ob es sich um Selbständige oder um Angestellte handelte, um Manager von Aktienbanken oder Privatbankiers. Von der Machtfülle, der Zahl der Mandate in Verwaltungsräten, auch der Bekanntheit in der Öffentlichkeit lagen die Direktoren der großen Wiener Aktienbanken an der Spitze. Für die Privatbankiers hingegen hatte Diskretion Vorrang.
Von den 68 Aktienbanken der österreichischen Reichshälfte im Jahr 1911 hatten 21 ihren Sitz in Wien. Auf diese 21 Banken entfielen mehr als zwei Drittel des gesamten Bankaktienkapitals der österreichischen Reichshälfte. Wien zählte vor dem Ersten Weltkrieg acht große Aktienbanken, man würde heute sagen, systemrelevante Banken. Die weitaus größte davon, die 1855 nach dem Vorbild der Crédit Mobilier gegründete Credit-Anstalt, stand immer noch im Einflussbereich der Rothschilds. Die 1863 unter maßgeblicher Beteiligung der Crédit Foncier de France entstandene Boden-Credit-Anstalt galt als Bank des Kaiserhauses und des Hochadels und betrachtete sich als die vornehmste Bank der Stadt. Dazu kamen noch die ebenfalls 1863 gegründete Anglo-Bank, ferner die Union-Bank, die Verkehrsbank, die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft und der 1869 gegründete Bankverein, der in der Gründerzeit eine recht dubiose Rolle gespielt hatte, nach der Jahrhundertwende aber eine sehr erfolgreiche Entwicklung startete, und als letzte der großen Bankgründungen 1880 die Länderbank, die als christlich-konservative Gegengründung zu den jüdisch dominierten Banken intendiert war, aber nichtsdestotrotz fast ausschließlich von jüdischen Managern geleitet war. Dazu kam eine Reihe mittlerer Aktienbanken, von der Merkurbank bis zur Depositenbank, deren spektakulärste Zeit erst in der Hyperinflation unter ihrem Präsidenten Josef Kranz beginnen sollte. Im Schatten Wiens stand der Provinzbankensektor, der in sehr rascher Bewegung war, mit zahlreichen Neugründungen, aber mit ebenso vielen Krisenfällen. Unbedeutend hingegen waren der Sparkassen- und der Genossenschaftssektor, sowohl nach System Schulze-Delitzsch wie Raiffeisen. Die Mitwirkung als Sparkassenrat oder in Genossenschaften brachte über die damit vertretenen sozialen Anliegen vielleicht symbolische Reputation. Wirkliche Finanzmacht oder große Marktanteile waren damit noch nicht verbunden.
Woher kamen die Bankmillionäre? Nicht alle aus begütertem Milieu. Einige schafften den Aufstieg von ganz unten. Nur vier waren nicht jüdisch. Der Geburtsadel war nur auf Ehrenposten zu finden, Montecuccoli als Präsident und Aushängeschild der Länderbank und Kasimir Freiherr von Pfaffenhofen, der die Repräsentationsfunktion eines Präsidenten der Anglobank innehatte. Anders als vor 1850 kam der typische Wiener Bankier nicht mehr aus dem Deutschen Reich, sondern, wenn er nicht ohnehin bereits in Wien geboren war, aus den Sudetenländern. Max Feilchenfeld war in seiner Verbindung von norddeutscher Präzision und Wiener Melange fast schon eine Ausnahme. Auslandserfahrung war nahezu Bedingung, mehrere Sprachen waren Pflicht. Obligatorisch war auch, wissenschaftlich oder publizistisch tätig zu sein, in der Neuen Freien Presse zu schreiben oder als Buchautor hervorzutreten.
Völlig an der Realität vorbei gehen die Angaben und Schätzungen, die bislang über die Einkommen der Wiener Bankiers und Bankdirektoren der Jahrhundertwende angeführt wurden.50 Als Neurath 1906 von der Credit-Anstalt engagiert wurde, seien ihm 15.000 Kronen angeboten und Gesamteinkünfte von mindestens 45.000 Kronen garantiert worden. Auch Taussig, so heißt es, habe bis 1905 die 24.000 erreicht, dann 40.000 Kronen, Sieghart, sein Nachfolger, 50.000, Spitzmüller 56.000.51 Die Wahrheit sieht anders aus. Theodor Ritter von Taussig versteuerte 1910 mit über vier Millionen das zweithöchste Einkommen der Habsburgermonarchie, Morawitz 1,4 Millionen, Feilchenfeld mehr als 500.000 Kronen, Lohnstein mehr als 200.000, Mikosch 141.000 Kronen. Josef Redlich, immer gut informiert, rechnete, dass sein Intimfeind Sieghart 1911 als neu bestellter Gouverneur der Boden-Credit-Anstalt die fantastische Summe von 200.000 Kronen tangieren würde, und da dürfte er weit unter der Wahrheit geblieben sein.52 Morawitz hinterließ ein Vermögen von 30 Mio. Kronen. Auch Taussig, obwohl von recht armer Herkunft, brachte es mit 10 Mio. Kronen im Laufe seiner Karriere zu einem sehr bedeutenden Vermögen.
Man muss bei den Einkommen der Bankmanager neben dem Grundgehalt in der Bank auf zwei weitere Einkommensquellen Bedacht nehmen, die Tantiemen aus den Verwaltungsratssitzen und die Erträge von Börsenspekulationen. Die meisten Direktoren spekulierten an der Börse.53 Die Grundgehälter lagen zwar unter der 100.000er-Schwelle. Aber den größten Teil des Einkommens machten die gewinnabhängigen Boni und die Einkünfte aus Verwaltungsratssitzen aus. Damit und mit spekulativen Börsegeschäften erreichten die Spitzenverdiener unter den Bankdirektoren ein Einkommen von mehreren 100.000 Kronen jährlich. Mitunter ging das schief. Maximilian Krassny hat an der Börse in Paris das Vermögen seiner Frau, einer Ehrenzweig, verloren und lag daher einkommensmäßig recht niedrig, aber immer noch bei 138.150 Kronen.54 Taussig hingegen muss in seinem letzten Lebensjahr mit Spekulationen mehrere Millionen extra verdient haben. Denn 1910 versteuerte er ein Einkommen von 4,8 Millionen Kronen. 1909 hatte er nur 748.000 Kronen deklariert.
Dieser Theodor Ritter von Taussig, der Lieblingsfeind von Karl Kraus, der Gouverneur der Österreichischen Boden-Credit-Anstalt, galt als der „hervorragendste Bankier des Landes“, wie Ludwig von Mises in seiner „Geldtheorie“ vermerkte.55 Spitzmüller lobte ihn als die stärkste Persönlichkeit der damaligen Bankenwelt: „Seine Konzeption auf dem Gebiet der Industriefinanzierung war eine ganz ungewöhnliche, oft auch überraschende und wohl auch bei der Wahl der Mittel zur Ausschaltung der Konkurrenz eine rücksichtslose.“56 In den Worten des Bankiers Richard Kola war er „der allmächtige Direktor“.57 Josef Redlich charakterisierte ihn als „frostig wie immer“.58 Er schrieb ihm in seinem Tagebuch einen privaten Nachruf, der, weil nicht zur Publikation gedacht, wohl ehrlich war: „Mit Theodor Taussig ist einer der stärksten und bedeutendsten Männer gestorben, die ich je gekannt habe. In den letzten Jahren standen wir uns näher: soweit das bei dem der Freundschaft wenig fähigen Naturell Taussigs möglich war. Er war aus einem königlichen Stoffe von der Natur geschnitzt: einer der wenigen Beweise dafür, dass das Echte, Große und Starke in der jüdischen Rasse, das zur Herrschaft befähigt, nicht ganz ausgestorben ist …. Im Abgeordnetenhaus aufrichtiges Bedauern bei den Klugen und Starken über Taussigs Tod, so bei Lueger und Liechtenstein!“59 Auch von Sieghart wird Taussig als „stärkste Persönlichkeit der Wiener Finanzwelt“ charakterisiert, die damals „an gescheiten und erfahrenen Bankleuten nicht arm gewesen“ sei.60 Er sei nicht sehr beliebt gewesen, habe sein Judentum sehr hervorgekehrt, was ihn nicht hinderte, Lueger Kredite zur Verfügung zu stellen, als die Liberalen noch hoffen konnten, die Herrschaft der Christlichsozialen durch eine Kreditsperre zu brechen, wie Sieghart meinte. Ähnlich habe er sich angesichts der Pogrome in Russland verhalten. „Die Wiener Börse fürchtet Gott, Taussig, Wittgenstein und sonst nichts“, meinte Karl Kraus61, und schrieb von den „eisenfressenden Bestien Taussig und Wittgenstein“.62 Ging es Taussig um persönlichen Reichtum, ging es ihm um das Ansehen seines Instituts, ging es ihm um die Macht? Er kam von sehr niedriger Herkunft: Der Vater, ein Industriearbeiter mit wechselnder Beschäftigung, arbeitete sich langsam empor, vom Gelegenheitsarbeiter über den Handlungskommis zum Kohlenhändler. Taussig war vergleichsweise wenig assimiliert. Er wurde als gläubiger Jude beschrieben, der, genährt von der Bibel, im Erfolg seiner Bank die Erneuerung des biblischen Mysteriums erblickte.63 Von 1901 bis 1906 war er Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Die Erbschaftssachen im Hause Taussig, der zehn bis 20 Millionen Kronen hinterlassen hatte, merkt Redlich noch an, seien „nicht sehr freundschaftlich verlaufen!“.64
Symbol des wirtschaftlichen Aufstiegs der Monarchie: Max Ritter von Gomperz.
Julius Herz stand in der Boden-Credit-Anstalt im Schatten Taussigs, des allmächtigen Gouverneurs. Nach dessen Tod wurde er Vizegouverneur, als Gouverneur wurde ihm Rudolf Sieghart vorgezogen. Sein internationales Standing hatte sich Herz in Paris und London erworben. Er glänzte mit brillanten Sprachkenntnissen, ökonomischem Sachverstand und herausragenden Fähigkeiten zur Repräsentation. Als Übersetzer der Werke des britischen Ökonomen G. J. Goschens genoss er auch wissenschaftliches Ansehen. Sein großer Rivale Sieghart, der ihn bei der Nachfolgefrage ausgetrickst hatte, sagte zu seinem Ableben: ein Bankier und Finanzmann in allen Fasern seines Lebens, ein Bankier der guten alten Schule … ein außerordentlicher Kenner der Tradition … ein lebendes Buch … ein reicher Tresor an Erfahrungen …65 Ob er es ehrlich meinte, ist zu bezweifeln, obwohl er zweifellos recht hatte.
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