Peter Trawny

Der frühe Marx und die Revolution


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nach Hegel für alles Vernünftige. Sollte sich also etwas als vernünftig erweisen, dann wird es das so tun, indem es sich verwirklicht. Wenn das geschieht, dann ist die Wirklichkeit (irgendwann) vernünftig. Sobald aber das Vernünftige sich ganz verwirklicht hat, ist die Wirklichkeit vernünftig. Hier haben wir eine interessante Struktur: Auf der einen Seite ist sozusagen die Idee, der Begriff, die Vernunft. Sie hat von sich her die Tendenz, sich zu verwirklichen. Auf der anderen Seite haben wir die Wirklichkeit, die von sich her die Möglichkeit hat, vernünftig zu werden. Die Tendenz zur Vernunft geht aber einzig und allein von der Vernunft selbst aus. Hegels Satz muss also notwendig in dieser Form ausgesprochen werden: »Was vernünftig ist, das ist wirklich«, und weil das so ist, ist das Wirkliche auch vernünftig. Ich werde jetzt nicht danach fragen, ob das Internet, die Pornographie darin, Autorennen oder Globalisierung etc. »vernünftig« sind. Ich komme wieder zurück zu Feuerbach.

      Hier geht es, wie gesagt, um die »Umkehrung« (Revolution!) des Verhältnisses von Subjekt und Prädikat. Das Subjekt im Hegel’schen Satz ist die Vernunft, das Prädikat ist das Wirklich-sein. Wenn das jetzt »umgekehrt« werden soll, dann bedeutet das nach Feuerbach, dass die »Wirklichkeit« das Subjekt und die »Vernunft« das Prädikat ist. Damit aber habe ich Ihnen tatsächlich jene Denkbewegung dargestellt, die auch Marx vollzieht, die für Marx sogar von größter Wichtigkeit ist. Ich hatte Ihnen gesagt, dass ich mich nicht auf Das Kapital beziehen wollte, mache ich auch nicht, muss aber hier eine Passage aus dem Vorwort zur zweiten Auflage zitieren. Marx sagt da, nachdem er sich als »Schüler jenes grossen Denkers« (Hegel) bezeichnet hat: »Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeineren Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.«18 Marx spricht zwar nicht von der »Umkehrung«, sondern von einer »Umstülpung«: Etwas muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Hegel wiederum hatte in der Phänomenologie des Geistes gesagt, man müsse lernen, »auch einmal auf dem Kopfe zu gehen«,19 d. h. also noch einmal, sich umzukehren (nicht mit den Füßen, sondern mit dem Kopf gehen). Denkbewegungen …

      Die »Mystifikation« bei Hegel ist, dass er das naturgemäße Verhältnis, dass die Wirklichkeit das Subjekt und die Vernunft (Philosophie) das Prädikat ist, seinerseits umkehrt. Ich werde Ihnen noch zwei Sätze aus Feuerbachs »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« vortragen, damit Sie etwas besser verstehen, worum es geht:

      »Die Anerkennung des Lichtes der Wirklichkeit im Dunkel der Abstraktion ist ein Widerspruch – die Bejahung des Wirklichen in der Verneinung desselben. Die neue Philosophie, welche das Konkrete nicht in abstracto, sondern in concreto – das Wirkliche in seiner Wirklichkeit, also auf eine dem Wesen des Wirklichen entsprechende Weise als das Wahre anerkennt und zum Prinzip und Gegenstand der Philosophie erhebt, ist daher erst die Wahrheit der Hegel’schen, die Wahrheit der neueren Philosophie überhaupt20

      Hegel habe, nach Feuerbach, das »Licht der Wirklichkeit«, das »Konkrete«, im »Dunkel der Abstraktion«, im Denken, in der Vernunft, anerkannt. Das sei aber ein »Widerspruch«, weil so die Wirklichkeit zugleich bejaht und verneint werde – in dem Sinne, dass das Denken zwar die Wirklichkeit miteinbezieht, aber nicht eigentlich als Wirklichkeit, sondern nur als eine vernünftige Wirklichkeit, was nach Feuerbach ihrer Verneinung gleichkommt. Denn für Feuerbach – und auch für Marx –, das ist jetzt elementar, ist die Wirklichkeit nicht vernünftig. Marx denkt an die soziale Wirklichkeit seiner Zeit, an die sozialen Unterschiede, an die Armut und die mit ihr verbundenen Krankheiten, an die Ohnmacht der Armen, an die Herrschaft der Bürger, später der »Kapitalisten«. Das erkennt er keineswegs als vernünftig an. Und auch Feuerbach nicht: In der »neuen Philosophie« solle es sehr wohl um die Wirklichkeit gehen, die Vernunft (das zum Prädikat umgekehrte Subjekt) soll sich mit der Wirklichkeit (das zum Subjekt umgekehrte Prädikat) beschäftigen. Aber sie soll die Wirklichkeit betrachten, ohne sie von vornherein als ein Epiphänomen der Vernunft zu verstehen.

      Noch einmal Feuerbach:

      »Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen. Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinn gegeben – nicht durch das Denken für sich selbst. Das mit dem Denken gegebene oder identische Objekt ist nur Gedanke21

      Das ist eine andere Nuance. Das Wirkliche soll nicht vor allem als versinnlichter Gedanke, als realisierte Vernunft, verstanden werden, sondern als »Objekt des Sinnes«, der Sinnlichkeit. Die Wirklichkeit ist sinnlich und muss sinnlich (naturwissenschaftlich) untersucht werden. Im »Wesen des Christentums« spricht Feuerbach davon, dass er lediglich in moralisch-praktischen Fragen »Idealist« sei: »aber auf dem Gebiete der eigentlichen theoretischen Philosophie gilt mir im direkten Gegensatz zur Hegel’schen Philosophie, wo gerade das Umgekehrte stattfindet, nur der Realismus, der Materialismus.« Feuerbach will im Verhältnis zur Wirklichkeit ein Realist und Materialist sein. In der Philosophie gibt es »nur Gedanken«, wie bei Hegel, und nicht das eigentlich Wirkliche.

      Deshalb ist die Theologie, das Christentum, eigentlich eine »Anthropologie«, d. h. ein Selbstmissverständnis, wenn das Christentum meint, dass es aus einer übersinnlichen Offenbarung stammt. Der wirkliche Mensch hat sich im Christentum in seiner Wahrheit und Wirklichkeit erkannt. Dort, wo er das vergessen hat, wird für Feuerbach das Christentum »sinn- und verstandlos«.

      Wie ist aber dann Feuerbachs Position zu verstehen? »Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.« Ich habe das bereits zitiert und Sie sollten sich diesen Satz merken, nicht nur weil er in der Vorlesung bedeutsam ist. Zum Abschluss zitiere ich eine Passage aus der Vorrede zur zweiten Auflage des Wesens des Christentums:

      »Ich habe nur das Geheimnis der christlichen Religion verraten, nur entrissen dem widerspruchvollen Lug- und Truggewebe der Theologie – dadurch aber freilich ein wahres Sakrilegium begangen. Wenn daher meine Schrift negativ, irreligiös, atheistisch ist, so bedenke man, daß der Atheismus – im Sinne dieser Schrift wenigstens – das Geheimnis der Religion selbst ist, daß die Religion selbst zwar nicht auf der Oberfläche, aber im Grunde, zwar nicht in ihrer Meinung und Einbildung, aber in ihrem Herzen, ihrem wahren Wesen an nichts andres glaubt, als an die Wahrheit und Gottheit des menschlichen Wesens.«22

      Sie sehen auch hier eine »Umkehrung«. Nicht der Mensch vergottet Gott (das ist für Feuerbach unsinnig), sondern Gott (die Religion, d. h. der Mensch) vergottet den Menschen. In diesem Sinne ist der »Atheismus das Geheimnis der Religion selbst«, weil es in ihr eigentlich gar nicht um das Göttliche als Göttliches geht.

      In der nächsten Stunde werden wir sehen, dass Marx mit seiner Religionskritik noch etwas anderes meint.

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