Geistes«. Doch Marx beschäftigt sich mit einer eigenen Fassung der Rechtsphilosophie, die Hegel 1820 unter dem Titel Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse herausgegeben hat. Diese Schrift ist ein Hauptwerk der politischen Philosophie schlechthin, die politische Schrift des sogenannten deutschen Idealismus.
An Hegels »System« konnte man in der Zeit, in der Marx sich in Berlin aufhielt, nicht vorbeigehen. Zumal es damals eine Diskussion um die Fortsetzung des Hegelianismus nach dem Verscheiden des Meisters gab. Diese wurde zwischen sogenannten Rechts- und Linkshegelianern ausgetragen. Die Rechtshegelianer übernahmen den konservativen Part der Diskussionen. Sie betonten die Wichtigkeit der Hegel’schen Religionsphilosophie, wonach der preußische Protestantismus und dann auch der von diesem her gefasste Staat so etwas wie das Endprodukt der Vernunft-Geschichte schlechthin darstellte. Hegel selbst hatte in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen auf die Rationalität des Christentums, der absoluten Religion, immer wieder hingewiesen.
Dagegen standen nun die sogenannten Jung- oder Linkshegelianer, darunter z. B. Arnold Ruge oder ein gewisser Bruno Bauer, der uns noch begegnen wird. Diese Linkshegelianer fanden sich mit der Saturiertheit der Rechtshegelianer nicht ab. Sollte die Wirklichkeit wirklich vernünftig, die Vernunft verwirklicht sein (wie es in der Vorrede zur Rechtsphilosophie von Hegel gesagt wird)? Die soziale Realität legte das nicht nahe. Die Welt sah doch anders aus. Die Linkshegelianer machten darauf öffentlich aufmerksam. Wichtig auch, dass der genannte Arnold Ruge 1838 einen gewissen Ludwig Feuerbach zur Teilnahme an den sogenannten Halleschen Jahrbüchern aufforderte. Feuerbach, 1804 geboren und 1872 gestorben, veröffentlichte im Jahr 1841 ein Buch mit dem Titel Das Wesen des Christentums. Dieses Buch wurde als eine tiefgreifende Kritik an der christlichen Religion verstanden. 1843 publizierte Feuerbach die Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in denen er noch einmal sein Hauptwerk rekapituliert. Für die Linkshegelianer war Feuerbach ein Mitstreiter, selbst wenn er sich eher am Rand aufhielt. Auch auf ihn muss ich im Folgenden zu sprechen kommen. Er ist in der Tat ein bemerkenswerter Philosoph (er war das auch für jemanden, der hier nur am Rande genannt werden kann: nämlich für Richard Wagner).
In Berlin kam also Marx mit diesen Linkshegelianern in Kontakt und spielte unter ihnen bald eine zentrale Rolle. In dieser Zeit, um 1835/40, war Marx finanziell von seinem Elternhaus abhängig. Jenny, mit der er bereits verlobt war, wartete auf ihn, wobei sich das ständige Getrenntsein durchaus als problematisch erwies. 1838 starb auch noch der Vater, die Mutter blieb allein zurück, und sie verwaltete das Erbe, das Marx nun in regelmäßigen Abständen forderte. Sie starb sehr spät, so dass Marx’ Leben vom endlosen Streit um das Erbe geprägt war, das er brauchte, um zu überleben. Ein paar Jahrzehnte später sollte er die Abschaffung des Erbrechts fordern.
1841 wurde Marx in Jena in absentia zum Doktor der Philosophie promoviert. Das Thema war die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie. Dieser Text gilt als verschollen. Es gibt aber noch eine unvollständige Abschrift von fremder Hand, die anstelle des Originals veröffentlicht wurde. An dieser Arbeit ist weniger wichtig und interessant, was Marx unmittelbar zu Demokrit und Epikur zu sagen hat. Wichtiger ist, dass er seine Auseinandersetzung mit diesen antiken Philosophen, die man ja gemeinhin als Atomisten bzw. Materialisten bezeichnet, an Hegel und seine Schule heranträgt. Zudem ist der Stil der überlieferten Partien alles andere als akademisch – dazu gleich. In der Tat spielen Demokrit und Epikur bei Hegel und überhaupt im Idealismus keine Rolle, eben weil sie sich als Materialisten erweisen. Demokrit und Epikur anstelle von Platon und Aristoteles? Das hatte durchaus eine programmatische Stoßrichtung.
Nach der Promotion machte sich Marx Hoffnung auf eine Professur. Doch hier nun hatte ihn das sym-biographische Verhältnis zwischen Denken und Leben schon eingeholt. Die Preußische Regierung verbot allen Angehörigen jener linkshegelianischen Diskussionsgruppen die akademische Karriere. Auf kritische Äußerungen über die wirklichen Verhältnisse im Staat reagierte dieser damit, den Kritikern ihre Subsistenz zu entziehen. Das war natürlich für Marx ein ungeheuerlicher Einschnitt. Solche Diskriminierung ist in der Geschichte der Philosophie kein Einzelfall. Auch sein Zeitgenosse Nietzsche ruinierte seine akademische Karriere einfach durch ein Buch, das den herrschenden Alt-Philologie-Bonzen nicht gefiel. Nach der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie (1872) war Nietzsche darauf angewiesen, sich außerhalb der Universitäten durchzuschlagen. Allerdings wurde er von der Baseler Universität, an der er ja Professor gewesen war, mit einer Rente auf Lebenszeit unterstützt. Marx und Nietzsche, die wie wenige andere Denker das 20. Jahrhundert beschäftigt haben, waren beide akademische Versager. Man fragt sich, was das über die Akademie aussagt …
Da Marx der Zugang zu den Universitäten verwehrt wurde, entschied er sich 1841, zunächst Mitarbeiter und dann Redakteur der Rheinischen Zeitung in Köln zu werden. Diese Zeitung war von liberalen und demokratischen Bürgern gegründet worden. Marx entschied sich also für die Agora, für das Medium, die Öffentlichkeit. Was bedeutet das?
Ich möchte hier kurz etwas einschieben, was meines Erachtens stets eine wichtige Rolle in der Geschichte der Philosophie gespielt hat: Bei Platon sehen wir die Philosophie in zwei Urszenen. Einmal ist da Sokrates, der auf der Agora, dem Marktplatz, wo die Athener ihren Geschäften nachgingen, mit jungen Männern der gehobenen Schichten spricht. Er diskutiert öffentlich über öffentliche, politische Dinge. Er legt sich mit Politikern, Rednern, Sophisten und Dichtern an, um mit ihnen ihre lógoi zu prüfen. Haben sie etwas für die Polis zu sagen? Können sie die Polis, das Zusammenleben in ihr, verbessern? Oder sind sie doch eher nur Demagogen, die zuerst an sich denken?
Wir haben aber noch eine andere Urszene, vielleicht als Reaktion auf den Philosophen auf der Agora: Um 387 vor Christus kauft Platon im Nordwesten von Athen ein kleines Grundstück, eine Art Garten oder Park, dem Heros Akademos gewidmet, um dort die erste Philosophenschule zu eröffnen. In der »Akademie« konnten Philosophen abgeschieden von der Öffentlichkeit, zurückgezogen und unter sich, die philosophischen Probleme bedenken. Es war der Ort einer verschworenen Gemeinschaft mit teilweise religiösen Gebräuchen. Platon war der erste Leiter der Akademie, auf ihn folgte eine ganze Reihe weiterer. Erst im Jahre 529 nach Christus verbot der christliche Kaiser Justinian I. die Institution. Im 15. Jahrhundert knüpften Intellektuelle in Florenz wieder an das Modell an. Es war jedoch auch in der Zwischenzeit nicht gänzlich verloren gegangen, hatte – unter anderen Vorzeichen – in den Klöstern des Mittelalters fortgelebt. Daraus entstand dann die Universität.
Soviel zur exoterischen und esoterischen Dimension der Philosophie. Der Philosoph bzw. die Philosophie geschieht in der Öffentlichkeit, d.h. in den Medien (im Medium), und sie findet auch an den Universitäten statt. In den Medien präsentiert sie sich als eine Denkform, die der Allgemeinheit etwas zu sagen hat, in den Universitäten als eine Art von Forschung, die sich auch auf Fragen einlassen kann, die für die Allgemeinheit irrelevant sind (z. B. das Herausgeben von historisch-kritischen Ausgaben philosophischer Werke, die von der Öffentlichkeit nur mehr oder weniger wahrgenommen werden). Dass hier eine zuweilen krass vorgetragene Trennung besteht, zeigt ja der Umgang mit Marx und Nietzsche im 19. Jahrhundert. Denken Sie nicht, dass sich da besonders viel geändert hat.
Die Arbeit in der Rheinischen Zeitung war für Marx einerseits notwendig, er musste Geld verdienen, um mit Jenny eine Familie gründen zu können, andererseits entsprach der Schritt in die Öffentlichkeit aber auch seinem politischen Denken, dem Anspruch seines Denkens. Dazu gehörte auch Marx’ Stil. Bereits in der Dissertation pflegte Marx einen essayistischen Stil. Er war überhaupt jemand, der – wie Nietzsche – auf Stil einen Wert legte. Auch das prädestinierte ihn mehr zum Philosophen auf der Agora als zu einem in den Mauern einer Forschungsanstalt. Wenn Marx subjektiv darunter gelitten haben mag, von einer solchen Anstalt ausgeschlossen zu werden, so möchte ich behaupten, dass er mit dem, was er eigentlich wollte, bei einer Zeitung viel besser aufgehoben war. Hier konnte seine Wirkungsgeschichte beginnen.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist das Verhältnis von Marx’ Biographie und Denken tatsächlich symbiotisch geworden. Als Journalist hatte er die Möglichkeit, seine kritischen Kommentare zu veröffentlichen, zugleich spürte er aber auch den Effekt dieser Kommentare in Form politischer Verfolgung. Im Zuge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 herrschte in Preußen ein sehr rigides Zensur-System, besonders angewendet auf den Journalismus. Diese Zensur