Ich treffe Kuhar Kartun, die Frauenbeauftragte der Kooperative von Vakıflı. Sie ist Jahrgang 1962 und lebt seit gut 25 Jahren im Ort. Ihr Großvater gehörte zu den Helden des Musa Dagh, so sieht sie es eigentlich als Aufgabe an, Besuchern von der Geschichte des Dorfes zu erzählen. Doch auch sie tut es eher zögerlich und stockend, als wir uns dem Thema „Völkermord“ nähern. „Wir wollen in Frieden leben“, sagt sie. „Wir kämpfen hart genug darum, dass unsere Kinder hier überhaupt eine Zukunft haben. Wir werden ja nur deshalb gut behandelt, weil wir so wenige sind.“ Das Geschäft mit der Ökonische funktioniere eher schlecht als recht. Die meisten jungen Leute seien daher schon nach Istanbul gegangen.
Ich fange an, ihr ein paar Ideen vorzuspinnen. Man könne das Drama am Musa Dagh touristisch richtig groß einschenken, mit Dokumentarfilmen und einer Ausstellungshalle und historischen Wanderpfaden am Berg. Aber je länger ich davon fabuliere, umso entgeisterter schaut die Frau mich an. „Wir wären wohl damit überfordert“, sagt sie schließlich, „diese ganze Geschichte hier aufarbeiten zu wollen.“ Sie weiß natürlich, dass der Teufel los wäre, wenn die Leute von Vakıflı so etwas ernsthaft versuchen wollten.
Manchmal stellen türkische Touristen Fragen, bei denen es ihr schwer fällt, nicht die Beherrschung zu verlieren. „Wie kommt es denn, dass es euch noch gibt?“, hat sie mehr als einmal gehört. „Fühlt ihr euch hier eigentlich wohl?“ – „Wir waren schon lange hier, bevor die ersten Türken kamen“, pflegt sie dann trotzig-tapfer zu entgegnen. Und erschrickt doch immer ein wenig vor ihren eigenen Worten. „Zehn Jahre früher“, meint sie, „hätte ich so etwas noch nicht zu sagen gewagt.“ Sie spürt, kein Ort kann seiner Geschichte entrinnen. So wandern die Menschen von Vakıflı, wenn Besucher danach forschen, geistig auf einem schmalen Grat. „Wir wollen uns nicht zur Schau stellen“, sagt Kartun. „Wir wollen nicht ständig um Mitleid betteln. Wir wollen nur unseren Glauben leben.“
Kaum hat sie das gesagt, hören wir aus der Ferne einen dumpfen, grollenden Knall. Ich schaue die Frau fragend an. Am Himmel wölben sich dunkle Wolken, ob das wohl ein Gewitter ist? „Nein, das war kein Donner“, erwidert sie. „Wir kennen das Geräusch schon ziemlich gut. Es war mit Sicherheit eine Bombe.“ Syrien liegt, blickt man gen Südosten, gleich hinter den Bergen. Kuhar Kartun schaut nicht lange dorthin. Sie kehrt schnell zurück in ihre kleine, Gott sei Dank noch geordnete Welt. Das Leben im Dorf ist schwer genug. Aber wenigstens haben sie hier Frieden.
Ich packe meine Sachen und strebe dem nächsten dolmuş zu. Zwei Tage lang habe ich in die Vergangenheit geblickt. Aber, so schießt es mir plötzlich durch den Kopf, vielleicht war das auch ein Blick in die Zukunft? Habe ich hier ein Modell dafür gesehen, wie die Christen im Orient überleben werden? Wird es, wenn wieder hundert Jahre vergangen sind, 20, 50 oder 100 Vakıflıs geben? Ein Szenario, das mir am Anfang meiner Reise schwer vorstellbar erschien. In den drei Monaten, die vor mir liegen, wird sich das ein wenig ändern.
KAPITEL 2 · WADI NATRUN – ÄGYPTEN
„Man kann es aus den Gesichtern lesen“
Wie koptische Mönche mit ihren muslimischen Nachbarn leben
Je weiter weg von der Welt, desto so näher bei Gott. Dieser Glaube hat vor 1.700 Jahren junge Christen scharenweise in die ägyptischen Wüsten getrieben. Allein im Wadi Natrun sind es mindestens 5.000 gewesen, die seit dem 4. Jahrhundert als Eremiten leben wollten. Sie zogen sich in eine Gegenwelt aus Höhlen und Zellen zurück. Obwohl sie rein gar nichts besitzen durften, hatten sie offensichtlich eine große Anziehungskraft auf benachbarte Stämme. In den Klöstern, die da aus dem Boden schossen, gab es Wasser und Brot, kostbare Güter in der Wüste. Es gab wärmende Kutten, die Nomaden sich gern überstreiften, wenn die Nächte besonders kalt wurden. Es gab Brennholz und Essensvorräte, gestapelt in Kellerräumen. Es gab kunstvolle Ikonen, die sich als Raubgut an reisende Händler verkaufen ließen. Ein Kloster war eine lohnende Beute für Berber und Beduinen, die als Nomaden durch die nördliche Sahara zogen.
Den ersten Überfall im Wadi Natrun gab es im Jahr 407, ein halbes Dutzend ist schriftlich dokumentiert. Die wehrlosen Mönche wurden ihrer Kleider beraubt, niedergemacht oder auf Kamelen verschleppt und danach als Sklaven gehalten. Erst im 9. Jahrhundert begannen die Gottesdiener, ihre Klöster mit schützenden Mauern zu umgeben. Jeder Konvent hatte von nun an einen Fluchtturm mit einer Zugbrücke. In ihn zogen sich die Mönche zurück, wenn feindliche Horden heranrückten. Dort hatten sie so viele Nahrungsmittel gehortet, dass sie wochenlang ausharren konnten – so retteten sie wenigstens ihr Leben.
Heute stehen vier Klöster im Wadi Natrun, eineinhalb Autostunden westlich der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Die Türme ihrer Kirchen ragen wie mächtige Pfeiler in die Landschaft. Die Mönche haben die Wüste rundum in fruchtbares Land verwandelt, mit Feigen- und Olivenbäumen, Obst- und Gemüsegärten, Schaf- und Hühnerfarmen, Kuh- und Büffelherden. Freitags und samstags streben Tausende von Kairoern, Christen wie Muslime, diesen Bastionen zu. Viele Besucher kommen aus keinem anderen Grund, als einen Gesprächspartner zu finden, bei dem sie ihre Sorgen ausschütten können. Die Nachbarn aber, die nahe den Klöstern siedeln, sind offenbar ein etwas anderer Menschenschlag.
Ich sitze vor Pater Bertie, sein Name ist eine Kurzform von „Bartholomäus“. Er ist Jahrgang 1952 und lebt seit 40 Jahren im Kloster St. Makarios. „Hier war Wüste, nichts als Wüste“, erzählt er, „ich bin selber barfuß durch sie hindurchgegangen. Als wir Mitte der 1970er-Jahre mit der Bewässerung begannen, war noch kein Mensch hier auf diese Idee gekommen.“ Dann erzählt er, was die Mönche so alles auf ihrem neu kultivierten Land erlebten.
Es begann im Jahr 1976. Da kamen Leute und warfen plötzlich Stroh auf ein Grundstück, um es auf diese Weise in Besitz zu nehmen. „Es waren Beduinen vom Westrand des Wadi Natrun, sie wollten dort Wassermelonen pflanzen.“ Ein Abgesandter des Klosters suchte in der Hauptstadt den Innenminister auf, bald darauf wurden die Landbesetzer von der Polizei vertrieben. Der zweite Versuch war 1980. Die Bevölkerung wuchs, Nahrung wurde knapp, wieder ging es um Wassermelonen. Die Leute, die sich ein Stück Klosterland genommen hatten, brachten immerhin eine Ernte ein. Dann mussten auch sie auf behördliche Anordnung hin wieder abziehen. Der dritte Versuch war 1985. Ein Beduine namens Abdel Kader Latif Qadallah fuhr mit Begleitern im Kloster vor. „Das ist das Land meiner Vorväter“, eröffnete er den Mönchen, und das wolle er nun umgehend zurückhaben. „Er war von einem Anwalt geschickt worden, der für eine Firma arbeitete“, hat Pater Bertie damals recherchiert. „Dieser Anwalt gehörte der Muslimbruderschaft an.“
DIE ORTHODOXEN KOPTEN
Der Name rührt von „kubti“, der arabischen Bezeichnung für Ägypter, her. Mit schätzungsweise elf Millionen Mitgliedern ist die Koptisch-Orthodoxe Kirche die mit Abstand größte aller christlichen Glaubensgemeinschaften im Nahen Osten. Beim Konzil von Chalcedon 451 wurde die Zwei-Naturen-Lehre verkündet, wonach in Christus sowohl das Göttliche als auch das Menschliche vorhanden sei. Die orientalischen Kirchen spalteten sich daraufhin ab, weil sie Christus nur als Gott, seine menschliche Natur hingegen als eine Art „Verkleidung“ ansahen. Das Oberhaupt der Kopten trägt seither den Titel „Papst“. Das christliche Klosterleben erfährt in seinem Stammland Ägypten, anders als in Europa, eine Renaissance – trotz oder gerade wegen des islamischen Drucks.
Die Mönche von St. Makarios wurden nun doch von Unruhe gepackt. Sie suchten die zuständigen Behörden auf und legten ihre Besitzurkunden vor. Sie schrieben einen langen Bericht für die Polizei. Sie gingen vor Gericht, und das gab ihnen recht. Aber was ist so ein Urteil in Ägypten auf Dauer wert? Sie begannen eine zweite Mauer zu bauen, nach 14 Monaten war sie fertig. Drei Meter hoch und 16 Kilometer lang, umgab sie das gesamte Land, das dem Kloster St. Pischoi gehörte. So leben die Brüder wie in einer Festung und fast alle koptischen Klöster in Ägypten haben es ihnen mittlerweile gleichgetan.
2011 war in Ägypten das Jahr der Revolution. Nach dem Sturz von Staatschef Mubarak, erzählt Pater Bertie, sei weit und breit keine Polizei mehr zu sehen gewesen, und die Islamisten hätten mehr und mehr Oberwasser bekommen. Eines Tages zertrümmerte ein Bulldozer