eine Schule unter Feuer genommen wird
KAPITEL 24 · DOHUK – IRAK
Wie christliche Assyrer ihre Zukunft sehen
KAPITEL 25 · QAMISHLI – SYRIEN
„Mein Vater ist stolz auf mich“
Wie ein neues Denken um sich greift
KAPITEL 26 · BAR‘AM – ISRAEL
„Ich bitte Sie um etwas Geduld“
Wie vertriebene Dorfbewohner seit fast 70 Jahren um ihr Land kämpfen
KAPITEL 27 · ANKAWA – IRAK
„Wir machen uns gegenseitig Mut“
Wie Flüchtlinge sich nach der verlorenen Heimat sehnen
KAPITEL 28 · KAFRO – TÜRKEI
„Manchmal muss man etwas opfern“
Wie schwer die Rückkehr aus dem Westen ist
KAPITEL 29 · DİYARBAKĪR – TÜRKEI
„Du musst es dir selber sagen“
Wie „Krypto-Armenier“ ihre Identität entdecken
KAPITEL 30 · BAALBEK – LIBANON
„Ich wusste, was ich vor mir hatte“
Wie die Tochter eines Scheichs sich gegen ihren Vater auflehnt
Übersichtskarte „Christen im Nahen Osten“
Vorwort
Für dieses Buch war ich drei Monate lang von September bis Dezember 2015 in sechs Ländern des Nahen Ostens unterwegs. Dort sinken nicht nur Städte und Dörfer in Trümmer, es stirbt auch ein Stück Kultur mit einer zweitausendjährigen Geschichte. Vom Euphrat bis zum Nil droht dem Christentum der Untergang – ausgerechnet in der Region, wo es einst entstand. Was sind die Gründe für diese Agonie? Wer ist dafür verantwortlich, dass Kopten und Katholiken, Maroniten und Melkiten, Griechisch- und Syrisch-Orthodoxe seit Jahren in Scharen den Orient verlassen? Welche Schuld haben die Christen selbst? Trägt Europa am Ende auch noch dazu bei?
Die Antworten sollten nicht von mir, sondern von Menschen vor Ort kommen. Denn sie erfahren am eigenen Leib, was Religion in dieser Weltgegend bedeutet, in der außer den Christen auch Juden und Muslime ihre historischen Wurzeln haben. Religion kann eine Quelle großer geistiger Kraft sein, aber auch eine Quelle von Zerstörungswut, in der sich nichts anderes als Neid und Gier, Machthunger und Machodenken austoben.
Die Recherchen, die ich in dieser gefährlichsten Konfliktregion der Welt betrieb, waren nicht immer ganz einfach. Oft war ich auf die Hilfe von Übersetzern für Arabisch, Aramäisch und Kurdisch angewiesen. Häufig musste ich erleben, dass Menschen aus Furcht nicht wagten, mit mir Kontakt aufzunehmen. Manchmal waren sie dazu unter der Bedingung bereit, dass ich versprach, ihre Namen nicht zu nennen.
Wer in Ländern arbeitet, die von Terror und Gewalt gezeichnet sind, muss immer abwägen, wie viel Risiko die Suche nach der Wahrheit rechtfertigt. Wo immer ich eine Chance sah, habe ich Anstrengungen unternommen, um die erhaltenen Informationen durch die Befragung oder das Studium anderer Quellen zu verifizieren. Doch waren mir in vielen Fällen Grenzen gesetzt: Ein Besuch bei der „Gegenseite“, der üblicherweise zu einer Recherche gehört, hätte nichts anderes bedeutet, als meine Arbeit, meine Freiheit oder gar mein Leben aufs Spiel zu setzen. In solchen Fällen versuchte ich zumindest, meine Informationen mithilfe einer dritten, unabhängigen Seite zu überprüfen.
Die Menschen, die mir ihre Erlebnisse erzählten, hatten für mich als Autor einen großen Vorteil: Sie waren in ihrer großen Mehrheit keine professionellen Sprecher von Parteien oder Kirchen, Organisationen oder Institutionen. Sie waren nicht dafür trainiert, bestimmte Nachrichten in die Medien zu lancieren, um dadurch erwünschte Wirkungen zu erzielen. Das bedeutet nicht automatisch, dass sie auf Anhieb immer die reine Wahrheit sagten. Aber Unstimmigkeiten und Widersprüche, die häufig auftauchten, waren in der Regel durch hartnäckiges Nachfragen bei ihnen selber oder in ihrer Umgebung zu klären. Fast immer stellte sich am Ende heraus: Es stand kein böser Wille dahinter, sondern es waren Erinnerungsschwächen oder Missverständnisse mit dem/der Dolmetscher/in – meist jedoch fehlende Erfahrung darin, leidvolle Erlebnisse gedanklich präzise und prägnant zu strukturieren.
Die Fakten, die ich zusammengetragen habe, mögen nicht jedermann gefallen. Das ändert aber nichts daran, dass es Fakten sind. Und ich meine allerdings schon, dass man nicht die Fakten seinem Weltbild, sondern sein Weltbild den Fakten anpassen muss.
Hans-Joachim Löwer
ANMERKUNG
Bei lokalen Namen und Begriffen sowie bei Namen von Personen öffentlichen Interesses wurde die in den Medien geläufigste Transkription gewählt, auch wenn diese nicht immer als „richtig“ im Sinne sprachwissenschaftlicher Vorgaben gilt. Bei den Namen der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wurde die von den jeweiligen Personen verwendete Schreibweise beibehalten.
KAPITEL 1 · VAKIFLI – TÜRKEI
„Fühlt ihr euch hier eigentlich wohl?“
Wie das letzte Armenierdorf mit seiner Geschichte umgeht
Bin ich im Garten Eden angekommen? Rote Rosen, die Toreingänge überwölben. Gelbe Ginstersträucher, die in der Sonne leuchten. Orangen- und Zitronenbäume zu beiden Seiten der Straße, die Früchte greifbar nahe und verführerisch durch das Blattwerk schimmernd. Hinter Geflechten aus Ästen und Zweigen verstecken sich schmucke Landhäuser und stille Villen – Residenzen des Rückzugs aus der lärmenden Welt. Ausflügler, die in Vakıflı landen, stoßen Rufe des Entzückens aus. Sie spähen durch die blühenden Büsche, um noch ein Stück mehr von diesem Paradies zu erhaschen. Zücken ihre Kameras, um ein paar Bilder mit nach Hause zu nehmen. Ziehen eine Schleife durch das verwunschene Dorf und spüren, dass hier irgendetwas anders ist. Vakıflı liegt an einem Hügel, 27 Kilometer südlich von Antakya, neun Kilometer vor der Mittelmeerküste. Wer hierherkommt, nimmt eine kleine Auszeit vom Leben. Ein Aquädukt, das die Gärten versorgt, zieht sich einen Steilhang entlang. Direkt an der Straße plätschern die Fluten über eine zehnstufige Treppe nach unten, ein Wasserfall als rauschender Höhepunkt des Dorfrundgangs.
An diesem Tag steigen nacheinander