Rose Zaddach

Nadelherz


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danach in einem Fadolokal der Altstadt. Ich tauchte dort in ein tiefes Meer der Gefühle, ja ich stürzte kopfüber hinein durch die Gesänge der Fadistas, die von Sehnsucht und Verzweiflung, gescheiterter Liebe und unstillbarem Verlangen erzählten. Die Welt um mich herum vergaß ich und spürte die Erschütterung der Reue und den intensivsten Wunsch nach Wiedergutmachung. Endlich konnte ich mich meinem Schicksal beugen, ja es sogar lieben. Von Tag zu Tag fühlte ich mich immer mehr geläutert, bis der Zeitpunkt kam, an dem ich wieder in meine Heimat zurückkehren konnte.

      Es geschah nur wenige Tage nach meiner Ankunft in Lissabon, als ich die Lieder des Fados entdeckte. Ich lief am späten Abend noch ziellos durch die engen Gassen der Alfama, mischte mich unter die Einheimischen, ließ mich treiben und landete schließlich in jenem Lokal mit trüber Beleuchtung und einfachen Holztischen, um die sich eine dunkle Menschenmenge drängte. Die Touristen hatte ich hinter mir gelassen. Im Stimmengewirr vernahm ich die kehligen Laute der portugiesischen Sprache. Man befand sich in lebhaften Gesprächen miteinander, saß oder stand in kleinen Gruppen herum, gestikulierte heftig, umarmte sich oder klopfte sich freundschaftlich auf die Schultern. Nur ich war allein.

      Ich spürte wieder meine Einsamkeit. Den ganzen Tag hatte ich wenig gegessen, hoffte auf ein Abendbrot und erhielt Degenfisch mit gegrilltem Gemüse und einen guten Wein. Das Essen stärkte mich.

      Als ich das Lokal wieder verlassen wollte, verdunkelte sich der Raum und es wurde ein schweren Vorhang vor die Eingangstüre gezogen. Die Gespräche verstummten augenblicklich. Es trat eine spannungsvolle Stille ein. Eine schwarz gekleidete Dame erhob sich und trat ins Scheinwerferlicht in die Mitte des Raumes, einen einfachen Schal um ihre Schultern gelegt. Sie Spannung stieg, gebannt richteten sich die Blicke der Anwesenden auf sie, die mit rauer, dunkler Stimme zu singen begann, zu sprechen, zu rufen und zu flüstern. Zwei Begleiter mit Saiteninstrumenten improvisierten ihre Begleitmusik in dunklem Moll.

      Die Musik wühlte mich augenblicklich auf. Wehmut, Schmerz und die Sehnsucht nach Glück und Erfüllung versetzen mich in einen Rausch. Ich durchmaß die Abgründe und die Höhenflüge des Lebens. Wie alle im Raum konnte ich dem Sog nicht widerstehen, der mich in die Tiefe meines verwirrten Herzens herabzog. Schmerzvoll und deutlich standen mir die letzten, langen Jahre vor Augen: meine Leidenschaft zu Xavelia, meine schuldhafte Liebe, die Bestrafung – der Wunsch nach Wiedergutmachung, meine Irrtümer, mein Sturz in die Tiefe, die Einsamkeit, die Ausgeschlossenheit aus der Gesellschaft.

      Hier, in der Intimität und der Dunkelheit eines winzigen Lokals, in dem eine rauchige Frauenstimme von Liebe und Schmerz sang, überließ ich mich endlich meiner Trauer. Ich weinte mit Bitternis über die verlorene Liebe, über den Verlust meiner Heimat, über meine Mutter, die webend und strickend ihr Leben im Rollstuhl verbrachte, über den Tod meines Vaters im fernen Indien und über die Verstrickungen, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen. Die schwermütigen Lieder erlösten mich im Lauf der nächsten Wochen aus meiner Lähmung. Es begann, mir besser zu gehen. Ich wurde dem Leben neu geschenkt.

      Einige Wochen hörte ich dem Fado zu. Einige Wochen lebte ich auf den Augenblick hin, in dem in einem kleinen Lokal in der Alfama die Lichter ausgingen, im Halbdunklen eine Fadista hervortrat und mit Augen und Mund, mit Händen und Füßen und mit dem ganzen Körper ihre Leiden aus ihrem Innersten heraussang, bis auch meine Leiden zu schmerzen aufhörten.

      Immer wieder sangen sie dort ihre Lieder von der Saudade, der niemals erreichten Erfüllung und der Erfahrung, nie am ersehnten Ziel anzukommen. So, wie sich die Stimmung der einzelnen Fadistas von Tag zu Tag wandelte, so wandelten sich auch Tonart und Rhythmus, Mimik und Ausdruck des Körpers und so verwandelten sie mich. Mal sang die Fadista bewegt und mit großer Kraft, dann fühlte ich mich gestärkt. Mal stand sie still und rührte sich nicht, während ihre Lippen nur flüsterten, dann spürte ich angespannt das Zittern meiner äußersten Nervenfasern und mein Herzschlag stockte. Mal wurde sie ein Erdbeben, dann brachen aus mir alle ungesagten und dem Gedächtnis verwehrten Gesteins- und Felsbrocken des Schmerzes wie Lava hervor.

      Besessenheit breitete sich aus in jenen Nächten der Gesänge, während die Fadistas ihren Körper wie einen Baum im Wind bewegten, mit den Füßen auf einen Flecken Erde gebannt, der nicht größer war als die Fläche meines Briefpapiers, das ich im Augenblick in Händen halte, ein Bogen Papier, beschrieben mit Xavelias Handschrift, ihre jährliche Botschaft verkündend, die mich aufrichtete.

      Ich erinnere mich zurück. Ich erinnere mich genau an die Erschütterung und die Erleichterung, die ich vor nunmehr zwanzig Jahren in jenen Nächten erfuhr, als ich dem Fado lauschte. Ich erkannte, dass wir nur dann das Leben verdient haben, wenn wir uns über den Verlust erheben und den Mut zu immer wieder neuem Anfang wagen. Das Leben ist Schuld. Das Leben ist Verzweiflung. Aber das Leben ist auch und vor allem das Versprechen eines Paradieses, um das wir todesmutig zu kämpfen haben. Unsere Krönung wird immer die Liebe sein. So machte ich mich damals wieder auf den Weg. Ich kehrte zurück. Ich ordnete meine Geschäfte und begann mein Leben neu. Trotzdem vergesse ich nie.

       ICH VERGESSE NIE

       (Berret)

      Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich meiner jungen Geliebten begegnet bin. Es war der Tag, der mich später in unüberwindliche Leidenschaft stürzen und mein Leben aus der Bahn werfen sollte. Es war der Tag, der mich zu der Wanderung durch die Estremadura Spaniens veranlasste und mich über die portugiesische Grenze hinweg bis nach Lissabon führte.

      Jahre hatte es danach gedauert, bis ich mir wieder eine bürgerliche Existenz aufbaute. Lange hatte ich gebraucht, das Geschehene zu akzeptieren und meine Handlungen zu verstehen, noch länger, um zu verzichten. Bis heute kann ich Xavelias Zauber nicht entfliehen. Ich bin und bleibe ihr ergeben, obwohl ich als Geschäftsmann kühl und berechnend handele und mir meine Beziehungen frei nach Wunsch und Möglichkeit gestalten kann. Ich könnte frei sein, aber ich bin es nicht. Was fesselt mich so lange und hindert mich, mein Leben intensiver und vielseitiger zu gestalten? Warum gibt die Vergangenheit keine Ruhe?

      Fünfzig Jahre bin ich nun bald, ein Mann im sogenannten besten Alter: schlank, sportlich, sonnengebräunt und durchtrainiert, wie es unsere Zeit abverlangt. – Alles nur Ablenkungsmanöver vom Wirklichen, von meinem Innern, in dem die Wurzeln eines anderen Wesens wachsen und sich mit meinem Lebensbaum verbunden haben.

      Mein Herz ist laut kardiologischer Untersuchung gesund. Es schlägt fest und regelmäßig. Es schlug für viele Frauen. Eigentlich aber schlug es bis zum heutigen Tag nur für Eine. Ich akzeptiere es. Sie ist jetzt bald vierzig Jahre alt. Graue Fäden durchziehen mittlerweile ihr dichtes, braunes Haar, wie ich auf einer Fotografie ersehe. Doch dies nimmt ihr nichts von ihrer Ausstrahlung und ihrer Persönlichkeit. Sie ist alterslos für mich. Sie bleibt und bleibt. Sie bleibt ihrem Wesen treu. Noch nie habe ich einen Menschen getroffen, der sich trotzt allen Widrigkeiten so konstant treu geblieben ist und unveränderbar im Charakter. Sie lässt sich nicht verbiegen. Sie ist wie ein schöner und starker Baum, um den sich meine Wurzeln und meine Äste ranken, obwohl wir weit voneinander getrennt leben.

      Ich nehme jetzt ein Glas Champagner wie in all den Jahren an diesem denkwürdigen Tag und trinke auf meine ferne Geliebte und auf unsere Bekanntschaft. Ich trinke darauf, dass das Schicksal uns gnädig war und wir wieder in das Leben zurückgefunden haben. Ich trinke darauf, dass wir uns immer noch verbunden sind, obwohl wir uns lange nicht mehr begegnen. Ich trinke auf die Gewissheit, dass alles kein Traum war, sondern unser reales Leben, das uns verwundete, das uns mit dem Gesetz in Konflikt brachte sowie die Existenz meiner Familie vernichtete. Und doch möchte ich die Ursache „Liebe“ nennen. Denn niemals habe ich mich später mehr binden können. Ich war bereits gebunden.

      Manchmal war es ein Anruf, manchmal ein Brief, manchmal eine unerwartete SMS. So lebendig standen dann die Ereignisse wieder vor mir, dass es mir nicht mehr möglich war, einer neuen Beziehung die Liebe und Zuneigung zu geben, die sie verdiente. Ich trinke darauf, auf dass es meiner fernen Geliebten gut gehe. Ich trinke darauf, dass das Leben trotz technischer Perfektion eine unberechenbare Sache bleibt und ein Geheimnis in Allem ruht, das wir enträtseln müssen. Ich trinke auf meine tote Großmutter und auf meinen Vater, der in Indien starb, und ich spüre, dass die Toten hier an diesem Tag anwesend sind, dass ich