KINDHEIT
(Xavelia)
Ich bin Xavelia, das Kind und die Jugendliche, ich bin Xavelia, die Frau, von der Berret spricht. Xavelia, die immer noch schwere Träume hat. Xavelia, von der Berret glaubte, sie käme zurück. Ja, wie gerne wäre ich zurückgekommen. Berret ist der Mensch, der mich am besten kennt. Berret ist mir am nächsten, und ich glaube, dass auch ich die wichtigste Person für ihn bin. Seit damals. Ein Kind noch, sagte man. Aber ich glaube nicht, dass ich noch ein Kind war.
Niemand konnte mich zähmen. Ich hatte meinen Willen. Ich passte mich nicht an. Nicht an die Schulen, in die man mich steckte und nicht an das Familienleben zu Hause, nicht an den Tagesablauf in den Heimen und Internaten, in denen ich notgedrungen lebte, und auch nicht an die Liebe von Eltern und Geschwistern.
Meine Freiheitsliebe war ungebrochen und ungebremst. Ich ließ mich von Menschen nicht einengen. Ich hatte das Vertrauen verloren, dass sie es gut mit mir meinten, aber nicht meinen starken Charakter. Seit damals, als ich vor Kopfschmerzen zu schreien begann und niemand mir half, als ich Teller und Tassen zerschmetterte, wenn der Schmerz unerträglich wurde und man mich für böse hielt, hatte ich mich von den Menschen zurückgezogen. Niemand wusste, was ich durchmachte, weil es in meinen Ohren dröhnte und in meinem Kopf hämmerte.
Es waren die Tiere, die mich von meinem Unverstandensein erlösten. Die Tiere und ich, wir fanden uns, als ich mit acht Jahren in die Heimschule kam. Sie verstanden mich. Ihnen passte ich mich an.
Meine Mutter erzählte mir, dass ich krank geworden bin. Als kleines Kind hatte ich das Gehör verloren. Ich habe viel geweint, ja, so viel geschrien, bis sie mein Geschrei nicht mehr ertrug. Ich habe gebissen und um mich geschlagen und auch mit Gegenständen geworfen, wie schon berichtet. Sie ist mit mir von Arzt zu Arzt gegangen und von Klinik zu Klinik, alleine, denn meine Eltern lebten zu der Zeit schon getrennt. Alle Diagnosen trafen nicht zu. Später gab man einer Masernerkrankung und einer darauf folgenden Hirnhautentzündung die Schuld. Fest steht, dass ich immer wilder wurde und nicht aufwuchs wie die anderen Kinder. Ich hatte das Gehör verloren. Weil ich nicht mehr hörte, was man sprach, konnte ich mir die Welt auch nicht erschließen. Ich verlernte die Sprache ganz.
Ich wusste lange Zeit nicht, was die Welt von mir wollte. Ich bekam ein Hörgerät und riss es mir wieder aus den Ohren. Ich wehrte mich und biss, weil niemand, gar niemand an meinen inneren Gedanken und Gefühlen teilhaben konnte. Deshalb habe ich die Tiere entdeckt. Denn die Tiere ließen mich in Ruhe und sendeten Botschaften aus, die ich verstand. Sie waren einfach und klar. Sie wollten Nahrung und Zuwendung, Bewegung und Spiel und wenn sie müde waren, ihre Ruhe. Jedes Tier hatte seine besondere Eigenart, aber darin waren sie sich alle gleich. Sie waren wie ich. Ich war wie sie.
Im Steidelhof, der Heimsonderschule für Hörgeschädigte, in die mich meine Mutter irgendwann brachte, kam ich zum ersten Mal mit den Tieren in Berührung. Er befand sich am Rande einer Ortschaft, mitten in den Wiesen gelegen, und bestand aus dem Schulgebäude, fünf Wohnhäusern, in denen die Hauseltern mit den Schülerinnen und Schülern lebten und einem großen Gehöft. Dort durfte ich den Tag mit den Tieren verbringen. Ich blieb bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr.
Die Tiere ersetzten mir bald alles. Sie hörten auf mich, sie trösteten mich – und ich lernte, sie zu versorgen. Sie wurden meine Weggefährten und meine Aufgabe. Ich hielt mich im Schafstall auf und sah, wie die Lämmer zur Welt kamen. Ich strich über das Fell der Kälbchen, wenn sie, nass und wacklig, sich zum ersten Mal auf ihre Füße stellten. Ich ging zu den Fohlen auf die Weide und sah, wie die Stuten sie säugten. Ich konnte bald mit den wildesten Hunden und den schwierigsten Pferden umgehen. Sie wurden sanft und anhänglich mir gegenüber. Ich hatte meine Welt gefunden. Ich brauchte die Menschen nicht mehr.
Gleich zu Beginn lernte ich reiten. Rasch übernahm mein Körper den Rhythmus des Pferdes. Nie hatte ich Angst. Ich hatte eine geschickte Hand und starke Nerven. Das merkte auch der Tierarzt und ich stand ihm bald zur Seite. Ich hielt die Tiere fest, die behandelt werden mussten, und ich beruhigte sie mit Streicheln oder reichte dem Tierarzt die chirurgischen Werkzeuge, die er manchmal benötigte. Ich war zehn Jahre alt, als ich bei der ersten Operation assistierte. Ich tat dies, ohne mit der Wimper zu zucken.
Mittlerweile hatte ich auch das Hörgerät akzeptiert und die Sprache erlernt. Ich begann zu lesen und zu schreiben. Man gab mir Einzelunterricht. Aber an die anderen Kinder schloss ich mich nicht an. Meine Freunde blieben die Tiere, vor allem aber die Pferde. Ich bekam ein eigenes Reitpferd zugeteilt. Eine Einheit werden mit ihm, sein Wesen verstehen, dahin reiten im Trab, im Galopp, im ruhigen Schritt, ihm Futter geben, es abtrocknen, seine Nüstern an meinen Ohren spüren, sein Wiehern, wenn ich kam, das war Glück. Das war tiefe Freude. Ich lebte mein eigenes Leben mit den Tieren fernab von den anderen Kindern – und so blieb es, bis ich den Steidelhof verließ. Ich war noch ein Kind, aber trotzdem kein Kind mehr. Ich war ein Kind, weil ich die Welt noch nicht kannte und noch unerfahren war. Aber ich war auch kein Kind mehr. Denn ich hatte Verantwortung übernommen. Die Erfahrung mit den Tieren hatte mich stark gemacht. Ich war mutig und traute mir das Leben zu. Ich lernte die Anhänglichkeit meiner Tiere kennen, die Verlässlichkeit des Lebens sowie die Achtung und den Respekt, mit dem unser Tierarzt mir begegnete, dem ich immer fachkundiger assistierte. Ich wurde seine rechte Hand.
Ich lebte dort sehr selbstbestimmt. Denn ich ließ mich nicht mehr erziehen. Meine Mutter scheiterte an mir und meiner Widerstandskraft. Sie hatte aus Unwissenheit und Hilflosigkeit vieles falsch gemacht. Ein Zurück gab es vorerst nicht mehr. Ich besuchte meine Mutter in den Ferien. Mein Vater hatte mittlerweile eine neue Familie gegründet. Ich sah ihn an Weihnachten, außer er kam zu Besuch in den Steidelhof, um dort über meine Zukunft zu reden, was er zuletzt immer häufiger getan hatte.
Es wurde über meine Berufsausbildung nachgedacht. Im Privatunterricht hatte ich alles notwendige Wissen nachgeholt. Ich ging im letzten Jahr zur Schule, um mich an die Gemeinschaft zu gewöhnen. Ich trat nicht mehr und biss nicht mehr. Ich hielt das Gefühl aus, in einen Klassenraum zu bleiben, ohne mich eingesperrt zu fühlen. Meine Mutter und auch mein Vater waren glücklich über meine Entwicklung. Ich sollte auf eine weiterführende Schule gehen und sie mit der mittleren Reife abschließen. Dann konnte ich Tierpflegerin oder speziell Pferdepflegerin werden. Das waren auch mein Wunsch und mein fester Wille, mein Lebenstraum. Den Traum habe ich auch verwirklicht. Heute besitze ich meinen eigenen kleinen Reiterhof. Ich habe alles erreicht, was ich mir vorgenommen und erträumt habe. Nur eines fehlt mir. Eines ist zu Bruch gegangen bei der alten Geschichte, die so lange zurückliegt und doch immer noch so nah ist.
Einen Wunsch konnte ich mir nicht erfüllen – und er steht zwischen Berret und mir. Er weiß es nicht. Ich habe es ihm nie gesagt. Ich habe nie darüber sprechen können. Es gibt einen Schmerz, der in meiner Seele sticht, wie viele spitze Nadeln und ich spüre das Stechen besonders in den langen Nächten, wenn die Träume wieder kommen und keine Ruhe geben. Ich werde wahrscheinlich keine Kinder bekommen. Ich wäre so gerne Mutter geworden. Ich sehne mich nach einem Kind, es ist ein großer Verlust für mein Leben und ich gebe die Schuld daran der tragisch geendeten Beziehung meiner frühen Jugend. So lebe ich denn mit meinem eingekapselten Kummer und zeige ihn nach außen nicht. Was hätte es geändert und was würde es ändern?
Immer wieder, so dachte ich, würde ein Schatten unseren Tag verdunkeln, wenn ich seinen Antrag annehmen und mit ihm zusammen leben würde. Deshalb zog ich irgendwann eine Trennungslinie und stürzte mich in das wilde Leben der Jugend, die ich nachzuholen versuchte. Außerdem kam mir der Liebhaber meiner frühen Jugend damals so gereift, so wesentlich älter vor, als ich mich mit achtzehn, neunzehn, zwanzig Jahren empfand. Wie kann es sein? Hatte ich mich so getäuscht? Wie hatte ich ihn geliebt!
Ich wolle, ja ich musste meine Jugend nachholen, nachdem ich die zurückliegenden Jahre von Erziehern und dem Jugendamt überwacht so unfrei gelebt hatte. Deshalb bin ich bald Beziehungen mit Gleichaltrigen eingegangen. Ich kehrte aber eine Zeitlang immer zu Berret zurück, weil ich mich auch nicht lösen konnte. Aber es kam der Tag, an dem ich ihn endgültig verließ. Auch Berret konnte das Hin und Her nicht mehr ertragen. Ich ging meinen eigenen Weg, obwohl wir beide die Verbindung nie ganz aufgeben konnten. Wir schrieben uns Briefe, aber leben konnten wir nicht miteinander. Nur so, auf die Entfernung, konnten wir die vergangenen