Rose Zaddach

Nadelherz


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Weg ermöglichen würden.

       DIE BEGEGNUNG

       (Berret)

      Ich stehe am Fenster und betrachte den Sternenhimmel. In der Villa meiner Großmutter habe ich das oberste Stockwerk ausgebaut wie ein Planetarium. Über mir eine Glaskuppel. Um mich herum riesige Fenster. Ich stehe an einem dieser Fenster ganz allein. Ich und das Weltall. Das Weltall und die Vergangenheit. Die Vergangenheit und das Leben. Das Leben und der Tod.

      Meine verstorbene Großmutter ist wieder im Raum. Sie ist zurückgekehrt, um mir die Hand aufzulegen und mir zu verzeihen. Mein Vater ist da und spielt wieder Cello, meine Mutter sitzt am Webstuhl und webt und webt, und dann sehe ich das Wohnhaus, wieder in „Vierundzwanzig Höfe“ am höchsten Punkt des Hügels – und ich sehe die schneebedeckten Berge hervortreten aus der Dunkelheit. Weiß leuchtet der Schnee und blutrot war der Himmel über dem Tal, als die Sonne aufging. Der Tag bricht an. Xavelia kommt.

      Sie ist angemeldet zum Probewohnen. Sie trägt einen rotweiß karierten Koffer in der rechten Hand und in der linken Hand einen offenen Korb mit einem Kaninchen. Ich soll das neue Mädchen empfangen. Ich bin sehr gespannt. Die Begrüßung neuer Schüler und Schülerinnen ist im Allgemeinen schon ein Grund leichter Anspannung. Wer kommt? Welche Persönlichkeit bringen die Neuen mit? Wie leben sie sich ein? Welche neuen Erfahrungen werden wir miteinander machen? Auf welche Art und Weise wird sich unser Zusammenleben ändern? Denn jeder Mensch bringt eine solch individuelle und einzigartige Lebensgeschichte und seinen einmaligen Charakter mit, der niemals ersetzbar oder austauschbar ist. Ich spürte aber zusätzlich zu diesen Fragen sofort, dass mich die neue Schülerin tief beeindruckte, ja faszinierte.

      In Erinnerung ist mir alles gegenwärtig. Ich sehe ihre schöne Gestalt, ihren stolz aufgerichteten Nacken, ihren forschenden, abwartenden, angstfreien Blick. Sie geht keinen Schritt auf mich zu. Sie bleibt mitten im Hof, vor dem Auto, das sie hergebracht hat, stehen und wartet. Sie ist noch nicht gewillt, ihre langen Beine in Bewegung zu setzen. Deshalb muss ich gehen. Ich, Berret. Ich bewege mich langsam und bedächtig auf sie zu. Sie erinnert mich an einen Stern mitten im Weltall, und um sie herum die anderen Sterne Lichtjahre entfernt. Sie leuchtet. Aber sie weiß es vermutlich nicht. Ich befürchte, dass sie gleich wieder verschwindet wie eine Fata Morgana, sich umdreht und in das Auto einsteigt, zuerst den Koffer hineinschubst, dann sich selbst hineinsetzt, das Kaninchen im Korb auf dem Schoß.

      Ich gehe einen Schritt auf sie zu, bleibe stehen. Warte. Gehe noch einen Schritt. Warte. Gehe zwei Schritte, warte lange. Dann macht Xavelia ihren ersten Schritt in Richtung ihres neuen Lebens hier bei uns. Ich habe gewonnen. Sie kommt mir entgegen. Langsam. Das Kaninchen im Korb zittert. Am Auto, an den alten Mercedes angelehnt, wartet ihr Begleiter, ein Herr Anfang sechzig. Er wacht über sie und ihre Schritte. Bleibt sie? Ich wage ein Lächeln für sie. Ich gehe zwei Schritte, drei. Dann bin ich ihr so nahe, dass ich das Kaninchen berühren kann.

      Ich ziehe eines der Zuckerstücke aus meiner Jackentasche, die ich immer für die Pferde dabei habe. Ich frage Xavelia im Scherz: „Das frisst es wohl nicht“ und ich bin überrascht über ihre klare und feste Stimme und ihre nüchterne Antwort: „Gib den Zucker mal den Pferden! Bring bitte mein Kaninchen in das Gehege. Es will wieder seinen Freilauf. Die Reise war lang.“

      Xavelia hatte sich also entschieden zu bleiben. Sie ging neben mir zum Gehege und wir ließen das Kaninchen frei. Sie kraulte ihm noch ein wenig das Fell und schon hüpfte es vorsichtig ins Gras davon. Sie reichte mir ihren Koffer und schwieg. Erspüren musste man, was sie wollte, sich einfühlen. Das war die Bewährungsprobe für sie: ob man über die Dinge schweigen konnte und sich trotzdem verständigen.

      Ich nahm den Koffer und zeigte ihr das Zimmer. Ich ging voran, aber wenn ich mich umdrehte, sah ich, dass sie mir folgte. Sie folgte mir auf leisen Sohlen. Sie richtete sich häuslich ein und saß schweigend mit uns abends am Tisch. Dort würden wir nach den Ferien bald etwas mehr als zwanzig Personen sein: meine Eltern und ich, zwei Erzieherinnen und die Schülerinnen und Schüler. Sie wohnten mit uns. Sie waren uns anvertraut. Dort saß nun auch Xavelia und nahm ihre samtenen Augen bald nicht mehr von mir. Ich war immer noch der Prinz des Hauses. Der Hoffnungsträger. Als kleiner Junge der Liebling der Eltern, das Lieblingsspielzeug der Schwestern, der Seelenverwandte meiner Großmutter, die schützend bis zum letzten Atemzug die Hand über mich hielt, der glänzende und sprachgewandte Lieblingsschüler und so weiter und so fort. Deshalb war es für mich nichts Außergewöhnliches, dass Xavelias Blick so oft auf mir ruhte.

      Die Tage und Wochen vergingen. Xavelia hatte sich ohne viele Worte eingelebt. Am Morgen besuchte sie die Schule, am Nachmittag fand man sie bei den Tieren. Vielleicht wäre auch gar nichts geschehen, wenn Xavelia nicht täglich bei den Pferden aufgetaucht wäre, während ich selbst dort meine Aufgaben erledigte. Ich war verantwortlich für den Reitunterricht und die Pflege und Versorgung der Tiere, und bald war auch Xavelia dort nicht mehr wegzudenken und teilte die Verantwortung mit mir.

      Während die anderen Schüler und Schülerinnen sich um die Arbeiten drückten, waren Xavelia und ich in den Ställen und im Gehege meistens alleine und es baute sich nach und nach eine Gemeinsamkeit auf, die immer enger und dichter wurde. Sind Sie schon einmal ausgeritten mit einem mutigen Mädchen? Sind Sie miteinander über die Felder galoppiert? Haben Sie gesehen, wie ihre Hände genau im richtigen Moment die Zügel lockerten und wieder strafften? Wenn nicht, dann urteilen Sie nicht. Schweigen Sie. Sie war jung. Aber auch ich war jung. Zu jung.

      Ich begann mehr an sie zu denken, als mir lieb war und sie zu vermissen. Aber noch war mir nicht bewusst, welche Gefahr uns umgab. Sonst wäre ich früh genug geflohen. Dann aber kam jener Abend, an dem meine Eltern ins Theater fuhren und ich sie alleine im Hause vertrat. Ich saß im Büro, das sich im Untergeschoß befand. Ein Stockwerk darüber lag der Schlaftrakt. Ich arbeitete am Computer, was ich immer tat, wenn ich zum Nachtdienst eingeteilt war. Xavelia lebte jetzt schon viele Monate im Haus. Es ging auf den Frühling zu. Wir hatten den Spätsommer, den Herbst miteinander verbracht, sie die Schülerin, ich der Praktikant. Wir hatten die Wälder durchstreift und Bäume zum Abholzen markiert. Wir hatten Brennholz gemacht und für den Winter gestapelt, wir hatten bis weit nach dem ersten Schnee die Pferde geritten und sie dann im warmen Stall abgetrocknet und gefüttert. Wir hatten zum ersten Mal gemeinsam den Weihnachtsbaum geschmückt und die Kerzen angezündet. Sie hatte mich jedes Mal angelächelt, wenn eine neue Kerze entflammte.

      Alle wussten, dass Xavelia sich immer, wenn irgend möglich, in meiner Nähe aufhielt, und alle hielten dies für normal. Alle waren froh, dass sie durch meine Anwesenheit so angepasst und freundlich war und ich einen guten Einfluss auf sie ausübte. Nichts und niemand warnte uns. Niemand sah die Gefahr, in der wir uns befanden. Niemand nahm wahr, wie wir immer mehr auf natürliche Weise zusammenwuchsen. Xavelia wurde älter und ging auf das vierzehnte Lebensjahr zu. Sie wurde zusehends Frau: groß und schlank, mit hohen Beinen, aber auch mit weiblichen Rundungen. Ich begann, sie immer mehr als Frau zu sehen, und ich wurde unsicher, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte, sprach aber mit niemandem. Noch hatte ich keine Vorkehrungen getroffen. Wir trieben schon im gefährlichen Fahrwasser. Bald würde ich mit Xavelia auf hoher See sein und kein Land mehr sehen.

       LIEBESERWACHEN

       (Xavelia)

      In der neuen Privatschule habe ich mich nun doch sehr gut eingelebt. Ich wusste nicht, ob ich bleiben würde. Ich bin immer noch scheu und schnell zu vertreiben. Ich bin wild und ungestüm. Ich kann meine Gefühle immer noch nicht vollkommen beherrschen: die Angst, die auftritt und mich überflutet, wenn man mir zu nahe tritt. Die Panik, in der ich Unheil abzuwenden versuche. Die Scham, wieder unterlegen zu sein und nicht Siegerin der Situation.

      Auch, wenn ich es mir nicht anmerken lasse, was es mich kostet, wenn ich mich gehen lasse, ich fühle mich jedes Mal wie nach einem verlorenen Kampf. Aber die Hoffnung war da, dass ich es schaffen würde, mich einzuleben und meine Abschlüsse nachzuholen.

      Bei Berret spürte ich, dass ich nicht zu kämpfen brauchte. Er hatte genau das richtige Maß, mir entgegen zu kommen oder auf mich