentaufe praktiziert, Taufe des Glaubens, Taufe der Bekehrung. Einst würde sie ihre beiden toten Söhne im Paradies wiedersehen.

      Ihr Mann gehörte der Kirche an, ging jedoch nie hin. Er brauchte keinen persönlichen Glauben, Religion war nichts, worüber sie diskutierten. Sie respektierten ihre unterschiedlichen Einstellungen. Alle im Dorf waren Christen, wenngleich es zwei verschiedene Auslegungen gab, die zwischen Kirchenleuten und Baptisten in Feindseligkeiten ausarten konnten.

      Glaube und Hoffnung waren doch für alle in dieser barschen Welt eine Lebensnotwendigkeit.

      Mit schleppenden Schritten ging sie zur schmalen, steilen Dachbodentreppe, einer Kombination aus Treppe und Leiter. Jede Stufe knarrte unter ihrem schweren Gewicht. Sie ging in die kleine Dachkammer, zum Doppelbett mit der Strohmatratze. Die Bettdecke lag am Fußende wie ein Klumpen mit den Federn in einem Ende des Bezuges. Sie schüttelte und klopfte, bis sie groß, füllig und aufgelockert war, legte sich ins Bett und zog die Decke über sich.

      Sie dachte an den Sensenmann, der vor kurzem das Dorf heimgesucht hatte. Eltern verloren ihre Kinder, und Kinder verloren ihre Eltern durch die Tuberkulose. Ihr Haus war Gott sei Dank von dieser gefährlichen Krankheit verschont geblieben.

      Die Augenlider fielen von allein zu. Sie sah vor sich ihren Mann mit dem kleinen Kindersarg unter dem Arm auf dem Weg zum Friedhof – jetzt …

      Sie spürte, wie die Schwere ihres Körpers allmählich nachgab. Die Geräusche ihrer plappernden Kinder unten verschwanden wie in Watte, und sie glitt in die barmherzige Umarmung des tiefen Schlafes.

      Das kleine Gefolge, bestehend aus Vater und Sohn, brauchte 25 Minuten, um den steilen, unebenen, löchrigen Feldweg hinunter und über den Fluss zu gehen, bis sie die Kirche erreichten. Sie betraten den Friedhof, der 50 Meter über dem Meeresspiegel lag. Der Vater ließ die Hand seines Sohnes los, stellte den Sarg auf den Boden und streckte den Rücken. Sein Blick fiel auf die vielen neuen Gräber, der Tod war allen bekannt.

      Der Totengräber hatte bereits das Loch gegraben. Der Vater nahm schweigend den Sarg mit seinem toten Sohn und senkte ihn ins Grab hinab. Er weinte nicht. Das Loch war nicht sehr tief, da es auf dem färöischen Friedhof keine dicke Erdschicht über dem Felsgrund gab. Er half dem Totengräber, den Sarg mit Erde zu bedecken.

      Als sie fertig waren, richtete er sich auf, steckte den Spaten in den Boden, die Arme und schwieligen Hände ruhten auf dem Schaft. Das Gesicht war wettergegerbt, die Stoppeln seines Eintagebartes bedeckten Kinn und Wangen, der Schnurrbart verbarg beide Lippen wie eine borstige Bürste. Die Augen waren klar, wach und blau, er sah über das Meer hinaus nach Westen. Wolken zogen über den Himmel, sie verdeckten jetzt die Sonne, und es blies kalt vom Meer. Nieselregen begann und setzte sich wie eine Schicht dichter, winzig kleiner Perlen auf den gestrickten, gewalkten braunen Pullover. Er schob die Schirmmütze die Stirn hoch und trocknete sich mit der Hand Schweiß und Regen ab. Er hoffte, dass es kein Unwetter geben würde und das Meer nicht das kleine Grab überschwemmte. Einst, noch vor seiner Zeit, hatte es einen schrecklichen Orkan aus dem Westen gegeben. Die enorme Brandung war mit Hilfe des Sturmes über den Friedhof gespült, hatte Gräber geöffnet, und einige Gräber waren ins Meer geschwemmt worden.

      In der Zwischenzeit war Aksel seiner Wege gegangen, er langweilte sich nie, fand immer etwas. Auf dem Boden lagen die schönsten bunten Seidenbänder, die man sich vorstellen konnte. Fröhlich machte er sich daran, die Seidenbänder von den anderen Gräbern einzusammeln, denn er wollte sie seiner kleinen Schwester Sigrid geben. Sie sollte hübsch sein und feine Schleifen im Haar tragen. Zu Hause hatte er nie solche schönen Seidenbänder gesehen. Es passte ihm gut, dass der Vater ihn losgelassen hatte, so dass er auf eigene Faust auf Entdeckungstour über den Friedhof gehen konnte. Was der Vater zu seinem Sohn sagte, als er diese eingesammelten Seidenbänder von den anderen Gräbern entdeckte, ist nicht überliefert. Aber die Familie erzählte davon lächelnd und mit liebevollem Klang in der Stimme. Die elfjährige große Schwester tröstete ihre Mutter: „Du brauchst nicht traurig zu sein, Mutter, wir sind ohnehin so viele Kinder.“

       Die kleine Schwester Sigrid, für die die Seidenbänder gedacht waren, war meine Mutter im Alter von drei Jahren, die Mutter meine Großmutter, der Vater mein Großvater. Der tote Junge war mein namenloser Onkel mütterlicherseits, und Aksel war mein Onkel. Es war im Jahr des Herrn 1918. Mutter ist jetzt 93 Jahre alt und die letzte Überlebende der Personen in diesem wahren Bericht.

       Danke, Mutter, dass du mir von deinem Leben erzählt hast, das so anders war als meins.

      ENTSTEHUNG DES BUCHES

       Wunderliche Färöer

      Auf halbem Wege zwischen den Shetlandinseln und Island erheben sich steile, drohende Klippen aus der Brandung des Atlantiks.

      Das sind die Färöer.

      Die Färöer sind Reste einer Gebirgskette, die sich ursprünglich von Schottland bis nach Grönland erstreckte. Mächtige Naturkräfte versenkten das meiste dieser Gebirgskette ins Meer. Nur einige wenige Gipfel wurden zu Inselgruppen, die über dem Wasser überlebt haben. Große, aktive Vulkane bildeten die Inseln, und das, was nicht im Meer versank, steht nun als Basalt in abenteuerlichen Formationen. Die Landschaft zeugt davon,