ging es ihm durch den Kopf „und auch die Nornen mit ihrer Weissagung in der Nacht sind kein Zufall. Irgendwer oder irgendwas versuchte hier unser Schicksal zu lenken.“
Er grübelte weiter: „Wenn es die Nornen nun wirklich gibt, dann habe ich auch einen realen Raben krächzen gehört, aber wer kann einen Raben so weit über die See fliegen lassen?“
Djarfur schüttelte wieder den Kopf.
„Odin? … Nein, welches Interesse sollte Odin an uns schon haben?“
Er hatte die Hütte wieder erreicht und öffnete die Tür. Grade wollte er seinen Fuß hineinsetzen, da hörte er wieder einen Vogelruf. Sein Kopf flog herum und sein Auge suchte den Himmel ab.
Djarfur erblickte eine riesige Möwe, die langsam einen Kreis über der Hütte zog.
Er rief in die Hütte: „Leif, komm raus, packt alles zusammen, wir müssen fahren. Hörst du? Da ruft eine Möwe!“
Leif und Einurd standen augenblicklich neben ihm und suchten mit ihren Augen den Vogel.
„Ja, du hast Recht, aber das ist keine gewöhnliche Möwe“, flüsterte Leif. „Sieh nur wie groß sie ist. Das ist der Eissturmvogel. Meinst du, das wäre ein Zeichen?“
„Ja, davon bin ich überzeugt, so wie hier auf dieser verfluchten Insel alles Zeichen waren, eines nach dem anderen, selbst der Rabe, den ich nach dir auch gehört habe. Lass uns sofort packen und verschwinden.“
So schnell sie konnten, luden sie ihr Gepäck in das Boot und stießen endlich erleichtert vom Ufer an.
Wieder schauten sich Leif und Djarfur irritiert an, als ein kräftiger Wind in das Segel fuhr und das Boot rasch an Fahrt gewann. Bis zu diesem Moment hatte Flaute geherrscht, kein Lüftchen war zu spüren gewesen und nun plötzlich ein guter Wind zum Segeln.
Die Richtung war den Männern noch nicht klar und Djarfur sprach aus, was sie beide dachten: „Nur raus aus diesem Dämmernebel, dann werden wir schon sehen.“
Sie waren eine kurze Strecke mit dem Wind gesegelt, da lichtete sich der Nebel, nein er verschwand einfach, in einem Augenblick.
Leif deutete nach hinten und Djarfur drehte sich um. Er glaubte seinem Auge nicht zu trauen, aber hinter ihnen hatte sich der Nebel restlos aufgelöst und die plötzlich klare Sicht zeigte ihm, dass mit dem Nebel auch die Insel, verschwunden war.
„Es gibt sie also doch, diese Nebelinsel aus den Erzählungen der Alten“, ging es ihm durch den Kopf. Und da waren die Worte der Nornen plötzlich wieder in seinen Gedanken und Ragnarök, das Sterben der Götter!
„Ob uns das jemals einer glauben wird?“, rief er Leif zu.
Der Wind kam günstig und Leif hatte, mit Hilfe der Sonne, ihren Kurs neu bestimmt. Beide Männer wechselten sich jetzt ständig an den Rudern ab, so dass ihr Boot zügig Fahrt machte.
Nur kleine, weiße Federwölkchen bedeckten noch den Himmel und die Sicht war klar. Die Sonne hatte noch nicht ihren Zenit erreicht und so wussten sie, dass sie noch heute den heimatlichen Fjord erreichen würden. Diese Erkenntnis spornte ihre Kräfte beim Rudern noch mehr an und das Boot fuhr mit höchster Geschwindigkeit dem Ziel entgegen.
Einurd jauchzte sogar manchmal auf, wenn sie von einer Welle besonders hochgehoben wurden und anschließend das Boot mit lautem Krachen zurück auf das Wasser fiel.
„Sie hat den Tod noch nicht richtig begriffen, oder eine besondere Gabe, mit ihm umzugehen“, dachte Djarfur.
Jetzt vernahm er mit dem Wind einen leichten Geruch von Land und sein Herz begann mit einem Mal wieder heftiger zu schlagen. Wieder ließ er seine Gedanken weit voraus eilen: Vor seinem Auge breitete sich der Fjord aus, der steinige Strand, mit der Böschung die dicht mit zahllosen Holunderbüschen bewachsen war und dahinter das Dorf. Seine Gedanken flogen, wie eine Möwe, über Björkendal dahin und er sah die etwa zwanzig kleinen Hütten, die um das große Langhaus herum standen.
„Ob das alles noch so ist? So viele Jahre waren wir fort. Ob uns die Leute noch erkennen? Gibt es Björkendal überhaupt noch? So viele haben damals die Heimat verlassen, als Erik der Rote9 neues Land entdeckt hatte.“
Djarfur hielt das Ruder fest, nein, er hielt sich am Ruder fest, so sehr, dass die Knöchel an den Händen weiß hervortraten. Die Sehnsucht nach seinem Fjord ließ ihn stoßweise atmen und sein Herz hämmerte so stark, dass er den Puls im Hals spürte.
Das Glitzern der vielen tausend Wellen, wenn die Sonne in den Fjord schien, die mit Nebel verhangenen Berge im Norden des Dorfes und die blühenden Wiesen um ihre Häuser, all diese Bilder schossen durch seinen Kopf und lösten einen richtigen Orkan an Gefühlen aus. Dann tauchten die Birken vor seinem Auge auf, zahllose Birken. Er liebte den hellen, lichten Birkenwald, die schlanken, weißen Stämme, seine Heimat, Björkendal.
Er war nie ein wirklicher Tierliebhaber, aber jetzt sehnte er sich nach dem Brummen der kleinen, zottigen Kühe und nach den blökenden Schafen. Alles stürzte jetzt, wie aus einem Eimer gegossen, über seinen Kopf und er wusste nicht, welches Bild er zuerst festhalten sollte.
Ein Gesicht tauchte auf, wie aus grauem Nebel, dem sie grade entronnen waren; Kylikki, das wunderschöne Mädchen Kylikki, das damals mit ihnen Eltern und ihrem Bruder Teemu von jenseits der Berge zu ihnen kam. Sie kamen vom Volk der Sami. Ach, was war er nur für ein Hitzkopf gewesen, er hatte mit ihr gespielt und sie im Wald genommen, ohne dass er sie wirklich liebte. Oder hatte er sie doch geliebt? Es hatte ihm damals nichts ausgemacht, ihre Hingabe zu genießen und zu wissen, dass sie ihn liebte. „Arme Kylikki“, dachte er. „Ich hoffe, dass du einen guten Mann gefunden hast. Ich werde mich bei dir entschuldigen, weil ich einfach so verschwunden bin. Wir verließen Björkendal zu dritt, Leif und dein kleiner Bruder Teemu gingen mit mir.“
Seine Gedanken schweiften weiter ab: „Teemu, der sich als Knabe auf ihr Boot schlich und sich erst zeigte, als sie schon auf hoher See waren. Er war eigentlich zu jung gewesen, aber er wurde dennoch ein guter Gefährte und auch ein guter Kämpfer …“
Vor Jahren schon verschwand Teemu aus seinem Blickkreis, ohne dass sie wussten, wohin.
Eine große Welle brachte ihn schlagartig in die Realität zurück und er ließ seinen Blick über das Boot und seine Ladung schweifen. In die Trauer, die er über Saidas Tod empfand, mischte sich jetzt Freude darüber, dass er wohl noch heute durch Björkendal gehen würde und sein Blick fiel auf die hundert kleinen Bäumchen, die in Säcken verpackt, ordentlich an der Bordwand aufgestellt und festgemacht waren.
Ein kleines Lächeln flog über sein Gesicht. Diese Bäumchen waren das Geschenk eines Frankenfürsten, das er für seine Heilkünste erhalten hatte. Er erinnerte sich an den Frühling vor zwei Jahren. Mit Saida hatte er, im Land der Franken, einen blühenden Apfelhain erlebt und mit ihr zusammen trank er das wunderbare Getränk, das die Leute dort aus den Äpfeln herstellten. Damals entstand ein kühner Traum in seinem Kopf; Apfelwein aus Björkendal.
Er hatte die Kinder des Fürsten geheilt und bekam dafür, auf seinen Wunsch, die einhundert Apfelbäumchen geschenkt. Der Fürst schüttelte zwar den Kopf über diesen sonderbaren Wunsch, aber er respektierte auch den klugen Heiler aus dem hohen Norden.
Der Bug hüpfte mit den Wellen auf und nieder und als das Boot einmal besonders laut auf die Wellen klatschte, schrak er wieder aus seinen Gedanken auf. Djarfur zwang sich in die Realität zurück. Er wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, blickte nach vorne, da begann sein Herz vor Freude wild zu hämmern und er atmete ganz tief ein. Glitzernd, in der Abendsonne lag der heimatliche Fjord vor ihnen. Ein heiserer Ruf drang aus seiner Kehle: „Leif, unser Fjord!“, dann lief eine Träne über sein bärtiges Gesicht.
Leif legte die Ruder auf den Bootsrand, sprang auf und schaute in Fahrtrichtung. Als wäre er trunken, knickten ihm plötzlich die Knie ein, aber er fing sich wieder, sprang über die Sitzbänke auf Djarfur zu und umarmte ihn stürmisch.
Einurds Stimme drängte sich zwischen die Männer: „Vater, sind wir jetzt in deinem Björkendal?“
Djarfur