eingeladen, mit dem sie den erfolgreichen Abschluss ihrer Kampagne gefeiert hätten – in einem schicken Restaurant, das dem Vater eines der Organisatoren gehöre. Im Libanon sind die Wege des Bösen wie auch des Guten oft auf tückische Weise miteinander verschlungen.
Ein Mitarbeiter der Sicherheitsdienste habe ihm erzählt, dass schon wieder ein neues Gerücht im Umlauf sei. Hinter dem Brandanschlag stecke der Eigentümer des Gebäudes, in dem die Bibliothek untergebracht ist. Der wolle das ganze Grundstück an einen Investor verkaufen, was wegen der zentralen Lage wohl ein ziemlich einträgliches Geschäft wäre. Weil das Haus aber unter Denkmalschutz stehe, sei ein für einen Neubau erforderlicher Abriss verboten. Wenn hingegen nur noch eine Brandruine übrig sei, gebe es nichts mehr zu schützen – und daher seien an eine muslimische Gang 2.000 Dollar gezahlt worden, um den Verfall der Strukturen etwas zu beschleunigen …
Sarrouj winkt ab und wendet sich ab. Genug der Verdächtigungen und der bösen Worte. „Es ist nicht meine Aufgabe, sondern die der Regierung, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Ich bin hier, um die Leute zu lieben. Ich trage sie auf meinen Schultern.“ Neue Kundschaft ist gekommen, es sind Eltern, die Kinderbücher suchen. Die Videokamera am Eingang nimmt jetzt alle Szenen auf. Der Priester aber blickt am liebsten nie dorthin. Glücklich führt er die Besucher an den Regalen entlang. Es ist doch viel schöner, sich nur mit Büchern zu beschäftigen.
KAPITEL 5 · KHABUR-TAL – SYRIEN
„Wo war denn unser Gott?“
Wie Kirchen in Trümmer sinken
Unter meinen Füßen knirschen verbeulte Plastikflaschen, verrostete Cola- und Thunfischdosen. Mein Blick fällt auf zerfetzte Sofas und Sessel, ausgebrannte Küchen, umgekippte Kühlschränke, herumliegende Kleidungsstücke und aufgerissene Matratzen. Haus um Haus taste ich mich mit meinen Begleitern voran. Es ist ein Rundgang durch ein zerschundenes Dorf.
„Und wo sind die Einwohner?“, frage ich.
„Irgendwo bei Verwandten“, lautet die Antwort. „Oder in einem Lager. Oder schon bei euch im Westen.“
Tel Shamiran ist der arabische Name dieses Dorfes, seine Bewohner aber nannten es Marbusnayeh. Sie waren Assyrer, Nachfahren eines Volkes, das um 900 v. Chr. in Mesopotamien das erste Großreich der Welt errichtete. Die Menschen, die an den Ufern des Flusses Khabur siedeln, sprechen noch heute Aramäisch, die Sprache Jesu. Sie gehören zu den Kulturen, die man die „Versprengten der Geschichte“ nennen kann. „Das war die Front“, sagen die Assyrer, die mich hierhergebracht haben. „Hier haben sich die IS-Kämpfer verschanzt. Die Häuser boten ihnen Schutz. Ohne die Unterstützung der Alliierten aus der Luft hätten wir sie wohl nur schwer vertreiben können. Schauen Sie sich um! Das Dorf sieht heute noch so aus, wie die Leute vom ‚Islamischen Staat’ es verlassen haben.“
Drei Monate lang, von Februar bis Mai, tobten hier 2015 die Kämpfe. Die daesh, wie die selbsternannten Gotteskrieger im Nahen Osten heißen, hatten einen Großteil der Provinz Hassaka im Nordosten Syriens überrannt. In Dörfern wie Tel Shamiran buddelten sie Bunker in die Gärten und hoben Schützengräben aus. So schossen und starben sie für Allah und ihren Traum vom Kalifat, das sie am liebsten über die ganze Welt ausdehnen würden.
Als die daesh über diese Gegend herfielen, ahnten die Assyrer, dass für sie wohl wieder einmal die Stunde geschlagen hatte. Sie gehören einer christlichen Glaubensgemeinschaft an, die oft als „Nestorianer“ bezeichnet wird, sich offiziell aber „Assyrische Kirche des Ostens“ nennt. Für die daesh waren sie nichts anderes als kafir, Ungläubige. Die Assyrer wussten aus ihrer leidvollen Geschichte heraus, was das für sie bedeutete: die zweite große Flucht innerhalb von hundert Jahren.
Die Welt hatte schon kaum Notiz davon genommen, dass 1915 im Osmanischen Reich die Vernichtung der Armenier begann. Noch viel weniger drang nach außen, was zeitgleich mit den Assyrern geschah. Seit Generationen hatten sie im Turabdin, einer urchristlichen Region im Südosten der Türkei, und noch weiter östlich in den Bergen rund um Hakkari und den Van-See gelebt. Nun fielen auch sie der brutalen ethnischen Säuberung zum Opfer, die die Jungtürken zusammen mit verbündeten kurdischen Stämmen betrieben. An die 300.000 Assyrer, so schätzen Historiker, kamen damals um, die anderen flüchteten in den Norden Syriens. Knapp 20 Jahre später, 1933, wurden im Nachbarland Irak Tausende von Assyrern durch Soldaten umgebracht, weil sie angeblich Plünderungen veranstaltet hätten. Die meisten, die sich retten konnten, bekamen auf Beschluss des Völkerbundes in 37 Dörfern am Khabur eine neue Heimat.
Wir müssen uns tief ducken, so können wir durch Wände gehen. Die daesh haben sie einfach durchbrochen, damit sie im Innern der Häuser im Blickschutz bleiben und sich trotzdem bewegen konnten. „Gott, vergib uns“, sprühten sie an die Mauern. „Alle Macht ist bei Gott“, lesen mir meine Begleiter die Graffiti vor. „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet.“
DIE NESTORIANER
Auf dem Konzil von Ephesus 431 wurde Nestorius, der Patriarch von Konstantinopel, als Häretiker verurteilt. Nach seiner Lehre konnte Maria als Mensch kein göttliches, sondern nur ein menschliches Wesen namens Jesus geboren haben. Nestorius’ Anhänger formierten sich zur „Kirche des Ostens“. Wegen ihrer starken Präsenz in Mesopotamien wurde sie bald „Assyrische Kirche des Ostens“ genannt. Assyrische Christen übersetzten Werke griechischer Wissenschaftler und Philosophen ins Arabische, später lernten sie von muslimischen Mathematikern und Astronomen. Ihre Kirche erlebte mehrere Spaltungen. Heute zählt sie weltweit etwa 400.000, im Nahen Osten aber kaum noch 200.000 Mitglieder. Zahlreiche „Nestorianer“ sind nach Europa und in die USA ausgewandert.
Die islamischen Gotteskrieger haben die Namen ihrer Kampfeinheiten auf dem Putz hinterlassen. Wir lesen den Namen „Abu Hamza“ – ein Hassprediger, dessen Ansprachen oft mit den Worten begannen: „Beseitigt die Juden vom Antlitz der Erde, schlachtet die Ungläubigen ab, errichtet das weltweite Kalifat!“ Er wurde 2014 in den Vereinigten Staaten wegen elf Verbrechen, darunter Geiselnahme im Jemen, der Beihilfe zu Anschlägen in Afghanistan und Einrichtung eines Terrorcamps im US-Staat Oregon, zu lebenslanger Haft verurteilt. Wir lesen „Abu Sumaya“ – er war ein IS-Kommandeur, der im Nachbarland Irak den Verkauf gefangener jesidischer Frauen organisierte; er wurde 2014 bei Kämpfen im Raum Mossul erschossen. Wir lesen „Al-Adiyat“ – der Name der Streitrosse, von denen der Koran in seiner 100. Sure berichtet. Es seien, so steht dort geschrieben, „schnaubende Renner“, die „Feuerfunken schlagen“, „frühmorgens anstürmen, Staub aufwirbeln und dadurch in die Mitte der Feinde eindringen“.
Die Assyrer haben das Glück, dass die Kurden heute nicht mehr gegen sie, sondern mit ihnen kämpfen. Im Nordosten des zerfallenden Staates Syrien haben deren „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) seit 2013 das mehrheitlich von Kurden bewohnte Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht. Unter dem Schutz der Kurden stellten die Assyrer eine kleine bewaffnete Truppe aus ein paar Hundert Kämpfern auf. „Sutoro“, so ihr Name, hat seither in christlichen Gebieten wie dem Khabur-Tal das Sagen. Ich bin aus dem irakischen Kurdistan mit einem Fährboot über den Tigris in diesen Teil Syriens gekommen – illegal, weil ohne Visum der Regierung in Damaskus; legal, weil die „Sutoro“ mir einen gestempelten Zettel mit einer Aufenthaltserlaubnis für sieben Tage ausstellte.
In Tel Shamiran taucht plötzlich eine Gruppe von ehemaligen Dorfbewohnern auf. Sie erzählen, dass im Khabur-Tal die Leichen von 70 daesh entdeckt worden seien. Die IS-Leute hätten bei ihrem Rückzug aber auch 253 Einheimische als Geiseln mitgenommen. Gut die Hälfte davon – meist Männer über 60 – seien mittlerweile freigelassen, vermutlich drei Gefangene erschossen worden. Für den Rest hätten die IS-Leute ein Lösegeld von 100.000 Dollar pro Kopf verlangt, vor Kurzem sei der Preis halbiert worden. „Aber niemand von uns“, sagen die Assyrer, „kann auch nur annähernd so viel Geld aufbringen.“ Ein 40-Jähriger mit Namen Ashur, der damals mitgekämpft hat, schält sich aus der Gruppe heraus. „Ich bin der Letzte aus meiner Familie“, sagt er, „alle anderen sind ums Leben gekommen, mein Vater und meine Mutter, meine Frau und meine fünf Söhne.